Montag, 31. August 2015

V. Wurde die Mathematik aus der Natur heraus-gefunden oder vom Menschenhirn in sie hinein-gedacht?

  

Erst mit Galileo ging, streng genommen, das mythische Zeitalter zu Ende. “Der Mythos braucht keine Fragen zu beantworten. Er erfindet, bevor die Frage akut wird und damit sie nicht akut wird.”(Hans Blumenberg). Seit Galileo stellen die Wissenschaften nicht nur Fragen, sondern beantworten sie auch, und jede Antwort wirft (mindestens) eine neue Frage auf.

Das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, hatte Galileo verkündet. Das ist seither zum Gemeinplatz westlicher Bildung geworden. Descartes hatte die Welt in zwei Substanzen zerteilt, eineres extensa, die Materie, die sich durch ihre räumliche Ausdehnung zu erkennen gibt, und die res cogitans, den Geist, der außerhalb von Raum und Zeit ist. Doch eines ist ihnen gemeinsam: die mathematische Struktur, und an der erkennt man ihre gemeinsame Abkunft vom selben Schöpfergott. 

Spinoza tat die beiden Teile wieder zusammen, bei ihm ist es die eine, geistige Substanz, die sich selber ausdehnt, “deus sive natura”, und wie tut sie das? “More geometrico”, auf geometrische Weise! War bei Descartes Gott ein Mathematiker, so ist die Gottnatur bei Spinoza Mathematik. Isaac Newton, der erste Systematiker der modernen Physik, betitelte sein Hauptwerk ” Philosophiae naturalis principia mathematica”, die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie. Und Leibniz endlich, der die strenge Naturwissenschaft in Deutschland eingeführt hat, überlegte ernstlich, ob nicht Gott selber in mathematischen Formel dächte.

Die Herrschaft des Rationalismus war Herrschaft der Metaphysik. Die Metaphysik sei aus der abendländischen Wissenschaft inzwischen vertrieben? Nur die metaphysische Verpackung ist gefallen. Der Kern bleibt. Der Einfall, die Gesetze der Mathematik seien gleichzeitig die Gesetze der Vernunft und der Natur, bedarf keiner zusätzlichen Metaphysik. Er ist selber metaphysisch.

Die Mathematik ist nicht, wie unsere eigne Schullaufbahn vermuten macht, aus dem kleinen Einmaleins hervorgegangen. Zwar hatten die Babylonier ihr Interesse auf die Arithmetik konzentriert; aber sie dienten ihnen nur zur Astrologie. Mathematik entstand erst, als die Griechen Thales und Pythagoras die Zahlen in den Dienst der Geometrie, der Anschauung räumlicher Verhältnisse nahmen. Das Leitbild der Mathematik – die vollkommene Gestalt – ist ästhetisch. Ihre Verfahren sind Anschauung und Konstruktion. Auf etwelche sinnliche Erfahrung – über die man streiten könnte – ist sie nicht angewiesen. Sie begründet sich aus sich selbst, und nur so konnte sie zur Grundlage der allgemeinen wissenschaftlichen Methode werden.

Aber ist nicht gerade die Geometrie aus den Dingen der Welt abgeschaut?! 

Plato kannte fünf vollkommene Körper:* Kugel, Würfel, Pyramide; Zylinder, Konus.

Es sind die jeweiligen dreidimensionalen Kombinationen von Kreis, Quadrat und Dreieck. Drei Dimensionen sind ‘vollkommener’ als zwei, bzw. Körper sind vollkommener als Flächen.
Hat man eines von denen ‘von der Natur abgeschaut’? Mehr oder minder runde Formen kommen in ‘der Natur’ vor; Kugeln nicht. Kugel ‘entsteht’ als Idee des vervollkommneten ‘runden’ Körpers.
Wobei Vollkommenheit eben keine logische, sondern eine anschauliche, eine ästhetische Qualität ist! 

Finden sich Würfel, Pyramiden, Zylinder usw. in der Natur vor? Es finden sich Formen, die wie fehlerhafte Annäherungen aussehen. Damit sie so aussehen können, müssen die reinen Formen dem inneren Auge aber schon gewärtig sein. Und das geht nur, wenn das innere Auge die Konstruktion aus Kreis, Quadrat und Dreieck schon vorgenommen hat! Das ist eine erhebliche Abstraktions- und Reflexionsleistung.

(Abstraktion und Reflexion sind nur zwei Sichtweisen auf denselben Denkakt: Absehen auf das jeweils Wichtige ist zugleich Absehen von dem jeweils Unerheblichen.)

Denn zuvor mussten vor dem inneren Auge die Flächen selber konstruiert werden! Allein den vollkommenen Kreis kann man in der Außenwelt sehen – am wolkenlosen Himmel.

Es ist ja denkbar, dass der Anblick des einzig perfekten Kreises – der Sonnenscheibe – und ihrer imperfekten Parodie, des Mondes – den Anlass zur Idee anschaulicher Vollkommenheit gegeben hat; aber eine erfahrungsmäßige Abstraktion aus dem Anblick vieler perfekten Kreise war es nicht: weil es nur diesen einen gibt; und eine Reihe imperfekter Karikaturen – die werdenden und vergehenden Ringe auf dem Wasser usw… Nachgemacht werden kann dieser eine perfekte Kreis aber nicht auf ‘anschaulichem’ Weg; er muss konstruiert werden aus Punkt und Radius: wieder eine Abstraktionsleistung.

Die andern beiden Grundformen finden sich nicht in perfekter Gestalt in den Natur vor. Sie müssen – vielleicht in anschaulicher Analogie zur Sonnenscheibe – erdacht werden, um bemerken zu können, dass sich in der Natur… unvollkommene Annäherungen vorfinden.

