Dienstag, 30. September 2014

Der Ur-Sprung des Menschen.



Seine Befähigung zum Verneinen schuldet er dem Umstand, dass er zum Fragen verurteilt ist. Die Fähigkeit zu fragen fordert seine Einbildungskraft heraus (quale?); die Möglichkeit der Verneinens erzwingt die Reflexion: entscheiden, ob ja oder nein.

aus e. Notizbuch, 16. 5. 07






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 


Sonntag, 28. September 2014

Denkzeug.


Allar, Enfant des Abruzzes

So wie Hämmer, Zangen und Sägen Werk-Zeuge sind, so sind Begriffe und logische Regeln Denk-Zeuge und keine Werke. Werke sind erst die mit ihrer Hilfe komponierten 'Bilder', deren 'Bedeutung' angeschaut wird.*

Soll heißen, das Denken beginnt nicht nur in der Anschauung, sondern läuft auch darauf hinaus.

Freilich sind auch die Werk- und Denk-Zeuge ihrerseits komponiert; aber zu einem formalen Zweck. Die Form ist die Gebrauchsanleitung.

*) Ebendas ist die Rechtfertigung der Dialektik: Sie lässt die Verselbständigung der Begriffe im diskursiven Zusammenhang durch ihr Widerspiel deutlich werden - und macht ihren anschaulichen Gehalt kenntlich!

aus e. Notizbuch, 30. 4. 07


Nota, Sept. 2014

Sie sind vor allem ersteinmal Behältnisse (und ihre Henkel). So können die Anschauungsgehalte - 'das Gemeinte' - für späteren Gebrauch aufbewahrt und, wenn nötig, Anderen mitgeteilt werden. Verschiedene Gefäße taugen für verschiedene Inhalte, und Henkel - oder Räder, Schienen, Kräne - ermöglichen verschiedenen Transport. Ob die Gefäße zu groß sind oder zu klein, so dass etwas danebenfällt, und ob der Inhalt unterwegs Schaden nimmt - immer ist es der anschauliche Inhalt, auf den es ankommt, und darauf, wie er ankommt; aber nicht die Gefäße und nicht der Transport.

Der Mensch ist ein Zwischen-Ding.

 
 
Möge der Mensch in sich selbst zurück kehren und betrachten was er ist im Vergleich mit dem, was ist: er sehe sich an als verirrt in diesem abgelegenen Bezirk der Natur und wie ihm dieser kleine Kerker, in welchem er sitzt, nämlich diese sichtbare Welt erscheint, lerne er daraus die Erde, Die Reiche, die Städte, sich selbst und seinen wahren Werth schätzen.

Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann ihn begreifen? Aber um ihm ein anders eben so staunenswerthes Wunder zu zeigen, suche er in dem, was er kennt, die geringfügigen Dinge auf. Eine Milde z.B. mag ihm in der Kleinheit ihres Körpers noch unvergleichlich kleinere Theile darbieten, Beine mit Gelenken, Adern in diesen Beinen, Blut in diesen Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen in diesem Feuchtigkeiten, Dünste in diesen Tropfen, nun theile er noch er noch diese letzten Dinge und erschöpfe seine Kräfte und Gedanken und der letzte Gegenstand, wohin er gelangen kann, sei nun das, wovon wir reden wollen. Vielleicht wird er meinen, das sei die äußerste Kleinheit der Natur. Ich will ihm darin einen neuen Abgrund zeigen. Ich will ihm ausmalen nicht nur das fühlbare Universum, sondern auch alles, was er im Stande ist zu fassen von der Unermeßlichkeit der Natur im Umfang dieses unbemerkten Atoms. Er sehe darin eine Unzahl von Welten, von denen jede ihr Firmament, ihre Planeten, ihre Erde hat in gleichem Verhältniß wie die fühlbare Welt, auf dieser Erde Thiere und wieder Milben, in denen er wieder findet, was er in den ersten fand und auch in den andern findet er eben dasselbe ohne Ende und ohne Aufhören.

Er verliere sich in diesen Wundern, eben so erstaunenswerth /  durch ihre Kleinheit als die andern durch ihre Ausdehnung. Denn wer bewundert nicht, daß unser Leib, der eben erst nicht bemerkbar war in dem Universum, das selbst unbemerkbar ist im Schloß des Alls, jetzt ein Koloß ist, eine Welt oder vielmehr ein All im Betracht der letzten Kleinheit, wohin man nicht gelangen kann?

Wer sich auf diese Art betrachtet, wird erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben hat, gleichsam schweben zu sehen zwischen den beiden Abgründen des Unendlichen und des Nichts, von denen er gleich weit entfernt ist. Er wird zittern beim Anblick dieser Wunder und ich glaube: seine Neugier wird sich in Bewunderung verwandeln und mehr sein sie still zu beschauen als sie hochmüthig zu untersuchen.

Denn genug, was ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen Beiden. Er ist unendlich fern von den beiden Extremen und sein Wesen ist nicht weniger entfernt vom Nichts, woraus er gezogen ist, als vom Unendlichen, worin er sich verliert.

Seine Vernunft steht in der Reihe der erkennbaren Dinge auf derselben Stufe als sein Körper in der weiten Natur und alles, was sie vermag, ist, daß sie einigen Schein von der Mitte der Dinge bemerkt, in ewiger Verzweiflung weder ihren Anfang noch ihr Ende zu kennen. Alle Dinge sind hervor gegangen aus dem Nichts, und streben nach dem Unendlichen. Wer kann diese erstaunlichen Schritte verfolgen? Der Urheber dieser Wunder faßt sie, kein andrer kann das.

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Blaise Pascal, Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 120f. 

Samstag, 27. September 2014

Die Größe des Menschen.


Michelangelo, Sklave (unvollendet)

Der Mensch ist so groß, daß seine Größe sich selbst darin zeigt, daß er sein Elend erkennt. Ein Baum erkennt nicht sein Elend. Freilich es ist wahr, das ist ein Elend sein Elend zu erkennen, aber es ist auch eine Größe zu erkennen, daß man elend ist. So beweist all dieses Elend seine Größe, es ist ein Elend eines großen Herrn, eines entthronten Königs.
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Blaise Pascal, Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 123 





Freitag, 26. September 2014

Nicht Wille, sondern Einbildungskraft.


[Der Wille ist nicht das oberste Princip der Bestimmung des Subjects zu Vorstellungen sondern diese haben ihr Spiel der Einbildungskraft für sich im Traume]
...
Nothwendigkeit der Träume 
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Kant, Opus postumum, 1. Konvolut, S. 065; 060





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Donnerstag, 25. September 2014

Heinrich Rickert über Begriff und Wirklichkeit.


Jürg Adler  / pixelio.de
aus  
Begriff und Wirklichkeit
in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, V. Kapitel

von Heinrich Rickert 

... Freilich, es könnte jemand sagen, daß er mit dem Erkennen nichts anderes als ein Abbild der Dinge erreichen  wolle:  die Wissenschaft habe die Welt zu "beschreiben", so wie sie wirklich ist, und was nicht eine mit der Wirklichkeit genau übereinstimmende Beschreibung sei, das habe überhaupt keinen wissenschaftlichen Wert, sondern bestehe lediglich aus "Konstruktionen". In der sogenannten Phänomenologie scheinen diese radikal "empiristischen" Tendenzen wieder lebendig zu werden.

Gegen die Kundgebung solchen Wollens läßt sich natürlich nicht viel sagen. Aber man darf doch die Frage aufwerfen, ob die Ausführung dieses Willens auch möglich ist. Man versuche nur einmal, die Wirklichkeit genau zu "beschreiben", d. h. sie mit allen ihren Einzelheiten, "so wie sie ist", in Begriffe aufzunehmen, um dadurch ein Abbild von ihr zu bekommen, und man wird wohl bald die Sinnlosigkeit eines derartigen Unternehmens einsehen. Die empirische Wirklichkeit nämlich erweist sich als eine für uns unübersehbare Mannigfaltigkeit,  die immer größer zu werden scheint, je mehr wir uns in sie vertiefen und sie in ihre Einzelheiten aufzulösen beginnen, denn auch das "kleinste" Stück enthält mehr, als irgendein endlicher Mensch zu beschreiben vermag, ja, was er davon in seine Begriffe und damit in seine Erkenntnis aufnehmen kann, ist geradezu verschwindend gering gegen das, was er beiseite lassen muß(11)


Hätten wir also die Wirklichkeit mit Begriffen abzubilden, so ständen wir als Erkennende vor einer prinzipiell unlösbaren Aufgabe, und so wird es denn, wenn irgendetwas, das bisher geleistet ist, überhaupt den Anspruch machen darf, Erkenntnis zu sein, auch für den immanenten Wahrheitsbegriff wohl dabei bleiben müssen, daß Erkennen nicht Abbilden durch Beschreibung der "Phänomene", sondern Umbilden und zwar, wie wir hinzufügen können, im Vergleich zum Wirklichen selbst, immer Vereinfachen ist.

