Donnerstag, 11. April 2019

Der Endzweck muss versucht werden.



...das Handeln mehrerer Vernunftwesen ist eine einzige durch Freiheit bestimmte Kette. Die ganze Vernunft ist nur ein einziges Handeln. Ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und so fort, und so wird der ganze Vernunftzweck durch unendlich viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwirkung aller. 

Es ist dies keine Kette physischer Notwendigkeit, weil von Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das Folgende ist immer durchs Vorher/gehende bedingt; aber dadurch nicht bestimmt und wirk- lich gemacht (vide Sittenlehre). Die Freiheit besteht darin, dass aus allen Möglichen nur ein Teil an die Kette an- geschlossen werde. 
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in: J. G. Fichte,
Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 232f.



Nota I. - Die Wissenschaftslehre erzählt nicht nach, 'wie es wirklich ist', sondern stellt dar, was in der Vorstel- lung wirklich vorkommt und weshalb das notwendig ist. Hier steht also sinngemäß: Alles Reden von Vernunft hat einen intelligiblen Sinn nur, wenn man sie so auffasst. Wird der Weg fortgegangen, so wird es eine Kette sein. Aber sie wird aus Freiheit fortgewirkt. Wenn wir uns also (in der Abstraktion) denken, dass sie einmal an ein Ende käme, so wäre es nicht durch physische Notwendigkeit als Folge seiner Ursache, sondern durch Frei- heit als Zweck gesetzt: 'bedingt, aber nicht bestimmt'. Die Freiheit hätte an jedem Punkt auch andere Möglich- keiten wählen und andere Teile anfügen können. Der 'Endzweck' wäre ein anderer geworden.

Wenn Hans Vaihinger die Wissenschaftslehre nova methodo gekannt hätte, wären ihm die Augen übergegangen und er hätte auf seine dickleibige Philosophie des Als Ob achselzuckend verzichtet. Und wenn Fichte seinen Weg nova methodo 'zuende gegangen' wäre, hätte er sich nie auf die dogmatische Auffassung eines Realabsoluten und eines gegebenen Endzwecks der Vernunft einlassen können.
 
12. 10. 17

Nota II. - Ließe sich daraus folgern, dass alles, was auch immer in unserer Geschichte vorkam, zu seiner Zeit vernünftig, nämlich ein notwendiges Glied des problematisch projizierten Vernunftszwecks gewesen ist? Ver- nünftig ist das Handeln nach selbstgesetzten Zwecken: aus Freiheit. Freiheit bedeutet nicht, dass kein Irrtum möglich ist; wie auch das? Wenn das Handeln die Zwecke, die gesetzt waren, nicht realisiert, sondern Folgen zeitigt, die nicht als Zwecke gesetzt waren und aus Freiheit nicht wählbar wären, so wird die Vernunft neu und anders wählen.
 
Es heißt hier nicht, wie bei Hegel, das Wahre sei das Wirkliche. Der Weg der Vernunft in der Geschichte ist keine aufsteigende Linie, wie könnte er? Das Kriterium ist noch nicht, dass die Zwecke aus Freiheit gesetzt waren; das ist erst die notwendige Bedingung. Sondern, ob sie durch vernünftiges Handeln in der sinnlichen Welt realisiert wer- den. Da geht es um praktisches Bestimmen. Das mag immer scheitern, sei's am Widerstand der sinnlichen Welt, sei es an falschen Begriffen. Ob oder ob nicht ist keine Sache theoretischer Vorhersehung, sondern des wirklichen Versuchs.

Es geht zuerst einmal um die Bedingung: aus Freiheit. Doch was aus der Freiheit gemacht wird, ist, worauf es am Ende ankommt. Und die Frage ist immer konkret.
JE

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