Und erst nach all dem können die fünf perfekten Körper erdacht werden; und kann man sich einbilden, diese Idealentwürfe lägen ihren unvollständigen natürlichen Nachbildungen “in Wahrheit” zu Grunde; in einer verborgenen Wahrheit selbstverständlich.

Die Arithmetik hat ältere Wurzeln, die bis zu den Babyloniern zurückreichen. Ist nun die Zahl ein “Naturverhältnis”? Beruht sie nicht darauf, dass die Dinge ‘im Raum’ eine Grenze haben und man sie neben einander stellen und also zählen kann? Das sieht nur so aus. Tatsächlich zählen wir die Dinge nicht neben-, sondern nach einander! Und das geschieht in der Zeit.


Paläoanthropologen haben aus frühester Vorzeit Stäbchen geborgen, die in regelmäßigen Abständen mit Kerben versehen sind. Sie interpretieren sie als Zählstäbe, die Vorläufer der Zahlensysteme; nämlich so, dass ihre Hersteller den Daumennagel auf die erste Kerbe gehalten haben: “zuerst…”; auf die zweiter Kerbe: “dann…”; dritte Kerbe: “und danach…”. Da wird das zeitliche Nacheinander der Zahlen archäologisch sinnfällig!

Und wem die erwähnten Zählstäbe der Paläontologen als Indiz zu dürftig scheinen, der kann es ja mit einem Gedankenexperiment versuchen.

Was immer Zahlen sonst auch noch sein mögen, eins sind sie ganz bestimmt: Zeichen. Was muss man bezeichnen? Etwas, das man nicht stets vor Augen hat und doch ‘behalten’ will. Denn auf alles andere kann man mit dem Finger zeigen. Kleine Mengen hat man stets vor Augen: 3 Äpfel, 4 Beine usw. Bezeichnen müsste man größere Mengen. Mit welchen größeren Mengen könnten aber unsere Vorfahren – ihres Zeichens Jäger und Sammler – regelmäßig zu tun gehabt haben? So regelmäßig, dass sie sie dauerhaft bezeichnen mussten?!

Sie waren Nomaden; große Vorräte kannten sie nicht. Bleibt also übrig – die Zeit. Die Zeiträume müssen bezeichnet werden: wie viele Tage bis Vollmond, Sonnenwende und Tag- und Nachtgleiche, Jahreszeiten, Jahre… Gerade Nomaden, die ihr Leben buchstäblich durch Zeit und Raum führen, müssen mental Zeiträume ‘vorweg nehmen’ können, müssen wissen, ‘wie lange wir brauchen bis…’ – z. B. bis zur nächsten Wasserstelle. Denn solange sie keine Wanderkarten und keine Tachometer haben, können sie Wege nur als Zeit darstellen. (Noch im Mittelalter wurden Ackergrößen als ‘Tagewerke’ gemessen.)

Sagt nicht aber schon der gesunde Menschenverstand, dass eins und ein zwei sind? ‘Ursprünglich’, d. h. in unmittelbarer sinnlicher Anschauung, kommen Zahlen nur als Ordnungszahlen vor: als Nacheinander in einem ‘an sich’ ununterschiedenen Zeitverlauf: erstens, zweitens, drittens… zählen kann ich so noch nicht. Denn es könnte bedeuten: erstens ein Lufthauch, zweitens ein Elefant, drittens eine Untertasse. Um aus den Momenten im Zeitverlauf ein Werkzeug (”Denkzeug”) zum Zählen zu machen, muss ich von der Zeit selber absehen und auf die zu zählenden Sachen reflektieren.


Vorab: Warum, wozu sind sie ‘zu’ zählen? Es braucht zunächst einmal eine Absicht; zum Beispiel die Absicht, Sachen zu verteilen. Ich verteile Sachen, die ‘in einer gewissen Hinsicht’ gleich sind, auf so und so viele Posten, die ihrerseits in gewisser Hinsicht gleich sind; zum Beispiel Essbares an Hungrige. Ich muss aus der Mannigfaltigkeit der Sachen dasjenige heraus suchen, das sich unter der Bedeutung des Essbaren zusammenfassen lässt. Danach muss ich auf diejenigen achten, die mir als hungrig bekannt sind. Erst dannkann ich aus den Ordnungszahlen erstens, zweitens, drittens… die Zahlen 1, 2, 3… abstrahieren.

Und erst, nachdem all diese Denkleistungen vollbracht wurden, kann von “Erfahrung” geredet werden. Erfahrung ist nicht das bloße Registrieren von Erlebensdaten, sondern ihre sinnvolle Unterscheidung und Anordnung. Die Absicht geht voraus. Ohne vorgängige Absicht keine vorfindliche Bedeutung.

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*) Da hat mir mein Gedächtnis einen Streich gespielt: Plato definiert seine vollkommenen Körper im Timaiosviel komplizierter - aber noch eindeutiger ästhetisch. [Jan. 2014]

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Sonntag, 30. August 2015

IV: Wissenschaft ist öffentliches Wissen, punctum.

Anatomiesaal der Universität Padua

Dass also Galileo sich (gegen die aristotelische mittelalterliche Scholastik) ausdrücklich auf die PhilosophiePlatos zurück besann und dessen Lehre von den ewigen “Ideen” umformte in die Vorstellung von “Natur- gesetzen”, das war die materiale Voraussetzung der modernen Wissenschaften. Die formale Voraussetzung war: Kritizität, und auch die hatte die Philosophie begründet. Der Rahmen, in dem Philosophie seit ihren Anfängen Statt findet, ist Öffentlichkeit.