Für unseren Zusammenhang könnte es vielleicht bei dieser ebenso schlichten wie unwiderleglichen Zurückweisung der Ansicht, daß die Wissenschaft ein Abbild der Wirklichkeit selbst zu geben hat, sein Bewenden haben. Aber da die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit, "so wie sie ist", in Begriffe aufzunehmen, zur Behauptung der "Irrationalität" der empirischen Wirklichkeit führt und weil dieser Gedanke auf entschiedenen Widerspruch gestoßen ist, so will ich hierüber noch einiges hinzufügen und besonders sagen, in welchem Sinne die Wirklichkeit irrational, also unerkennbar und in welchem Sinne sie rational, also erkennbar, genannt werden darf.

Achten wir auf irgendein beliebiges, uns unmittelbar gegebenes Sein oder Geschehen, so können wir uns leicht zum Bewußtsein bringen, daß wir darin nirgends scharfe und absolute Grenzen, sondern durchweg allmähliche Übergänge finden. Es hängt dies mit der Anschaulichkeit jeder gegebenen Wirklichkeit zusammen. Die Natur macht keine Sprünge. Alles fließt. Das sind alte Sätze und sie gelten in der Tat vom physischen Sein und seinen Eigenschaften ebenso wie vom psychischen, also von allem realen Sein, das wir unmittelbar kennen. Jedes räumlich ausgebreitete oder eine Zeitstrecke erfüllende Gebilde trägt diesen Charakter der Stetigkeit. Das können wir kurz als Satz der Kontinuität alles Wirklichen bezeichnen.

Dazu aber kommt noch etwas anderes. Kein Ding und kein Vorgang in der Welt gleicht dem anderen vollkommen, sondern ist ihm nur mehr oder weniger ähnlich, und innerhalb jedes Dings und jedes Vorgangs unterscheidet sich wiederum jeder noch so kleine Teil von jedem beliebigen räumlich und zeitlich noch so nahen oder noch so fernen. Jede Realität zeigt also, wie man auch sagen kann, ein besonderes, eigenartiges, individuelles Gepräge.  Es dürfte wenigstens niemand behaupten wollen, daß er jemals auf etwas absolut Homogenes in der Wirklichkeit gestoßen wäre. Alles ist anders. Das können wir als Satz der Heterogenität alles Wirklichen formulieren.

Selbstverständlich gilt nun dieser Satz auch von den allmählichen kontinuierlichen Übergängen, die jede Wirklichkeit zeigt, und gerade das ist wichtig für die Frage nach der Begreiflichkeit der Realität. Wohin wir den Blick richten, finden wir eine stetige Andersartigkeit, und eine solche Vereinigung von Heterogenität und Kontinuität ist es, die der Wirklichkeit jenes eigentümliche Gepräge der "Irrationalität" aufdrückt, d. h. weil sie in jedem ihrer Teile ein heterogenes Kontinuum ist, kann sie so, wie sie ist, nicht in Begriffe aufgenommen werden. Stellt man daher der Wissenschaft die Aufgabe einer genauen Reproduktion des Wirklichen, so tritt nur die Ohnmacht des Begriffes zutage, und ein absoluter Skeptizismus ist das einzige konsequente Ergebnis, wo die Abbildtheorie oder das Ideal der reinen Beschreibung die Wissenschaftslehre beherrscht. (12)

Man darf also dem wissenschaftlichen Begriff eine solche Aufgabe nicht stellen, sondern muß fragen, wie er Macht über das Wirkliche bekommt, und auch die Antwort hierauf liegt nahe. Nur durch eine begriffliche Trennung von Andersartigkeit und Stetigkeit kann die Wirklichkeit "rational" werden. Das Kontinuum läßt sich begrifflich beherrschen, sobald es homogen ist, und das Heterogene wird begreiflich, wenn wir darin Einschnitte machen können, also sein Kontinuum in ein Diskretum verwandeln. Damit eröffnen sich für die Wissenschaft sogar zwei einander geradezu entgegengesetze Wege der Begriffsbildung. Wir formen das in jeder Wirklichkeit steckende heterogene Kontinuum zu einem  homogenen Kontinuum  oder zu einem  heterogenen Diskretum  um. Insofern als dies möglich ist, kann dann die Wirklichkeit auch selbst  rational  genannt werden. Irrational bleibt sie nur für die Erkenntnis, die sie abbilden will, ohne sie umzuformen.

Den ersten Weg, der mit einer Beseitigung der Heterogenität beginnt, geht die  Mathematik.  Zum Teil kommt sie sogar zu einem homogenen Diskretum, wie es z. B. in der Reihe der einfachen Zahlen vorliegt, aber sie kann auch das Kontinuum begrifflich beherrschen, sobald sie es homogen denkt und sie feiert dadurch ihre höchsten Triumphe. Ihre "Apriorität" dürfte an die Homogenität ihrer Gebilde gebunden sein. Ein "Vorurteil" über noch nicht Beobachtetes oder Erfahrenes ist möglich, wo man sicher sein kann, nie auf etwas prinzipiell  Neues  zu stoßen. (13) Vom Standpunkt der Wissenschaft jedoch, die die  Wirklichkeit  erkennen will, sind diese Triumphe teuer erkauft. Die homogenen Gebilde, von denen die Mathematik redet, haben überhaupt kein "reales" Sein mehr, sondern gehören in eine Sphäre, die man nur als die eines "idealen" Seins bezeichnen kann, wenn man von ihnen sagen will, daß sie sind. Die Welt der homogenen Kontinua ist für die Mathematik die Welt der  reinen Quantitäten, und sie ist aus diesem Grund absolut "unwirkliche", denn wir kennen nur  qualitativ  bestimmte Wirklichkeiten in der Sinneswelt.

Will man also die Qualitäten und mit ihnen die  Wirklichkeit  festhalten, so muß man bei ihrer Heterogenität bleiben, dann aber in ihrem Kontinuum Einschnitte machen. Auch hierbei geht vom Inhalt der Wirklichkeit alles verloren, was zwischen den durch die Begriffe gezogenen Grenzen liegt, und das ist nicht wenig. Denn auch wenn wir die Grenzen noch so nah aneinanderlegen, so fließt doch immer die Wirklichkeit selbst mit ihrer kontinuierlichen und daher unerschöpflichen Andersartigkeit zwischen ihnen unbegriffen hindurch. Wir können also mit den Begriffen nur Brücken über den Strom der Realität schlagen, mögen die einzelnen Brückenbogen auch noch so klein sein. Daran wird  keine  Wissenschaft vom realen Sein etwas ändern.

Trotzdem liegt der Gehalt der so entstehenden Begriffe der Wirklichkeit selbst prinzipiell  näher  als das Homogene und rein Quantitative, wie hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht, da wir uns auf die Wissenschaften beschränken, die Begriffe von  realen Objekten  bilden wollen. Nur auf diese ist der Unterschied von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft überhaupt anwendbar. Die Wissenschaften vom idealen Sein, wie die Mathematik, gehören weder zu den einen noch zu den anderen und kommen daher in diesem Zusammenhang nicht weiter in Betracht.

Für unseren Zweck einer Gliederung der empirischen Wissenschaften vom realen Sein der Objekte wird der Nachweis, daß die Wirklichkeit, "so wie sie ist", in  keinen  Begriff eingeht, der ihren Inhalt erfassen will, wohl genügen. Nur bei einer einzigen Wissenschaft kann der Schein entstehen, daß sie trotzdem die Wirklichkeit restlos begreift und das ist aus naheliegenden Gründen die  mathematische  Physik. An sie hat daher der moderne  Rationalismus,  der das Wirkliche für völlig begreiflich hält, hauptsächlich angeknüpft. Die Physik hat es nämlich zweifellos mit  realem  Sein zu tun, aber es sieht trotzdem so aus, als werde durch die Anwendung der Mathematik das Diskretum, in welches sie die heterogene Wirklichkeit zerlegen muß, wieder in ein  stetiges Gebilde zurückverwandelt  und als sei daher das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit selbst in die Begriffe aufgenommen. (14) Doch, wir lassen diesen einzigartigen Fall zunächst beiseite, um ihn später zu behandeln, und fassen nur die anderen Wissenschaften von der Wirklichkeit ins Auge. Sie müssen sich unter allen Umständen auf einen relativ kleinen  Teil  des Wirklichen beschränken und ihre Erkenntnis kann daher nur eine Vereinfachung, niemals aber ein Abbild des realen Inhalts sein.

