Mittwoch, 17. April 2019

Vernunft, dogmatisch oder kritisch.

Osmar Schindler

"Ich meine, vernünftig zu denken, wenn ein Anderer, dem ich vor-denke, gar nicht anders kann, als mir nach-zu-denken und mir beizustimmen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, ich lasse es drauf ankommen; das wäre die pragmatische, die 'findende', die problematische Version. Oder ich nehme eine prä-etablierte Überein- stimmung an, die eine andere Möglichkeit gar nicht offen lässt und einen wirklichen Andern gar nicht braucht; das ist die dogmatische Version..."

Fichte hat zwischen der pragmatisch-problematischen Auffassung, wonach die Vernunft sich aktual ergibt im wirklichen Verkehr vernunftbegabter Menschen - und insofern im besten Fall als proiectum aufzufassen ist -, und der dogmatischen Auffassung eines apriorischen Programms, das sich mittels vernünftig wirkender Individuen selbst verwirklicht, lange geschwankt; wobei in den früheren, sürmischen Jahren die Neigung zur aktualistisch-problematischen Version zu überwiegen scheint. Es war erst Jacobis Eingreifen in den Atheismusstreit, das ihn bewogen hat, sich schließlich für die dogmatische Variante zu entscheiden.

Von einer an sich seienden Vernunft vor der Zeit und vor ihrem "Erscheinen" in der Endlichkeit kann man nichts weiter wissen, nicht, wo sie herkommt, noch, worauf sie hinauswill. Da kann man nur glauben. An eine problematische Verunft, die auch scheitern mag, kann man nicht glauben, sondern man müsste sich ihrer jeden Tag neu vergewissern: Man muss wissen. Nämlich wo sie herkommt und worauf sie hinausläuft.

Her kommt sie aus der Fähigkeit der Menschen, wertend zu urteilen; das ist ihr ästhetisches Vermögen. Hinaus läuft sie auf eine ewig prozessierende Verständigung der Menschen über ihre gemeinsamen, nämlich öffentlichen Angelegenheiten; überall da, bis wohin die Notwendigkeiten reichen und ab wo frei gewählt werden kann: Von da an kann man fröhlich streiten.


19. 5. 2014


Vernunft und Dogma, das ist doch ein Widerspruch! Glauben ist das Gegenteil von Wissen, und Vernunft und Wissen sind Wechselbegriffe.

Und doch verfährt jedes aktuelle vernünftige Argument dogmatisch. Es setzt Vernunft als tiefsten Grund und als ultimativen Maßstab als gegeben voraus.


Sie muss deshalb nicht, wie Kant es nennt, dogmatist isch sein - indem sie sich als unhintergehbar und unbe- gründbar ausgäbe. Das zu zeigen, hielt Kant für seine Lebensaufgabe.

Aber der dogmatische Rationalismus hat seine Kritik überstanden, er entsteht mit dem Alltagsgebrauch der Vernunft jederzeit neu, die Kritik führt einen Stellungskrieg oder sie geht unter. 

Heute ist sie wiedermal weitgehend untergegangen und Vernunft gilt als Denken mit Bügelfalte. Wer in einer philosophischen Diskussion ernstlich mit der Vernunft operierte, bekäme nicht einmal Widerspruch, sondern spöttische Blicke und spitze Bemerkungen.

Vernunft, die sich mit ihrem Alltagsgeschäft begnügt - und dazu gehört die Wissenschaft toto coelo -, ist nur halb. Sie stößt überall an Grenzen, die sie nicht überschreiten darf, und wirkt trocken und prosaisch. Wer "wei- tergehen" will, lässt sie hinter sich - anything goes - und öffnet Obskurantismus und Schwindel aller Art Tür und Tor.

Vernunft kommt erst zu sich, wenn sie sich ihrer Voraussetzungen annimmt. Und prompt findet sie, dass... sie keine hat als den freien Willen zu sich selbst. Ihre Begründung liegt nicht hinter ihr, sondern hat sie sich jederzeit voraus zu setzen: dass Wahrheit sein soll; und Schritt für Schritt neu zu setzen. Ihre Mühen sind keine Grenzen, sondern zu nehmende Hürden.



 



Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

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