Öffentlichkeit und Kritik, Kritik und Öffentlichkeit, das ist schlechterdings dasselbe. Philosophie wird nicht privat betrieben, sondern im Dialog mit dem anders Denkenden. Heraklit polemisierte gegen den gesunden Menschenverstand, Parmenides polemisierte gegen Heraklit, die Sophisten gegen Parmenides, Plato gegen die Sophisten. Und immer so weiter. Es entstehen Schulen, Akademien und freilich auch geheime Orden und Sekten wie Stoiker und Pythagoreer. Aber das Entscheidende: Sie alle konkurrieren auf dem freien Markt der Ideen.

Das gilt auch, allen Vorurteilen zum Trotz, von der Philosophie des “finsteren” Mittelalters. Zwar galt sie damals als “Magd der Theologie” (ancilla theologiae), aber es kommt schon darauf an, wie Kant später bemerkte, ob die Magd der gnädigen Frau die Schleppe hinterher trägt oder ihr mit dem Licht voran den Weg weist! Und der wesentlich Beitrag der Scholastiker zum Aufkommen der modernen Wissenschaften war, dass sie ihnen ihr Medium geschaffen haben: die “Gelehrtenrepublik” (res publica eruditorum) an den Universitäten von Palermo bis Uppsala, von Dublin bis Wilna, wo nur eine Sprache, Latein, gesprochen wurde, und keiner etwas von sich geben konnte, ohne dass es nicht gleich auf dem (damals) schnellsten Wege von allen andern einer kritischen Sichtung unterzogen wurde. Und die waren in ihrer Kritik nicht zimperlich! Erst so ist das Wissen zu einer gesellschaftlichen Instanz geworden. Erst durch diesen Vorlauf konnten die Akademien und wissenschaftlichen Societäten entstehen, in denen Newton und Leibniz das, was wir heute als “Wissenschaft” kennen, gründen konnten.

Dabei war das Bewusstsein, dass wahres Wissen immer von der Möglichkeit der Letztbegründung abhängt,Newton ebenso gegenwärtig wie Leibniz. Philosophiae naturalis principia mathematica heißt sein Hauptwerk, und Leibniz ist bis heute selbst in der Umgangssprache als der Denker der “prästabilierten Harmonie” präsent.

Aber das war eben jene Metaphysik, der die Drei Kritiken von Immanuel Kant für immer den Garaus gemacht haben. Verzichtet also die Wissenschaft seither auf einen ‘letzten Grund’ ihres Wissens? Auf die Frage nach Wahrheit? Na ja. Wir können sehr wohl erkennen, was unter gegebenen Prämissen wahr ist. Freilich: Wahr ist es nur so fern, wie ich die Prämissen ausdrücklich mit denke. Und wer verbürgt nun die Richtigkeit dieser Prämissen? Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Es ist die Republik der Wissenschaftler, die das tut, Tag für Tag aufs Neue, und ihr gehört jeder an, der am Werk der unablässigen Überprüfung mit arbeitet (auf das Risiko hin, dass ihm alle andern in die Waden beißen: Das gehört dazu.)

Der Wahrheitsbegriff der modernsten Wissenschaften beruht auf einem Modus, den der Wiener Volksmund umschreibt als “einstweilen definitiv”. Die ‘letzten Gründe’, von denen sie ausgeht, sind dasjenige, was seit nunmehr vierzig Jahren als ihre Paradigmen bekannt ist, und wie sehr es in der Wissenschaft heute wie eh um Wahrheit zu tun ist, erkennt man an den so genannten “Paradigmenwechseln”, die das Unterste zu oberst kehren und der Nachwelt jeweils wie eine ‘wissenschaftliche Revolution’ erscheinen.

Glauben kann man das, was wahr ist, und was unwahr ist. Wissen kann man nur, was wahr ist. Alles andre müsste man glauben. 

Wissen ist das, was der öffentlichen Prüfung durch die Gemeinschaft aller Denkenden Stand gehalten hat.Das ist “Maß und Substanz” der Wissenschaft. Es ist ein pragmatischer Begriff. Er muss sich jedesmal bewähren. So wie sich in der Öffentlichkeit ein Jeder jedesmalbewähren muss.


Exkurs

Im Schulunterricht wird es oft so dargestellt, als habe Galileo durch die Einführung des Experiments die Naturkunde zu einer Erfahrungswissenschaft umgestaltet. Das muss man mit den Worten Albert Einsteins relativieren: dass die Erfahrung eine Theorie bestätigen oder widerlegen könne; doch führt keine Weg aus der Erfahrung zur Theorie. Anders gesagt: Das Experiment dient dazu, eine Theorie zu überprüfen, aber ersonnen muss man sie vorher haben. Steven Weinberg [Physik-Nobelpreis 1979] nennt es ein Vorurteil, dass es in der Wissenschaft darauf ankomme, keine Vorurteile zu haben. Es kommt darauf an, die richtigen Vorurteile zu haben. 

Und hier kommt Galileo wieder ins Spiel! Er hat nämlich (auf die Philosophie Platos zurückgreifend) in die Physik das Vorurteil eingeführt, “das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben”. Indem die Mathematik eine jedermann zugängliche, für jedermann zwingend beweisbare Methode der gedanklichen Konstruktion ist, hat er so die Naturwissenschaft zu einer allgemein zugänglichen Öffentlichkeit gemacht. Und hier kommt nun auch das Experiment zu seinem Recht, denn es hat dieselbe Funktion: Indem die Versuchsanordnungen von jedermann allerorten jederzeit nachgestellt werden können, macht er nicht mehr nur die Erarbeitung, sondern auch die Überprüfung der Theorie zu einer öffentlichen Angelegenheit. 

Der Empirismus im engeren Sinn ist eine durch Francis Bacon begründete Unterströmung in der (insgesamt von Isaac Newton’s mathematischem Rationalismus beherrschten) englischen Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhundert. Ihm diente das Experiment hauptsächlich dazu, Alchemie und ärztliche Kunst aus dem Dunst des Okkulten zu holen und öffentlicher Erörterung allererst zugänglich zu machen.