Hieraus ergibt sich dann eine für die Methodenlehre entscheidende Einsicht. Die Wissenschaften bedürfen, falls ihr umbildendes Verfahren nicht  willkürlich  sein soll, eines "a priori" oder eines Vor-Urteils, dessen sie sich bei der Abgrenzung der Wirklichkeit gegeneinander oder bei der Verwandlung des heterogenen Kontinuums in ein Diskretum bedienen können, d. h. sie brauchen ein Prinzip der Auswahl,  mit Rücksicht auf das sie im gegebenen Stoff, wie man sich ausdrückt, das Wesentliche  vom  Unwesentlichen  scheiden. Dieses Prinzip trägt dem Inhalt der Wirklichkeit gegenüber einen  formalen  Charakter und so wird der Begriff der wissenschaftlichen "Form" klar. Nur im  Inbegriff des Wesentlichen,  nicht in einem Abbild des Inhalts der Wirklichkeit haben wir die Erkenntnis nach der formalen Seite hin. Diesen Inbegriff, den wir mit Hilfe des formalen Prinzips aus der Wirklichkeit  herauslösen,  können wir auch das "Wesen" der Dinge nennen, falls das Wort überhaupt einen für die empirischen Wissenschaften bedeutsamen Sinn bekommen soll. Das Wesen läßt sich  wissenschaftlich  niemals "schauen" oder "intuitiv" erfassen, sondern ist lediglich dem "diskursiven" Denken oder einer begrifflichen "Konstruktion" zugänglich. (15)

Verhält sich dies aber so, dann wird die Methodenlehre die Aufgabe haben, die bei der begrifflichen Wesensbildung maßgebenden  Gesichtspunkte,  von denen der Mann der Einzelwissenschaft, oft ohne es zu wissen, bei einer Darstellung abhängt, ihrem  formalen  Charakter nach zu ausdrücklichem Bewußtsein zu bringen und auf das Ergebnis dieser Untersuchung kommt für uns hier alles an. Denn von der Art, wie Einschnitte in den Fluß der Wirklichkeit gemacht und die  wesentlichen  Bestandteil  ausgewählt  werden, ist offenbar der Charakter der wissenschaftlichen Methode abhängig, und die Entscheidung der Frage, ob zwischen zwei Gruppen von Einzelwissenschaften, die das Wirkliche darstellen, auch mit Rücksicht auf ihre  Methode  prinzipielle Unterschiede bestehen, fällt dann mit der Entscheidung darüber zusammen, ob es zwei auch in ihrem allgemeinsten formalen Charakter voneinander prinzipiell verschiedene  Gesichtspunkte  gibt, nach denen die Einzelwissenschaften in der Wirklichkeit das Wesentliche vom Unwesentlichen absondern und so den anschaulichen Inhalt der Wirklichkeit in die Form des  Begriffs  bringen.

Nur ein Wort sei noch, ehe wir diese Frage zu beantworten suchen, über die Verwendung des Ausdrucks "Begriff" hinzugefügt. Wir verstehen hier, unserer Problemstellung entsprechend, darunter Produkte der Wissenschaft, und dagegen werden sich keine Bedenken erheben lassen. Zugleich nennen wir jedoch auch den Inbegriff  all  dessen, was die Wissenschaft von einer Wirklichkeit in sich aufnimmt, um sie zu begreifen, den "Begriff" dieser Wirklichkeit, so daß wir also zwischen dem Inhalt einer wissenschaftlichen  Darstellung  überhaupt und dem Inhalt des  Begriffs  keinen Unterschied machen, und das kann man als Willkür bezeichnen.

Diese Willkür wäre aber nur dann ungerechtfertigt, wenn es hier eine  feste Tradition  in der Terminologie gäbe. Sie fehlt bekanntlich gerade mi Rücksicht auf das Wort  Begriff  vollkommen. Man verwendet den Ausdruck sowohl für die "letzten", d. h. nicht weiter auflösbaren "Elemente" der wissenschaftlichen Urteile, als auch für höchst komplizierte Gebilde, in denen viele solche Elemente zusammengestellt sind. Das undefinierbare "Blau" oder "Süß", das Inhalte der unmittelbaren Wahrnehmung bedeutet, wird als Begriff bezeichnet, und ebenso spricht man vom Begriff der Gravitation, der mit dem Gravitationsgesetz identisch ist. Wir wollen hier, weil dieser Unterschied für die Methodenlehre wichtig ist, die "einfachen" Begriffe, die man nicht definieren kann, als Begriffselemente von den eigentlichen wissenschaftlichen Begriffen trennen, die  Komplexe  solcher Elemente sind und erst durch die wissenschaftliche Arbeit entstehen. Dann läßt sich eine prinzipielle Grenze zwischen "Begriff" und "Darstellung mit Begriffen" offenbar nicht mehr ziehen und dann ist es also nur konsequent und gar nicht willkürlich, wenn wir auch den  Begriffskomplex,  der die wissenschaftliche Erkenntnis einer Wirklichkeit enthält, als "Begriff" dieser Wirklichkeit bezeichnen. Wir brauchen durchaus einen  gemeinsamen  Terminus für  alle  die Gebilde, die das enthalten, was die  Wissenschaft  aus der anschaulichen Wirklichkeit in ihre Gedanken aufnimmt, und um diesen Gegensatz des Inhalts jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zum Inhalt der unmittelbaren Anschauung zu bezeichnen, ist gerade das Wort "Begriff" sehr geeignet.

Wissenschaftliche Begriffe können also entweder Komplexe von nicht definierbaren Begriffselementen oder auch Komplexe von definierten wissenschaftlichen Begriffen sein, die im Vergleich zu den komplizierten Begriff, den sie bilden, dann als dessen Elemente zu gelten haben. Das formale Prinzip der Begriffsbildung für ein Objekt, das erkannt werden soll, kommt unter dieser Voraussetzung nur in der  Art  der Zusammenstellung der Begriffselemente zu dem Begriff des betreffenden Objekts zum Ausdruck, nicht schon in den Begriffselementen selbst, und dieses Prinzip muß mit dem der wissenschaftlichen  Darstellung  dieses Objektes zusammenfallen. So allein gewinnen wir eine Problemstellung, welche eine  Vergleichung  der verschiedenen Methoden mit Rücksicht auf ihre formale Struktur ermöglicht. In der  Begriffsbildung,  durch welche die Wirklichkeit in die Wissenschaft aufgenommen wird, muß der für die Methode der Wissenschaft maßgebende formale Charakter stecken, und daher haben wir, um die Methode einer Wissenschaft zu verstehen, die Prinzipien ihrer Begriffsbildung kennen zu lernen. So ist unsere Terminologie verständlich und zugleich auch gerechtfertigt. Wenn Erkennen soviel wie Begreifen ist, dann steckt das Ergebnis der Erkenntnis im Begriff.

Hiermit sind wohl die Bedenken erledigt, die man gegen meine Verwendung des Ausdrucks "Begriff" erhoben hat. (16) Daß es sich um mehr als eine terminologische Frage handelt, ist nicht zutreffend. Unter Begriffsbildung ist stets die Zusammenfügung von Elementen zu verstehen, gleichviel, ob diese Elemente selbst schon Begriffe sind oder nicht. Nur die Prinzipien  dieser  Begriffsbildung gilt es, aufzuzeigen, denn darin allein, nicht in den als "Elementen" verwendeten Begriffen,  können  die wesentlichen logischen Unterschiede der empirischen Wissenschaften von der realen Welt zutage treten. Will man die Verwendung von Begriffen zur Bildung neuer Begriffe "Darstellung" nennen und daher nur Unterschiede in der "Methode", aber nicht in der "Begriffsbildung" zugeben, dann darf man vom "Begriff" der Gravitation ebensowenig reden wie vom "Begriff" der italienischen Renaissance. Hier jedenfalls kommt es nur darauf an, welches Prinzip die Bestandteile oder Elemente eines wissenschaftlichen Begriffes zusammenschließt.


    Anmerkungen 
    1) Diesen Weg habe ich eingeschlagen in meinem Buch: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 1896 - 1902, 3. und 4. Auflage 1921. Vgl. ferner meine Abhandlung: Geschichtsphilosophie in: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, 1905, 3. Auflage als besonders gedrucktes Buch unter dem Titel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, 1924. Ich möchte betonen, daß auch diese Schriften nicht beabsichtigen, ein  vollständiges  System der Wissenschaften zu entwickeln und daß daher alle Einwände gegenstandslos sind, die darauf hinauskommen, daß diese oder jene Disziplin bei mir keinen Platz fände. Ein  System  der Wissenschaftslehre habe ich bisher nicht publiziert.
    ...