Merke: Der Naturwissenschaftler beobachtet keines Wegs “die Natur” so lange, bis sie ihm von allein ein Lied singt. Vielmehr reißt er vorsätzlich ein winziges Stückchen aus ihr heraus, zwingt es in die Folterkammer seines Labors und quält es kunstvoll so lange, bis es auf seine gezielten Fragen mit Ja oder Nein antwortet.
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Samstag, 29. August 2015

III. Wie die Wissenschaft entstand.


Das bisherige Ergebnis war: Philosophie ist ihrem Wesen nach kritisch. Kritisch sein heißt: nichts gelten lassen, als was auf seine Gründe hin überprüft ist. So wurde die Philosophie zum Inbegriff und Modell der abendländischen Wissenschaften. Denn nicht jede mehr oder weniger wohl geordnete Ansammlung von Gewusstem ist schon Wissenschaft. Wissenschaft ist ein System von Aussagen, die untereinander in einem Begründungsverhältnis stehen. Alles andere ist nicht Wissen, sondern Dogma: Glaubenssatz.

Die Frage nach dem hinreichenden Grund lässt sich indessen ins Bodenlose hinab weiter treiben. Wenn nämlich stattdessen eine allererster (oder allerletzter) doch einmal gefunden würde, so könnte er der Definition nach nicht “begründet” sein – und dürfte nicht gelten. Wenn aber das Wissen allerdings auf einem Regressus in infinitum “beruht”, ist es ebenfalls nicht begründet!

Die Philosophie ist nun diejenige Wissenschaft, die sich diesem Paradox stellt – auf die Gefahr hin, es am Ende niemals (theoretisch) zu “lösen”, sondern höchstens (praktisch) in einem Akt überspringen zu können. Reelle Wissenschaft kann indessen nicht warten, bis das Problem der Letztbegründung zu Aller Zufriedenheit erledigt ist. Sie hat auch nicht gewartet, jedenfalls nicht mehr, als mit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft von den Wissenschaften technisch verwertbare Resultate erwartet wurden. Wissenschaft im heutigen Verständnis ist im 17. Jahrhundert entstanden. 

Aber sie hatte ihre Vorgeschichte. Positives Wissen ist angesammelt worden, seit Homo sapiens die Erdoberfläche durchstreift. Mehr oder weniger zufälliges Erfahrungswissen wurde von Mund zu Mund von einer Generation auf die andre vererbt, und je spezifischer es war, umso exklusiver wurde es überliefert. Ärzte, Baumeister, Handwerker jeglichen Fachs, Seeleute, Landwirte: Alle hatten ihre Geheimnisse, die nur an Eingeweihte weiter gereicht wurden. Gelegentlich aufge- schriebene Kompendien hatte einen “aporetischen” Charakter (von gr. áporos=ohne Weg), d. h. sie waren um jeweils einzelne Problemegruppiert, ohne nach durchgängigen Begründungszusammenhängen zu suchen. 

Die “metaphysischen” (=jenseits der Physik angesiedelten) Spekulationen der Schulphilosophie brachten ihrerseits kein positives Wissen zustande, und hatten auch gar nicht diesen Ehrgeiz. Sie wollten “Betrachtung” (gr. theoría) sein und keine prâxis. Dennoch ist Wissenschaft im strengen Sinn durch die Philosophie zu Stande gekommen! Nämlich als Galileo sich (gegen die aristotelische mittelalterliche Scholastik) ausdrücklich auf die Philosophie Platos zurück besann und dessen Lehre von den ewigen “Ideen” umformte in die Vorstellung von “Naturgesetzen”. 

Freitag, 28. August 2015

II. Philosophie ist kritisch.

Martin Büdenbender  / pixelio.de 

Früher hieß es, Philosophie sei eine spezifisch abendländische Errungenschaft. Dann wurde gesagt, es gäbe auch eine indische, eine chinesische und sogar eine afrikanische und indianische Philosophie.

Weisheitslehren, die verkünden, was wahr ist, hat es immer und überall gegeben. Aber die Frage, was Wahrheit ist, ist allerdings im Abendland aufgebracht und ausgeführt worden. Sie setzt nämlich voraus, dass Wahrheit etwas ist, wonach ich fragen und was ich beurteilen kann – so wie jeder andere, der ebenfalls ichsagen kann. Setzt also voraus, dass ich mir die Fähigkeit zu eigenem Urteil zumesse; und mich nicht auf etwas verlassen darf, was mir von höherer Instanz “offenbart” worden ist. Und es setzt voraus, dass “es”Gründe “gibt”, auf die ich mich bei meinem Urteil stützen kann. – Beides mag man in Abrede stellen. Nur kann man sich dann an einer vernünftigen (!) Erörterung dieser Dinge nicht mehr beteiligen. 

Philo-Sophie hat ihren Namen daher, dass der “Sokrates”, wie er in Platos Dialogen auftritt, sich selber keinen sophos, keinen Weisen nennen wollte, sondern lediglich einen philo-sophos, einen Freund der Weisheit, der die Wahrheit sucht, weil er sie nicht hat.

Begonnen hat das mit Thales aus Milet in Kleinasien (650-560 v.Chr.). Der verkündete zwar auch nur, ‘was wahr ist’. Aber er unterschied bereits zwischen dem, was zu sein ’scheint’, und dem, was ‘wirklich’ ist. In Wirklichkeit sei nämlich alles Wasser. Dieser ‘Urstoff’ wurde von seinen Nachfolgern mal als “apeiron”, als das Grenzenlose bestimmt (Anaximander, 610-546 v.Chr), mal als “noûs”, als Weltvernunft (Anaxagoras, 500-428 v.Chr.).

Der entscheidende ‘Sprung’ trat ein mit Heraklit aus Ephesos (ebenfalls Kleinasien; 550-480 v.Chr.). Er meinte nicht nur, die Erscheinung von Werden und Vergehen sei das einzig Wirkliche (”Alles fließt” wird ihm zugeschrieben), hinter dem es kein Bleibendes gibt. Er wägt auch erstmals Argumente gegeneinander ab und urteilt, warum dieses gilt und jenes nicht. In einem strengen Sinn ist er der Vater der Philosophie.


Widersprochen haben ihm sogleich die Eleaten, die Anhänger einer Philosophenschule in Elea in Süditalien, allen voran Parmenides (540-470 v.Chr.). Ihnen zufolge ist im Gegenteil alles Werden und Vergehen bloßer Schein, das einzig Wahre ist das Sein selbst, “ontos on”; wahrnehmbar sei es nicht den Sinnen, sondern nur dem Denken. Auch sie argumentieren mit Gründen, und anscheinend ebenso plausibel wie Heraklit.

Plato aus Athen (427-347 v.Chr.) versucht, die widerstreitenden Argumente beider Parteien systematisch gegeneinander zu gewichten und “dialektisch” aufzuheben (wobei er seine Gedanken seinem Lehrer Sokrates in den Mund legt). Ausschlaggebend sind immer und lediglich Vernunftgründe, die einem Jeden zugänglich sind, der willens ist. Höhere Eingebungen gelten ihm nichts. Seither ist Kritik – von gr. “krínein”=urteilen – das Medium der Philosophie; nämlich derjenigen, die diesen Namen verdient: der abendländischen.

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Donnerstag, 27. August 2015

I. „Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18,38)


Was ist Wahrheit, fragt Pontius Pilatus, und will sagen: Es ist ja alles relativ… Klang es bei ihm philoso- phisch-resigniert, so machte die Postmoderne, die wir in diesen Tagen hinter uns lassen, eine Tugend aus der Not: “Anything goes…”, krähte sie selbstgefällig-vergnügt: “…Hauptsache, es funktioniert!” 

Darin sind sich Analytische Philosophie, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, die seit Jahr und Tag konkurrierend das geistige Feld beherrschen, einig: Die Frage nach der Wahrheit ist “metaphysisch”, was so viel bedeutet wie: unstatthaft; denn sie sei so gefasst, dass darauf immer nur eine dogmatische Antwort möglich sei, nämlich eine, die aus Glaubenssätzen stammt und nicht aus vernünftigem Argument.

Am Anfang der Moderne – die die Postmoderne doch zu überbieten trachtete – stand, wie gesagt, die Romantik. Was das Wahre sei, war den Romantikern so ungewiss geworden, dass sie gelegentlich zu der Auffassung neigten, das Ungewisse sei selber das Wahre. Der Rationalismus und die “Aufklärung” des 17. und 18. Jahrhunderts hatte an die Stelle der geoffenbarten Wahrheiten der voraus gegangenen Dunklen Jahrhunderte die stolze Selbstgewissheit der Vernunft gesetzt. Aber die war durch Immanuel Kants Drei Kritiken gehörig ins Wanken geraten. Die Romantik war in Jena aus der unmittelbaren Anregung durch die ‘Wissenschafsftlehre’Johann Gottlieb Fichtes entstanden. Der verstand sich als der Radikalisierer und Vollender von Kants kritischer bzw. ‘Transzendental’-Philosophie.

Zu der Zeit tummelten sich auf den öffentlichen Plätzen – wie heut im Zeichen der Postmoderne – jene, die meinten, die Wahrheit gebe es gar nicht, allenfalls Wahrheiten…, und sich dabei furchtbar schlau vorkamen. Aber das ist nur eine Ausflucht. Wenn diese ‘vereinzelten’ Wahrheiten wahr sein sollen, dann sind die es unbedingt. Wenn sie nur bedingt wahr sind, dann ist dasjenige, was sie bedingt, unbedingt wahr – oder Alles ist nicht wahr. 

Um die Frage, was das Wahre ist, kommen wir also nicht herum. Und halten wir gleiche eines fest, um das wir auch nicht herum kommen: dass das Wahre zunächst einmal als Frage “ist”.


 

*  Ein intellektuelles Gefühl.


Wahrheit ist keine Sache, sondern ein Verhältnis. Nämlich zwischen einem, der etwas weiß, und demjenigen,was er weiß. Das Wort sagt etwas über die Qualität dieses Verhältnisses aus: nicht, dass es ‘ist’, sondern dass es gilt. Etwas ‘gilt’ freilich nur für irgendwen. Und auch nicht an und für sich, sondern erst wenn und insofern er etwas tun will oder soll. Es mag auch nur ein rein gedankliches Tun sein: vorstellen und über Vorstellungen urteilen. 

Ob etwas ‘gültig’ und also “wahr” ist, wird sich erweisen im und durch den Vollzug dieser Handlung. Wenn also etwa das betroffene Urteil ‘richtig’ ist, und das heißt: zu weitergehendem Urteilen taugt. Hier passt ein ‘Fragment’ des Urromantikers Friedrich Schlegel: “Logik ist eine praktische Wissenschaft.”

Bis hierhin ist das eine rein pragmatische Bestimmung: Wahrheit erweist sich jeweils vor ihren Zwecken, sie ist eine Zweckmäßigkeit. Wahrheit ist nicht Etwas, das “ist”, sondern das, was sein soll. Das ist aber erst der Anfang. Richtig ernst wird es erst wenn nach den Zwecken selbst gefragt wird: wozu ‘Wahrheit’ taugen soll. “Gibt es” einen absoluten Zweck?