    11) In meinem Buch über: Die Grenzen usw. 3. und 4. Auflage, Seite 24f, habe ich diesen zuerst vielleicht etwas paradox erscheinenden Gedanken ausführlich zu begründen versucht.
    12) Ich bemerke ausdrücklich, daß ich nicht von einer "Unendlichkeit" des Wirklichen rede, denn man könnte sagen, daß damit schon eine begriffliche Umformung des Unmittelbaren vollzogen werde. Es kommt nur darauf an, die faktische  Unübersehbarkeit  der unmittelbar gegebenen Realität zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen und die Gründe zu zeigen, auf denen sie beruth. Selbstverständlich kann auch das nur mit Hilfe von  Begriffen  geschehen, denn ohne sie läßt sich überhaupt nichts aussagen, was verständlich ist. Aber die Begriffe sollen hier nur Begriffe vom  Unbegreiflichen  sein, d. h. klarstellen, was nie begriffen werden kann. Deshalb darf man nicht meinen, dadurch, daß wir einen  Begriff  vom Wirklichen als dem heterogenen Kontinuum bilden können, zeige sich ja seine Erkennbarkeit und es habe also keinen Sinn mehr, vom Wirklichen als Unerkennbarem zu reden. Die Einzelwissenschaften erstreben eine Erkenntnis des  Inhalts  der wirklichen Welt und über diesen Inhalt sagt uns der formale Begriff des heterogenen Kontinuums nichts anderes, als daß er uns seine Unerschöpflichkeit zum Bewußtsein bringt. So bleibt gerade nach Bildung dieses formalen Begriffs das Wirkliche für die Einzelwissenschaften das inhaltlich Unbegreifliche oder die Grenze ihrer auf den Inhalt gerichteten Begriffsbildung. Damit sind wohl die Einwände erledigt, die KURT STERNBERG, Zur Logik der Geschichtswissenschaft, 1914, Seite 45, gegen mich vorgebracht hat.
    13) Vgl. hierzu meine Abhandlung: Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs, 1911, Logos, Bd. 2, Seite 26f. In zweiter, umgearbeiteter Auflage ist diese Schrift als erstes Heft der "Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte" 1924 erschienen.
    14) Daß auch das eine Täuschung ist, werden wir später sehen.
    15) Die Unentbehrlichkeit der Anschauung bei der Gewinnung des  Materials  der Erkenntnis wird damit selbstverständlich in keiner Weise in Frage gestellt.
    16) Vgl. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER, Einige Bemerkungen zu Rickerts Geschichtslogik, Philosophische Wochenschrift und Literaturzeitung, 1907, Bd. 8

aus Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1926


Nota.

- Dies sei doch angemerkt: Dass die Natur "keine Sprünge" mache, ist ein Ammenmärchen, aber nicht einmal ein sehr altes, denn in dieser Formulierung stammt es erst von Leibniz (geht aber als Vorstellung wohl bis auf die 2. Stoa zurück). Es kann auch gar nicht sehr alt sein - "die Natur" ist als wissenschaft- licher Begriff naturgemäß ein Kind der Neuzeit - und bei der Stoa ging es ebenso naturgemäß nicht um "die Natur", sondern um den kosmos, und das ist nicht dasselbe. - Tatsächlich macht die Natur, je tiefer man blickt, nämlich auf der Ebene der Teilchen, kaum etwas anderes als Sprünge, und man kann daher sagen, dass sie auf Sprüngen beruht.

- Es scheint im Übrigen, als habe Rickert die Hauptleistung seines Lehrers Windelband nicht wirklich zu schätzen gewusst. Seine - für sich selber genommen durchaus scharfsinnige - Unterscheidung von homogen, heretogen, stetig und diskret scheint die (größere) Unterscheidung zwischen nomothetisch und idiogra- phisch unterlaufen zu sollen und den Begriffen der pp. Kulturwissenschaften den Rang naturwissenschaft- licher Exaktheit doch noch irgendwie anhexen zu wollen. Das liegt wohl daran, dass er den Begriff am Ende nicht ganz so streng nominalistisch auffassen konnte wie Fichte, dem er ansonsten nahestand.
JE




Mittwoch, 24. September 2014

Das Einfache.



6 Der Taschenspieler und sein Widerspiel.— Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die "einfachsten" Dinge sind sehr complicirt,—man kann sich nicht genug darüber verwundern!
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Fr. Nietzsche, Morgenröte, Buch 1, 1881 





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Dienstag, 23. September 2014

Wilhelm Windelband: Nomothetisch und idiographisch - Straßburger Rektoratsrede.



Geschichte und Naturwissenschaft.

von Wilhelm Windelband

Rede zum Antritt des Rektorats
der Kaiser-Wilhelms-Universität Starßburg
gehalten am 1. Mai 1894



Hochansehnliche Versammlung!

Es ist ein wertvolles Vorrecht des Rektors, dass er am Stifungsfeste der Universität das Ohr ihrer Gäste und ihrer Mitglieder für einen Gegenstand aus dem Umkreise der von ihm vertretenen Wissenschaft in Anspruch nehmen darf: die Pflicht aber, welche diesem Recht entspricht, verwickelt den Philosophen in ganz besondere Bedenken. Freilich ist es für ihn verhältnismässig leicht ein Thema zu finden, das mit Sicherheit auf allgemeines Interesse rechnen kann. Aber dieser Vorteil wird bedeutend durch die Schwierigkeiten überwogen, welche die Eigenart der philosophischen Untersuchungsweise mit sich bringt. Alle wissenschaftliche Arbeit ist darauf gerichtet, ihren besonderen Gegenstand in einen weiteren Kreis zu rücken und die einzelne Frage aus allgemeineren Gesichtspunkten zu entscheiden. Soweit steht es mit der Philosophie nicht anders als mit den übrigen Wissenschaften: aber während die letzeren mit einer für die Spezialforschung genügenden Zuverlässigkeit solche Prinzipien als fest und gegeben behandeln dürfen, ist es für die Philosophie wesentlich, dass ihr eigentliches Untersuchungsobjekt eben die Prinzipien selbst sind, dass sie also ihre Entscheidungen nicht aus einem Allgemeineren ableiten kann sondern jedesmal im Allgemeinsten selber zu bestimmen hat. Für die Philosophie gibt es streng genommen überhaupt keine Spezialuntersuchung; jedes ihre Sonderprobleme dehnt seine Linien von selbst in die höchsten und letzten Fragen aus. Wer über philosophische Dinge philosophisch reden will, muss allemal den Mut haben, im ganzen Stellung zu nehmen, und er muss auch den schwerer zu bewahrenden Mut haben, seine Zuhörer auf das hohe Meer allgemeinster Überlegungen hinauszuführen, wo dem Auge wie dem Fuss das feste Land zu entschwinden droht.

   Durch solche Bedenken könnte der Vertreter der Philosophie sich wohl ersucht finden, entweder nur ein historisches Bild aus seiner Wissenschaft zu zeichnen oder seine Zuflucht zu der besonderen Erfahrungswissenschaft zu nehmen, die ihm nach den noch bestehenden akademischen Einrichtungen und Gewöhnungen ebenfalls obzuliegen pflegt, - der Psychologie. Bietet doch auch sie eine Fülle von Gegenständen, die jeden angehen und deren Behandlung um so sicherer Ausbeute verspricht, je mannigfaltiger die methodischen und sachlichen Gesichtspunkte sind, welche die lebhafte Bewegung dieser Disziplin in den letzten Jahrzehnten hat zutage treten lassen. Ich verzichte auf beide Auswege: ich möchte weder der Meinung Vorschub leisten, dass es nicht mehr Philosophie sondern nur deren Geschichte gebe, - noch der anderen, als könne die Philosophie, wie sie Kant neu begründet hat, jemals wieder in den engen Rahmen derjenigen Spezialwissenschaft zusammenschrumpfen, deren Erkenntniswert er selbst unter den theoretischen Disziplinen am geringsten veranschlagte. Vielmehr erscheint es mir bei einer Gelegenheit wie der heutigen als Pflicht, dafür Zeugnis abzulegen, dass die Philosophie auch in ihrer jetzigen Form, wo sie alle metaphysische Begehrlichkeit abgelegt hat, sich jenen grossen Fragen gewachsen fühlt, denen sie, wie den bedeutsamen Inhalt ihrer Geschichte, so auch ihren Wert in der Literatur und ihrer Stellung im akademischen Unterricht verdankt. Und so reizt mich das Wagnis der Aufgabe, jene Triebkraft der philosophischen Untersuchung, wodurch jedes Sonderproblem sich in die letzten Rätsel menschlicher Welt- und Lebensansicht ausweitet, Ihnen an einem Beispiel zu veranschaulichen, und daran die Notwendigkeit aufzuzeigen, mit welcher ein jeder Versuch, das scheinbar klar und einfach Bekannte zu vollem Verständnis zu bringen und schnell und unentfliehbar an die äussersten, von dunklen Geheimnissen umlagerten Grenzen unseres Erkenntnisvermögens drängt.

   Wenn ich zu diesem Zwecke ein Thema aus der Logik, insbesondere aus der Methodologie, der Theorie der Wissenschaft wähle, so geschieht es in der Meinung, dass an einem solchen in besonders deutlicher, greifbarer Weise der innige Zusammenhang hervortreten muss, in welchem die Arbeit der Philosophie mit derjenigen der übrigen Wissenschaften steht. Nicht wissensfremd in eigner erdachter Welt, sondern in reichem Wechselverkehr mit aller lebendigen Wirklichkeitserkenntniss und mit allem Wertgehalte des wirklichen Geisteslebens hat die Philosophie bestanden und besteht sie: wenn ihre Geschichte die der menschlichen Irrthümer gewesen ist, so war der Grund davon der, dass sie guten Glaubens aus den Theorien der besonderen Wissenschaften als fertig und sicher übernahm, was auch in diesen nur höchstens als werdende Wahrheit hätte gelten dürfen. Dieser Lebenszusammenhang zwischen der Philosophie und den übrigen Disciplinen zeigt sich am deutlichsten gerade in der Entwicklung der Logik, welche nie etwas anderes war als die kritische Reflexion auf die vor ihr betätigten Formen des wirklichen Erkennens. Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstracter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am einzelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntnisswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen. Woher - um gleich das vornehmste Beispiel heranzuziehen - hat die moderne Logik, der griechischen Mutter gegenüber, die gereifte Vorstellung vom Wesen der Induction? Nicht aus der programmatischen Emphase, mit der sie Bacon empfohlen und scholastisch beschrieben hat, sondern aus der Reflexion auf die tatkräftige Anwendung, welche diese Denkform in der Einzelarbeit der Naturforschung, von Sonderproblem zu Sonderproblem sich verfeinernd und steigernd, seit den Tagen Kepler's und Galilei's bewährt hat.

   Auf denselben Zusammenhängen aber beruhen selbstverständlich auch die der neueren Logik eigentümlichen Versuche, in dem zu so bunter Mannigfaltigkeit ausgewachsenen Reiche des menschlichen Wissens begrifflich bestimmte Linien zur Grenzabsonderung der einzelnen Provinzen zu ziehen. Die wechselnde Vorherrschaft, welche in den wissenschaftlichen Interessen der neueren Zeit Philologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Psychologie, Geschichte ausgeübt haben, spiegele sich in den verschiedenen Entwürfen zum «System der Wissenschaften», wie man früher sagte, zur «Klassifikation der Wissenschaften», wie es heute genannt wird. Viel wurde dabei durch die universalistische Tendenz gefehlt, welche, mit Verkennung der Autonomie der einzelnen Wissensgebiete, alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte, sodass für die Gliederung der Wissenschaften nur noch sachliche, das hiess metaphysische Gesichtspunkte übrig blieben. So haben nach einander die mechanistische, die geometrische, die psychologische, die dlalektische, in neuester Zeit die entwicklungsgeschichtliche Methode den Anspruch erhoben, von den engeren Feldern ihrer ursprünglichen fruchtbaren Anwendung ihre Herrschaft möglichst über den ganzen Umfang der menschlichen Erkenntniss zu erweitern. Je grösser der Widerstreit dieser verschiedenen Bestrebungen erscheint, um so mehr erwächst für die Besonnenheit der logischen Theorie die weitausschauende Aufgabe, eine gerechte Abwägung jener Ansprüche und eine ausgleichende Scheidung ihrer Geltungsbereiche durch die allgemeinen Bestimmungen der Erkenntnisslehre zu gewinnen. Die Aussichten dafür stehen nicht ungünstig. Durch Kant ist die methodische Auseinandersetzung der Philosophie mit der Mathematik und im Princip auch mit der Psychologie vollzogen worden. Seitdem hat das neunzehnte Jahrhundert bei einer gewissen Erlahmung des anfangs überreizten philosophischen Triebes eine um so buntere Mannigfaltigkeit von Bestrebungen und Bewegungen in den besonderen Wissenschaften erlebt: in der Bewältigung zahlreicher neuer und neuartiger Probleme ist der methodische Apparat nach allen Seiten hin verändert und in nie vorher dagewesenem Masse zugleich verbreitert und verfeinert worden. Dabei haben sich die verschiedenen Verfahrungsweisen vielfach ineinander verästelt, und wenn dann doch jede einzelne für sich eine herrschende Stellung in der allgemeinen Welt- und Lebensansicht unserer Tage verlangt, so erwachsen gerade daraus der theoretischen Philosophie neue Fragen: und solche sind es, für welche ich, ohne sie irgendwie erschöpfen zu wollen, Ihr Interesse in Anspruch zu nehmen wünsche.

   Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Einteilungen wie ich sie hier im Auge habe, sich nicht mit der Gliederung decken können, welche die Wissenschaften in der Abgrenzung der Fakultäten finden. Diese ist aus den praktischen Aufgaben der Universitäten und deren geschichtlicher Entwickelung hervorgegangen. Dabei hat der praktische Zweck häufig vereinigt, was in rein theoretischer Hinsicht zu trennen, und auseinandergerissen, was sonst eng zu verbinden wäre: und dasselbe Motiv hat die eigentlich scientifischen mit praktischen und technischen Disciplinen mehrfach verschmolzen. Doch meine man nicht, dass dies alles zum Schaden der wissenschaftlichen Tätigkeit gewesen wäre: vielmehr haben die praktischen Beziehungen auch hier den Erfolg gehabt, eine reichere und lebendigere Wechselwirkung. zwischen den verschiedenen Arbeitsgebieten hervorzurufen, als es vielleicht bei den abstracteren Zusammenfassungen des Gleichartigen, wie sie in den Akademien vorliegen, der Fall gewesen wäre. Gleichwohl zeigen die Verschiebungen, welche die Fakultätsordnungen der deutschen Universitäten, insbesondere hinsichtlich der ehemaligen facultas artium in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, eine gewisse Neigung den methodischen Motiven der Gliederung grössere Bedeutung einzuräumen.

   Geht man diesen Motiven mit nur theoretischem Interesse nach, so darf zunächst als giltig vorausgesetzt werden, dass wir die Philosophie und doch wohl noch immer auch die Mathematik den Erfahrungswissenschaften gegenüberstellen. Die beiden ersteren mögen unter dem alten Namen der «rationalen» Wissenschaften zusammengefasst werden, wenn auch in sehr verschiedener und hier nicht näher zu erörternder Bedeutung des Wortes. Es genügt für jetzt, ihre Gemeinsamkeit in der negativen Form auszusprechen, dass sie selbst nicht unmittelbar auf die Erkenntniss von etwas in der Erfahrung Gegebenen gerichtet sind, wenn auch die von ihnen gewonnenen Einsichten in anderen Wissenschaften für diesen Zweck verwendet werden können und sollen. Diesem gegenständlichen Momente entspricht auf der formalen Seite die logische Gemeinschaft, dass beide - Philosophie wie Mathematik - ihre Behauptungen niemals auf einzelne Wahrnehmungen oder auf Massen von Wahrnehmungen stützen, so sehr auch der tatsächliche, psychogenetische Anlass für ihre Untersuchungen und Entdeckungen in empirischen Motiven liegen mag. Unter Erfahrungswissenschaften dagegen verstehen wir diejenigen, deren Aufgabe es ist, eine irgendwie gegebene und der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit zu erkennen: ihr formales Merkmal besteht somit darin, dass sie zur Begründung ihrer Resultate neben den allgemeinen axiomatischen Voraussetzungen und der für alles Erkennen gleichmässig erforderlichen Richtigkeit des normalen Denkens durchweg einer Feststellung von Tatsachen durch Wahrnehmung bedürfen.