Darüber will ich gerne weiter diskutieren. Aber in einem Beitrag ist es natürlich nicht abzumachen. Es wird eine ganze Reihe nötig werden… Und mehr als einmal werden der Autor und seine Leser im Lauf der Auseinandersetzung das ungute Gefühl haben: Aber an der Stelle waren wir doch schon mal! Drehn wir uns im Kreis?

Ja, wir sind wieder am selben Punkt; aber diesmal ein paar Etage höher: Es ist wie eine Wendeltreppe.


wendeltreppe3


Mittwoch, 26. August 2015

Apologie des bloggenden Philosophierers.


Rembrandts Sohn Titus am SchreibpultRembrandt, Titus schreibend 

Zu Aufweckung des in jedem Menschen schlafenden Systems ist das Schreiben vortrefflich, und jeder der je geschrieben hat, wird gefunden haben, daß Schreiben immer etwas erweckt was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag. 
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Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher Heft J, N°19 




Montag, 24. August 2015

Freiheit ist Anfang und Ende der Philosophie.


New York, Central Park 

Der letzte Punkt, an dem unser ganzes Wissen und die ganze Reihe des Bedingten hängt, muß schlechterdings durch nichts weiter bedingt sein. Das Ganze unsers Wissens hat keine Haltung, wenn es nicht durch irgend etwas gehalten wird, das sich durch eigene Kraft trägt, und dies ist nichts, als das durch Freiheit Wirkliche. Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!
_____________________________________________________
F. W. J. Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie, [1795] § 6


Nota. - Das ist ein analytischer, kein synthetischer Satz. Wenn unser ganzes Wissen und die ganze Reihe des Bedingten einen festen Grund haben sollen, kann es nur einer sein, der sich durch eigene Kraft trägt, und dies ist nichts, als das durch Freiheit Wirkliche. – Wahr ist er aber nur, sofern er sich bewährt.
JE



Sonntag, 23. August 2015

Ichheit.


©2013 brennholz-lager-lindau.com

Ichheit ist eine logische Dimension.

[der 'Ort' außerhalb von Raum und Zeit, "wo geurteilt wird"]

-       keine 'Stelle' in der formalen Logik, kein 'Durchgangspunkt' des reellen Schlussfolgerns, sondern die 'genetische' Bedingung des Urteilens selbst – also auch des Schlussfolgerns. 'Materiale' Bedingung 'des Logischen'.
-       Eine 'Stellung', die das Vorstellen eingenommen haben muss, bevor es urteilen kann*
-       ['Vorstellen' ist das Re-Präsentieren einer {vorgängig} 'gehabten' und gemerkten
Anschauung]
-       ['Urteilen' ist das Zuordnen einer aktuellen Anschauung zu eine Vorstellung: als 'Fall' zu einer 'Regel']
-       ['Bedeutungen' werden entweder 'angeschaut' oder 'vorgestellt': re-präsentiert]
-       [auch das Tier "schaut an"; was es anschaut – was es "merkt"- ist "bedeutend"; Anderes 'nimmt es gar nicht wahr']
-       [der Mensch"schaut an" – sinnlich oder mental – auch solches, das 'noch Nichts bedeutet' – {und fragt: was?}
-       ["Einbilden": das Anschauen mentaler Bilder; "ästhetischer Zustand"?!!!]**
-       [Vielleicht 'hat' auch das Tier "Einbildungen"="ästhetische Zustände"? Aber es kann sie nicht behalten: dazu müsste es sie mit Symbolen "auszeichnen" und willkürlich re-präsentieren können]
-       ["Sinneseindrücke" werden 'erlebt'; Erlebnis ist "ästhetisch", weil es eo ipso gewertet, "gestimmt" wird: limbisches System, [Stirnfurche - Inselrinde], Plexus solaris… unwillkürlich! Ohne das würde nichts "erlebt"]

Alles andre kommt danach

2. 4. 09

im Oktober 2013: 


*) ...einnimmt, indem es urteilt...
**) Der ästhetische Zustand setzt voraus das Absehen der Ichheit von sich selbst; setzt voraus eine Reflexion höheren Grades. Einbilden ist dagegen Akt par excellence - vor jedem Urteil: setzen ja; aber nicht setzen als.

Samstag, 22. August 2015

Konsens oder kritische Reduktion?

aus wikipedia 

'Vernunft und Öffentlichkeit bedeuten dasselbe...' - sofern nämlich Öffentlichkeit schlechterdings Kritik bedeu- tet, und zwar Kritik ohne jede Grenze, weder in der Zeit noch im Raum.

Vernunft ist kein Stoff und keine Energie, die man haben oder nicht haben kann. Vernünftig kann man sein, und das bedeutet: allgemein nur gelten lassen, was sich der Kritik stellt und ihr standhält. 'Vernunft' ist der Inbegriff all dessen, was die Kritik überstanden haben wird. Sie ist ein bloßes proiectum, weil die Kritik sachlich nie zu einem Ende kommt.

°

Nein, damit ist Vernunft nicht als Konsens oder als bloße Intersubjektivität bestimmt. Konsens ist das, was eine bestimmte und daher zufällige Anzahl von Individuen unter sich zu einem gegebenen Zeitpunkt aus je gegebe- nen, aber unergründlichen Motiven als momentan für einander gelten sollend vereinbart haben. Eine Art klein- ster gemeinsamer Nenner, eine Menge, die zu einem andern Zeitpunkt größer oder kleiner hätte ausfallen oder auch ausbleiben können. Das ist in logischer Hinsicht so kontingent wie das gelegentliche Meinen und Dafür- halten von Irgendwem. 'Was Vernunft gewesen sein wird' ist nicht Ergebnis einer allmählichen, einvernehmlich Anhäufung, sondern im Gegenteil Resultat einer Reduktion: Das, was der prozessierenden öffentlichen Kritik noch immer standhält, darf als allgemein und notwendig gelten. 