   Für die Einteilung dieser auf die Erkenntniss des Wirklichen gerichteten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich. Natur und Geist - das ist ein sachlicher Gegensatz, der in den Ausgängen des antiken und den Anfängen des mittelalterlichen Denkens zu beherrschender Stellung gelangt und in der neueren Metaphysik von Descartes und Spinoza bis zu Schelling und Hegel mit voller Schroffheit aufrecht erhalten worden ist. Sofern ich die Stimmungen der neuesten Philosophie und die Nachwirkungen der erkenntnisstheoretischen Kritik richtig beurteile, so würde diese in der allgemeinen Vorstellungs- und Ausdrucksweise haften gebliebene Scheidung jetzt nicht mehr als so sicher und selbstverständlich anerkannt werden, dass sie unbesehen zur Grundlage einer Klassifikation gemacht werden dürfte. Dazu kommt, dass dieser Gegensatz der Objekte sich nicht mit einem solchen der Erkenntnissweisen deckt. Denn, wenn Locke den cartesianischen Dualismus auf die subjektive Formel brachte, äussere und innere Wahrnehmung - sensation und reflection - als die beiden gesonderten Organe für die Erkenntniss einerseits der körperlichen Aussenwelt, der Natur, andererseits der inneren Geisteswelt einander gegenüberzustellen, so hat wiederum die Erkenntnisskritik der neuesten Zeit diese Auffassung mehr als je in's Schwanken gebracht und die Berechtigung zur Annahme einer «inneren Wahrnehmung» als besonderer Erkenntnissart wenigstens stark in Zweifel gezogen. Auch würde weiterhin keineswegs zugegeben werden, dass die Tatsachen der sogenannten Geisteswissenschaften lediglich durch innere Wahrnehmung begründet wären. Vor allem aber zeigt sich die Incongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungsprinzips darin, dass zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine empirische Disciplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisiren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften. Daher sie denn es sich hat gefallen lassen müssen, gelegentlich als die «Naturwissenschaft des inneren Sinnes» oder gar als «geistige Naturwissenschaft» bezeichnet zu werden.

   Eine Einteilung, welche solche Schwierigkeiten aufweist, hat keinen systematischen Bestand: indessen bedarf sie vielleicht, um ihn zu gewinnen, nur geringer Veränderungen der Begriffsbestimmung. Worin besteht denn die methodische Verwandtschaft der Psychologie mit den Naturwissenschaften? Offenbar darin, dass jene wie diese ihre Tatsachen feststellt, sammelt und verarbeitet nur unter dem Gesichtspunkte und zu dem Zwecke, daraus die allgemeine Gesetzmässigkeit zu verstehen, welcher diese Tatsachen unterworfen sind. Dabei bringt es freilich die Verschiedenheit der Gegenstände mit sich, dass die besonderen Methoden zur Feststellung der Tatsachen, die Art und Weise ihrer inductiven Verwertung und die Formel, auf welche die gefundenen Gesetze sich bringen lassen, sehr verschieden sind; und doch ist in dieser Hinsicht der Abstand der Psychologie z. B. von der Chemie kaum grösser, als etwa der der Mechanik von der Biologie: aber - worauf es hier ankommt - alle diese sachlichen Differenzen treten weit zurück hinter der logischen Gleichheit, welche alle diese Disciplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer Erkenntnissziele besitzen: es sind immer Gesetze des Geschehens, welche sie suchen, mag dies Geschehen nun eine Bewegung von Körpern, eine Umwandlung von Stoffen, eine Entfaltung des organischen Lebens oder ein Process des Vorstellens, Fühlens und Wollens sein.

   Demgegenüber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disciplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen. Auch auf dieser Seite sind die Gegenstände und die besonderen Kunstgriffe, wodurch man sich ihrer Auffassung versichert, von äusserster Mannigfaltigkeit. Da handelt es sich etwa um ein einzelnes Ereigniss oder um eine zusammenhangende Reihe von Taten und Geschicken, um das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, um die Eigenart und die Entwickelung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der Litteratur, der Kunst oder der Wissenschaft: und jeder dieser Gegenstände verlangt eine seiner Besonderheit entsprechende Behandlung. Immer aber ist der Erkenntnisszweck der, dass ein Gebilde des Menschenlebens, welches in einmaliger Wirklichkeit sich dargestellt hat, in dieser seiner Tatsächlichkeit reproducirt und verstanden werde. Es ist klar, dass hiermit der ganze Umfang der historischen Disciplinen gemeint ist. Hier haben wir nun eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor uns. Das Einteilungsprincip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnissziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singuläre, assertorische Satz. Und so knüpft sich dieser Unterschied an jenes wichtigste und entscheidende Verhältniss im menschlichen Verstande, das von Sokrates als die Grundbeziehung alles wissenschaftlichen Denkens erkannt wurde: das Verhältniss des Allgemeinen zum Besonderen. Die antike Metaphysik spaltete sich von hier aus, indem Platon das Wirkliche in den unveränderlichen Gattungsbegriffen, Aristoteles dasselbe in den zweckvoll sich entwickelnden Einzelwesen suchte. Die moderne Naturwissenschaft hat uns gelehrt, das Seiende zu definiren durch die dauernden Notwendigkeiten des an ihm stattfindenden Geschehens: sie hat das Naturgesetz an die Stelle der platonischen Idee gesetzt.

   So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntniss des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereignisswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch. Wollen wir uns an die gewohnten Ausdrücke halten, so dürfen wir ferner in diesem Sinne von dem Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Disciplinen reden, vorausgesetzt dass wir in Erinnerung behalten, in diesem methodischen Sinne die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu zählen.

   Überhaupt aber bleibt dabei zu bedenken, dass dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst classificirt. / Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat dass dieselben Gegenstände zum Object einer nomothetisclen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können. Das hängt damit zusammen, dass der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen in gewissem Betracht relativ ist. Was innerhalb sehr grosser Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Giltiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen. So ist eine Sprache in allen ihren einzelnen Anwendungen durch ihre Formgesetze beherrscht, die bei allem Wechsel des Ausdrucks dieselben bleiben: aber andererseits ist diese selbe ganze besondere Sprache mitsammt ihrer ganzen besonderen Formgesetzmäßigkeit doch nur eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im menschlichen Sprachleben überhaupt. Ähnliches gilt für die Physiologie des Leibes, für die Geologie, in gewissem Sinne sogar für die Astronomie; und damit wird das historische Princip auf das Gebiet der Naturwissenschaften hinübergetrieben

   Das klassische Beispiel dafür bildet die Wissenschaft der organischen Natur. Als Systematik ist sie nomothetischen Charakters insofern als sie die innerhalb der paar Jahrtausende bisheriger menschlicher Beobachtung sich stets gleichbleibenden Typen der Lebewesen als deren gesetzmässige Form betrachten darf. Als Entwicklungsgeschichte, wo sie die ganze Reihenfolge der irdischen Organismen als einen im Laufe der Zeit sich allmählich gestaltenden Process der Abstammung oder Umwandlung darstellt, für dessen Wiederholung auf irgend einem andern Weltkörper nicht nur keine Gewähr, sondern nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, - da ist sie eine idiographische, historische Disciplin. Schon Kant nannte, als er den Begriff der modernen Descendenztheorie im voraus entwarf denjenigen welcher sich dieses «Abenteuers der Vernunft» erkühnen würde den zukünftigen «Archäologen der Natur».

   Fragen wir, wie sich zu diesem entscheidenden Gegensatze unter den Specialwissenschaften bisher die logische Theorie verhalten hat, so stossen wir genau auf den Punkt, an welchem diese am meisten reformbedürftig bis auf den heutigen Tag ist. Ihre ganze Entwicklung zeigt die entschiedenste Bevorzugung der nomothetischen Denkformen. Das ist freilich überaus erklärlich. Da alles wissenschaftliche Forschen und Beweisen in der Form des Begriffs von Statten geht, so bleibt für die Logik immer die Untersuchung über Wesen, Begründung und Anwendung des Allgemeinen das nächste und bedeutendste Interesse. Dazu kommt die Wirkung des historischen Verlaufs. Die griechische Philosophie ist aus naturwissenschaftlichen Anfängen, aus der Frage nach der phúsis; d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen hervorgewachsen, und in einem parallelen Verlauf, der auch der causalen Vermittlung durch historische Tradition in der Renaissance nicht entbehrte, ist die moderne Philosophie zu ihrer Selbständigkeit ebenfalls an der Hand der Naturwissenschaft emporgediehen. So konnte es nicht anders sein, als dass die logische Reflexion sich in erster Linie den nomothetischen Denkformen zuwandte und dauernd ihre allgemeinen Theorien von diesen abhängig machte. Dies gilt noch immer. Unsere ganze traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss ist noch immer auf das aristotelische Princip zugeschnitten, nach welchem der generelle Satz im Mittelpunkte der logischen Untersuchung steht. Man braucht nur irgend ein Lehrbuch der Logik aufzuschlagen, um sich zu überzeugen, dass nicht nur die grosse Mehrzahl der Beispiele aus den mathematischen und naturwissenschaftlichen Disciplinen gewählt wird, sondern dass auch solche Logiker, welche vollen Sinn für die Eigenart historischer Forschung zeigen, doch die letzten Richtpunkte ihrer Theorien auf der Seite des nomothetischen Denkens suchen. Es wäre zu wünschen, aber es sind noch sehr wenige Ansätze dazu vorhanden, dass die logische Reflexion der grossen geschichtlichen Wirklichkeit, welche im historischen Denken selbst vorliegt, ebenso gerecht werde, wie sie die Formen der Naturforschung bis in das Einzelne hinein zu begreifen verstanden hat.

   Einstweilen lassen Sie uns das Verhältniss zwischen nomothetischem und idiographischem Wissen etwas näher betrachten. Gemeinsam ist, wie gesagt, der Naturforschung und der Historik der Charakter der Erfahrungswissenschaft: d. h. beide haben zum Ausgangspunkte - logisch gesprochen, zu Prämissen ihrer Beweise - Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung; und auch darin stimmen sie überein, dass die eine so wenig wie die andere sich mit dem begnügen kann, was der naive Mensch so gewöhnlich zu erfahren meint. Beide bedürfen zu ihrer Grundlage einer wissenschaftlich gereinigten, kritisch geschulten und in begrifflicher Arbeit geprüften Erfahrung. In demselben Masse wie man seine Sinne sorgfältig erziehen muss, um die feinen Unterschiede in der Gestaltung nächstverwandter Lebewesen festzustellen, um mit Erfolg durch ein Mikroskop zu sehen, um mit Sicherheit die Gleichzeitigkeit eines Pendelschlages und der Einstellung einer Nadel aufzufassen, - ebenso will es mühsam gelernt sein, die Eigenart einer Handschrift zu bestimmen, den Stil eines Schriftstellers zu beobachten oder den geistigen Horizont und den Interessenkreis einer historischen Quelle zu erfassen. Das eine kann man von Natur meist so unvollkommen wie das andere: und wenn nun die Tradition der wissenschaftlichen Arbeit nach beiden Richtungen eine Fülle feiner und feinster Kunstgriffe hervorgebracht hat, welche der Jünger der Wissenschaft sich praktisch aneignet, so beruht jede solche. Spezialmethode einerseits auf sachlichen Einsichten, die schon gewonnen oder wenigstens hypothetisch angenommen sind, andererseits aber auf logischen Zusammenhängen oft sehr verwickelter Art. Hier ist nun wiederum zu bemerken, dass sich bisher das Interesse der Logik weit mehr der nomothetischen als der idiographischen Tendenz zugewendet hat. Über die methodische Bedeutung von Präcisionsinstrumenten, über die Theorie des Experiments, über die Wahrscheinlichkeitsbestimmung aus mehrfachen Beobachtungen desselben Objekts und ähnliche Fragen liegen eingehende logische Untersuchungen vor: aber die parallelen Probleme der historischen Methodologie haben von Seiten der Philosophie nicht entfernt gleiche Beachtung gefunden. Es hängt dies damit zusammen, dass, wie es in der Natur der Sache liegt und wie die Geschichte bestätigt, sich philosophische und naturwissenschaftliche Begabung und Leistung sehr viel häufiger zusammenfinden, als philosophische und historische. Und doch würde es vom äussersten Interesse für die allgemeine Erkenntnisslehre sein, die logischen Formen herauszuschälen, nach denen sich in der historischen Forschung die gegenseitige Kritik der Wahrnehmungen vollzieht, die «Interpolationsmaximen» der Hypothesen zu formuliren und so auch hier zu bestimmen, welchen Anteil an dem sich in allen seinen Momenten gegenseitig stützenden Gebäude der Welterkenntniss einerseits die Tatsachen und andererseits die allgemeinen Voraussetzungen haben, nach denen wir sie deuten.

   Doch hier kommen schliesslich alle Erfahrungswissenschaften an dem letzten Princip überein, welches in der widerspruchslosen Übereinstimmung aller auf denselben Gegenstand bezüglichen Vorstellungselemente besteht: der Unterschied zwischen Naturforschung und Geschichte beginnt erst da, wo es sich um die erkenntnissmässige Verwertung der Tatsachen handelt. Hier also sehen wir: die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen, in der andern wird es bei der liebevollen Ausprägung des Besonderen festgehalten. Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert, es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflectirt darin nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmässige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an Demjenigen was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen wie der Künstler an Demjenigen was in seiner Phantasie ist. Darin wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen, und die der historischen Disciplinen mit den belles lettres.

   Hieraus folgt, dass in dem naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraction vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur Anschaulichkeit. Diese Behauptung wird nur demjenigen unerwartet kommen, der sich gewöhnt hat, den Begriff der Anschauung in materialistischer Weise auf das psychische Aufnehmen des sinnlich Gegenwärtigen zu beschränken, und der vergessen hat, dass es Anschaulichkeit, d. h. individuelle Lebendigkeit der ideellen Gegenwart für das Auge des Geistes ganz ebenso gibt, wie für das des Leibes. Freilich ist jene materielle Auffassung heutzutage weit verbreitet und sie ist nicht ohne ernste Bedenken. Je mehr man sich gewöhnt, überall wo Vorstellungen erregt werden sollen, möglichst Vieles zum Betasten und Besehen vorzuzeigen, um so mehr setzt man durch das Übermass des receptiven Anschauens die spontane Anschauungsfähigkeit der Gefahr aus, ungeübt zu verkümmern, und dann wundert man sich hinterher, wenn die sinnliche Phantasie träge und leistungsunfähig ist, sobald sie nicht leiblich tasten und sehen kann. Das gilt für die Pädagogik ebenso wie für die Kunst, insbesondere für die dramatische, in der man sich gegenwärtig alle Mühe gibt, die Augen so zu beschäftigen, dass für die innere Anschauung der dichterischen Gestalten nichts mehr übrig bleibt.

   Dass aber die Stärke der Naturforschung nach der Seite der Abstraction, diejenige der Geschichte nach der der Anschaulichkeit liegt, wird noch mehr einleuchten, wenn man ihre Forschungsergebnisse vergleicht. So fein gesponnen auch die begriffliche Arbeit sein mag, deren die historische Kritik beim Verarbeiten der Überlieferung bedarf, ihr letztes Ziel ist doch stets, aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit herauszuarbeiten: und was sie liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichthum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. So reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergessenheit zu neuem Leben erstanden, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Glauben und Gestalten, ihr Ringen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken. Wie anders ist die Welt, welche die Naturforschung vor uns aufbaut! So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen, - ihre Erkenntnissziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulirungen von Gesetzen der Bewegung: sie lässt - echt platonisch - das einzelne Sinnending, das entsteht und vergeht, in wesenlosem Scheine hinter sich und strebt zur Erkenntniss der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbarkeit über alles Geschehen herrschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präparirt sie ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten, - der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgiltig gegen das Vergängliche, wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Bleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung.

   Geht aber so tief der Gegensatz zwischen beiden Arten der Erfahrungswissenschaft, so begreift es sich, weshalb zwischen ihnen der Kampf um den bestimmenden Einfluss auf die allgemeine Welt- und Lebensansicht des Menschen entbrennen muss und entbrannt ist. Es fragt sich: was ist für den Gesammtzweck unserer Erkenntniss wertvoller, das Wissen um die Gesetze oder das um die Ereignisse? das Verständniss des allgemeinen zeitlosen Wesens oder der einzelnen zeitlichen Erscheinungen? Und es ist von vornherein klar, dass diese Frage nur aus einer Besinnung auf die letzten Ziele der wissenschaftlichen Arbeit entschieden werden kann.

   Nur flüchtig streife ich hier die äusserliche Beurteilung nach der Utilität. Vor ihr sind beide Denkrichtungen gleichmässig zu rechtfertigen. Das Wissen allgemeiner Gesetze hat überall den praktischen Wert, die Voraussicht künftiger Zustände und ein zweckmässiges Eingreifen des Menschen in den Lauf der Dinge zu ermöglichen. Das gilt für die Bewegungen der Innenwelt ebenso wie für diejenigen der materiellen Aussenwelt, in der letzteren namentlich gestattet die durch das nomothetische Denken erworbene Kenntniss die Herstellung derjenigen Werkzeuge durch welche die Herrschaft des Menschen über die Natur in stetig zunehmendem Masse erweitert wird. Nicht minder aber ist alle zweckvolle Tätigkeit im gemeinsamen Menschenleben auf die Erfahrungen des historischen Wissens angewiesen. Der Mensch ist, um ein antikes Wort zu variiren, das Thier, welches Geschichte hat. Sein Kulturleben ist ein von Generation zu Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muss das Verständniss seiner Entwicklung haben. Wo dieser Faden einmal abreisst, da muss er - das hat die Geschichte selbst bewiesen - nachher mühsam wieder aufgesucht und angesponnen werden. Sollte dereinst durch irgend ein elementares Ereigniss, sei es in der Aussengestaltung unseres Planeten, sei es in der Innengestaltung der Menschenwelt, die heutige Kultur verschüttet werden - wir können sicher sein, dass die späteren Geschlechter nach ihren Spuren ebenso eifrig graben werden, wie wir nach denen des Altertums. Schon aus diesen Gründen muss die Menschheit ihren grossen historischen Schulsack tragen, und wenn er im Laufe der Zeit immer schwerer und schwerer zu werden droht, so wird es der Zukunft an Mitteln nicht fehlen, ihn vorsichtig und ohne Schaden zu erleichtern.