Merke: Was nicht in die Öffentlickeit gehört, ist der Vernunft gleichgültig.

24. 5. 2015

Freitag, 21. August 2015

Transzendentalphilosophie ist keine Hirnphysiologie.


Es ist ein Missverständnis, dass die Transzendentalphilosophie mit dem Empirischen gar nichts zu tun hätte. Würde sie von etwas handeln, das nicht wirklich ist, wäre sie überflüssig. Würde sie allerdings von etwas Wirklichem handeln, von dem wir Erfahrung haben können (wenn also zum Beispiel die Hirnphysiologen nicht nur die elektrochemischen Vorgänge im Gehirn beobachten, sondern auch darstellen könnten, was sie jeweils bedeuten), wäre sie nicht bloß überflüssig, sondern widersinnig.


Die Transzendentalphilosophie rekonstruiert ein Wirkliches, von dem wir keine Erfahrungen haben und das wir uns aus seinen Wirkungen erst erschließen müssen. Sie ist Wissen von etwas, das vor dem Wissen liegt: ist Spekulation, sie entwirft ein Bild; aber kein Abbild, sondern ein Sinnbild: ein Schema.

Dezember 10, 2008




Donnerstag, 20. August 2015

Bedeutung und Erhaltungswert.



Bedeutungen, die in Bezug auf die Erhaltung stehen, kommen als solche im Erleben der Individuen vor, nämlich wo es um individuelle Erhaltung geht. Bedeutungen, die in Bezug auf die Erhaltung der Art stehen, kommen nur - durch "Auslese und Anpassung" - generationenübergreifend im kollektiven Verkehr "zum Tragen". Sie 'wirken' in der Gattungsgeschichte regulativ, müssen also, um "erlebt" zu werden, symbolisch erschlossen sein, und nur so sind sie tradierbar.

Bedeutungen, die 'auftreten', aber in keinem Bezug zu irgendeinem Erhaltungswert stehen, können individuell "erlebt", aber überhaupt nur in symbolische Form "gemerkt" ("behalten") werden. Die symbolische Form der Bedeutung lässt sie so erscheinen, als sei sie außer-sinnlicher Herkunft.

aus e. Notizbuch, im November 08


Und ich höre schon den Einwand: Der Akt, der am unmittelbarsten mit der Arterhaltung zu tun hat, bedürfte kein bisschen der Symbolisierung, um gemerkt zu werden. - Doch wie die Dialektik so spielt: Wenn er um der Arterhaltung willen vollzogen werden soll, was ganz ungewöhnlich wäre, dann bedürfte er sogar besonders starker Symbole, um zu gelingen; wenn überhaupt. 




Mittwoch, 19. August 2015

Die Welt ist ein Geistesprodukt; darum zerfällt sie in zwei Sphären.


Geist nennen wir den Umstand, dass wir die Dinge nicht als solche wahrnehmen, sondern immer schon in ihrer Bedeutung. Auch die Tiere leben nicht zwischen lauter Dingen, sondern in einem Raum voller*Bedeutungen. Doch sind ihnen diese durch ihre Umwelten vor-gegeben. Der Mensch hat seine geschlossene Umwelt zugunsten einer offenen Welt verlassen, in die er Bedeutungen erst hinein-erfinden musste. Geist ist die Kompensation dieses Verlustes.

Da wir in dieser unseren Welt - gleiche oder konkurrierende - Zwecke verfolgen, müssen wir uns verständigen. Darum haben wir unsere shared significations in einem "Symbolnetz" festgehalten. Aber in meiner eigenen Welt kenne ich Bedeutungen, die ich nicht teilen muss. Der reelle Ursprung Unserer Welt ist Meine Welt; der logische Ursprung Meiner Welt ist Unsere Welt - soweit unsere Begriffe reichen. Darunter beginnt das Feld der Transzendentalphilosophie. Es ist das Reich der produktiven Einbildungskraft.

aus e. Notizbuch, 20. 5. 07


*) Im Wortsinne ist er voll von Bedeutungen, es ist keine Stelle leer! Was immer das Tier in seiner Umwelt antrifft, hat für es eine Bedeutung; denn was keine solche hat, 'begegnet' ihm vielleicht, aber das merkt es nicht.

im Dez. 14

Dienstag, 18. August 2015

Ein erster, letzter Grund; oder Der schöne Schein des Wahren.

Helixnebel alias God's eye 

Nichts trügt weniger als der Schein.
Max Liebermann

Ursprung und Angelpunkt des abendländischen Denkens war die Frage nach dem Wahren. In der Sinnenwelt ist alles Trug. Sie scheint mal so, mal so, je nach Standort. Alles, was wird, wird vergehen. Wahr ist, was währt, das ewige Sein; doch es liegt unterm Werden verhüllt. Nur dem Denken ist es kenntlich, „denn dasselbe ist Denken und Sein“, sagt Parmenides. Die Frage nach dem wahren Sein ist die Frage, wonach sich mein Leben in der Mannigfaltigkeit trügerischer Erscheinungen richten soll. 

Man erkennt es beim Vergleich mit Heraklit, gegen den Parmenides angetreten war: Nicht zweimal könne man in einen Fluss steigen; der Fluss sei ein anderer geworden und der Mensch auch. Hinter dem Werden ist Nichts, wahr ist der Schein: Das möchte man einen heroischen Nihilismus nennen; ein aristokratisches Leben auf eigne Faust, das sich nicht jeder leisten kann. Die Vermutung, daß der Sinn der Welt zwar verborgen, aber jedenfalls in ihr liegt, macht dagegen auch kleinen Leuten Mut. Nicht anders konnte die Arbeitsgesellschaft siegen, nicht anders konnte Europa die Welt erobern. 

Die Erkenntnis, dass nach dem Sinn gefragt werden muss, war die Geburtsstunde des Abendlands.

Der ebenbürtige Zeitgenosse von Heraklit und Parmenides war Aischylos – der als erster die Schuld der Menschen zum Thema gemacht hat; nämlich dass sie ihre Wege selber wählen. Es wurde zum Thema der westlichen Kultur. Man mag auch meinen, es sei die Conditio humana selbst. Nur wurde sie nicht überall ihrer bewusst. 

Das Wahre, das Ansich-Seiende, das Absolute; Wert, Bedeutung, Geltung, Sinn – das alles sind verschiedene Worte für ein Problem. Nämlich dies, dass der Mensch sich nicht mit dem Leben begnügen kann, sondern immer sein Leben führen muss. Führen wo hin, wo lang? Er muss sich orientieren. Das, woran er sich orientiert hat, um dessentwillen er gelebt hat, nennt er, rückblickend, ’das Wahre’, ‘das Absolute’, den ‘Sinn’. Das Erkennen ist zirkulär. 

Warum? Es kommt a posteriori. Denn gesetzt wird der Sinn immer ‘in actu’, hier und jetzt, an jedem Wegkreuz neu. Dem (nachträglichen) Erkennen erscheint es darum als a priori. ‘Das Wahre’, ‘das Absolute’, der ‘Sinn’ ist – reell wie ideell – eben keine Sache, sondern ein Problem. Es ist aber keins, worauf die Menschen ebenso gut verzichten könnten. Sie waren tätig, bevor sie erkennend wurden. Aber sie müssen erkennend sein, um selbsttätig zu werden. 

Nur weil der Mensch ein Leben führt, dessen Sinn weit über seine bloße Erhaltung hinaus reicht (wenn er es will), hat er das Problem der Freiheit. Ob er es will, ist damit noch nicht entschieden. Wenn einer sagt: Die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist mir genug – wie kann ich ihm widersprechen? Es gibt noch viele, die sich mehr gar nicht leisten können. 

Aber eine Kultur, wo verknappter Luxus schon wie Not erscheint, lebt im Überfluss. Dieses ist eine Sinnbehauptung: Es sollte eine Welt des Reichtums entstehen, damit Menschen in die Lage kommen, ihre Freiheit bestimmen zu können. Nur darum gibt es die Frage nach der Wahrheit. Aber die ist ein Paradox.

Was ich tun soll, ist eine Frage von Bedeutungen. Ist Sache eines Urteils. Und dafür brauche ich Gründe, die gelten. Deren Geltung muss ihrerseits begründet sein, und so fort. Machen wir’s kurz: Wenn überhaupt etwas gelten soll, muss es irgendwo einen Grund geben, der schlechterdings gilt und in letzter Instanz, ohne alle Bedingung – die Bedingungen von Ort und Zeit zumal. In der Welt, die ‘der Fall ist’, wird man ihn nicht antreffen. Er ist “nicht von dieser Welt“, ich muss ihn mir hinzu denken. 

FlaschenzugDass der menschliche Geist “notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss und dennoch von der andern Seite anerkennen muss, dass dasselbe für ihn da sei, ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche erweitern, aus welchem er aber nicht heraustreten kann. Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und entflieht, sobald man es auffassen will”, schrieb Johann Gottlieb Fichte. Es “kann nur eine Idee sein; ein bloßer Gedanke in uns, von welchem gar nicht vorgegeben wird, dass ihm in der wirklichen Welt außer uns etwas entspreche. Ideen können unmittelbar nicht gedacht werden. Sie sind Aufgaben eines Denkens, und nur, inwiefern wenigstens die Aufgabe begriffen werden kann, kommen sie in unserm Bewusstsein vor.“ Eine Aufgabe nannten die Griechen ein Problem. Aber dieses Problem ist so gestellt, dass es schlechterdings nicht lösbar ist: Die Freiheit soll sich ihren Bestimmungsgrund außer sich suchen! Es ist ein Paradox. 

Das ist nicht bloß eine Idee. Das ist eine ästhetische Idee. Es ist, recht besehen, die ästhetische Idee schlechthin, die in alle tatsächlich vorkommenden Bestimmungen nach Ort und Zeit vorgängig hineingreift, die all die Qualitäten vereint, die ich an den Dingen “wertnehme”, bevor ich sie wahrnehme, und von der ich erst durch eine besondere Anstrengung des reflektierenden Verstandes wieder abstrahieren kann. 

Es “ist” nicht so. Aber so muss ich es mir vorstellen, wenn ich mir überhaupt Etwas vorstellen will. Das Wissen kann seinen eignen Grund nicht erkennen. Es muss ihn sich ein-bilden. Der höchste Akt der Vernunft sei ein ästhetischer, hieß es im ‘Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus’. Ob er wirklich stattgefunden hat, ist nicht entscheidend. Es scheint uns so, als ob er stattgefunden hätte. Er ist so wahr wie ein Mythos sein kann. Will sagen, er muss sich bewähren.

Bewähren in Sonderheit in meinem täglichen Tun und Lassen – als Sittlichkeit. “Die Ethik ist transzendental“, schrieb Ludwig Wittgenstein, um gleich hinzu zu fügen: “Ethik und Ästhetik sind eins.” Und es sei klar, dass sie sich als solche “nicht aussprechen” lassen.

In den Wörtern unserer Welt lassen sie sich nicht aussprechen. Denn sie gehören zu meiner Welt. Den andernkann ich sie allenfalls zeigen – in den Bildern der Kunst. In Wörtern lässt sich das Problem immer nur so formulieren: Der Sinn des Lebens ist, dass du nach ihm fragst. Eben ein heroischer Nihilismus oder, wenn man will, “Artisten-Metaphysik”. Auf jeden Fall ist es eine romantische Anschauung der Welt, und eine fröhliche.

Fata Morgana