   Aber nicht solcher Nutzen ist es, wonach wir fragen: hier handelt es sich um den inneren Wissenswert.

   Freilich auch nicht um die persönliche Befriedigung, welche der Forscher an seinem Erkennen lediglich um dessen selbst willen hat. Denn dieser subjektive Genuss des Herauskriegens, des Entdeckens und Feststellens ist schliesslich bei allem Wissen in gleicher Weise vorhanden. Sein Mass wird viel weniger durch die Bedeutung des Gegenstandes, als durch die Schwierigkeit der Untersuchung bestimmt.

   Zweifellos jedoch gibt es daneben objektive und doch rein theoretische Unterschiede im Erkenntnisswert der Gegenstände: ihr Mass aber ist kein anderes als der Grad, in welchem sie zur Gesamterkenntniss beitragen. Das Einzelne bleibt ein Objekt müssiger Kuriosität, wenn es kein Baustein in einem allgemeineren Gefüge zu werden vermag. So ist im wissenschaftlichen Sinne schon «Tatsache» ein teleologischer Begriff. Nicht jedes beliebige Wirkliche ist eine Tatsache für die Wissenschaft, sondern nur das, woraus sie - kurz gesagt - etwas lernen kann. Das gilt vor allem für die Geschichte. Es geschieht gar Vieles, was keine historische Tatsache ist. Dass Goethe im Jahre 1780 sich eine Hausglocke und einen Stubenschlüssel, sowie am 22. Februar ein Billetkästchen hat anfertigen lassen, ist durch eine völlig echt überlieferte Schlosserrechnung urkundlich erwiesen: es ist demnach enorm wahr und gewiss also geschehen, und doch ist es keine historische Tatsache, weder eine litteraturgeschichtliche noch eine biographische. Indessen ist andrerseits zu bedenken, dass es innerhalb gewisser Grenzen unmöglich ist, von vornherein zu entscheiden, ob dem Einzelnen, was sich der Beobachtung oder der Ueberlieferung darbietet, dieser Werth einer «Tatsache» zukommt oder nicht; daher es die Wissenschaft machen muss, wie Goethe im späten Alter: einhamstern, aufspeichern, wessen sie habhaft werden kann, froh des Gedankens, nichts zu verabsäumen von dem, was sie einmal verwenden könnte, und des Vertrauens, dass die Arbeit der kommenden Geschlechter, soweit sie nicht durch die äussern Zufälle der Ueberlieferung beeinträchtigt wird, wie ein grosses Sieb das Brauchbare bewahren und das Nutzlose versinken lassen wird.

   Aber dieser wesentliche Zweck alles Einzelwissens, sich einem grossen Ganzen einzufügen, ist nun keineswegs auf die induktive Unterordnung des Besonderen unter den Gattungsbegriff oder unter das allgemeine Urteil beschränkt: er erfüllt sich ebenso da, wo das einzelne Merkmal sich als bedeutsamer Bestandteil einer lebendigen Gesammtanschauung einordnet. Jenes Haften am Gattungsmässigen ist eine Einseitigkeit des griechischen Denkens, fortgepflanzt von den Eleaten zu Platon, der, wie das wahre Sein so auch die wahre Erkenntniss nur im Allgemeinen fand, und von ihm bis zu unseren Tagen, wo sich Schopenhauer zum Sprecher dieses Vorurtheils gemacht hat, wenn er der Geschichte den Wert echter Wissenschaft absprach, weil sie stets nur das Besondere und nie das Allgemeine erfasse. Wohl ist es richtig, dass der menschliche Verstand Vieles auf einmal nur dadurch vorzustellen vermag, dass er den gemeinsamen Inhalt des zerstreuten Einzelnen auffasst: aber je mehr er dabei zum Begriff und Gesetz strebt, umsomehr muss er das Einzelne als solches hinter sich lassen, vergessen und preisgeben. Wir sehen das da, wo man in spezifisch moderner Weise versucht «aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen», wie es die sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus vorgeschlagen hat. Was bleibt bei einer solchen Induktion von Gesetzen des Volkslebens schliesslich übrig? Es sind ein paar triviale Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigen Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen lassen.

   Dem gegenüber muss daran festgehalten werden, dass sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht. Bedenken wir nur wie schnell sich unser Gefühl abstumpft, sobald sich sein Gegenstand vervielfältigt oder als ein Fall unter tausend gleichartigen erweist. «Sie ist die erste nicht» - heisst es an einer der grausamsten Stellen des Faust. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle. Hierauf beruht Spinoza's Lehre von der Überwindung der Gemüthsbewegungen durch die Erkenntniss: denn für ihn ist Erkenntniss Untertauchen des Besonderen ins Allgemeine, des Einmaligen ins Ewige.

   Wie aber alle lebendige Wertbeurteilung des Menschen an der Einzigkeit des Objekts hängt, das erweist sich vor Allem in unserer Beziehung zu den Persönlichkeiten. Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, dass ein geliebtes, ein verehrtes Wesen auch nur noch einmal ganz ebenso existire? ist es nicht schreckhaft, unausdenkbar, dass von uns selbst mit dieser unserer individuellen Eigenart noch ein zweites Exemplar in der Wirklichkeit vorhanden sein sollte? Daher das Grauenhafte, das Gespenstige in der Vorstellung des Doppelgängers - auch bei noch so grosser zeitlicher Entfernung. Es ist mir immer peinlich gewesen, dass ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihrem Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon, wer weiss wie oft dagewesen sein und, wer weiss wie oft sich noch wiederholen soll - wie entsetzlich der Gedanke, dass ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehasst, gedacht und gewollt haben soll und dass, wenn das grosse Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesammtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Princip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen. Das war die erste grosse und starke Empfindung für das unveräusserliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten.

   Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze, welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disciplinen entlehnen können. Jede Causalerklärung irgend eines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus, und wenn man historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. Wer keine Ahnung davon hätte, wie Menschen überhaupt denken, fühlen und wollen, der würde nicht erst bei der Zusammenfassung der einzelnen Ereignisse zur Erkenntniss von Begebenheiten - er würde schon bei der kritischen Feststellung der Tatsachen scheitern. Freilich ist es dabei sehr merkwürdig, wie nachsichtig im Grunde genommen die Ansprüche der Geschichtswissenschaft an die Psychologie sind. Der notorisch äusserst unvollkommene Grad, bis zu welchem bisher die Gesetze des Seelenlebens haben formulirt werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden: sie haben durch natürliche Menschenkenntniss, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewusst, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen. Das gibt sehr zu denken und lässt es recht zweifelhaft erscheinen, ob die von den Neuesten geplante mathematisch-naturgesetzliche Fassung der elementaren psychischen Vorgänge einen nennenswerthen Ertrag für unser Verständniss des wirklichen Menschenlebens liefern wird.

   Trotz solcher Unzulänglichkeiten der Ausführung im Einzelnen ist hieraus klar, dass in der Gesammterkenntniss, zu welcher sich alle wissenschaftliche Arbeit zuletzt vereinigen soll, diese beiden Momente in ihrer methodischen Sonderstellung neben einander bleiben: den festen Rahmen unseres Weltbildes gibt jene allgemeine Gesetzmässigkeit der Dinge ab, welche, über allen Wechsel erhaben, die ewig gleiche Wesenheit des Wirklichen zum Ausdruck bringt; und innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzelgestaltungen ihrer Gattungserinnerung.

   Diese beiden Momente des menschlichen Wissens lassen sich nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückführen. Wohl legt die Causalerklärung des einzelnen Geschehens mit dessen Reduction auf allgemeine Gesetze den Gedanken nahe, dass es in letzter Instanz möglich sein müsse, aus der allgemeinen Naturgesetzmässigkeit der Dinge auch die historische Sondergestaltung des wirklichen Geschehens zu begreifen. So meinte Leibniz, dass schliesslich alle vérités de fait ihre zureichenden Gründe in den vérités éternelles haben. Aber er vermochte dies nur für das göttliche Denken zu postuliren, nicht für das menschliche auszuführen.

   Man kann sich dies an einem einfachen logischen Schema klar machen. In der Causalbetrachtung nimmt jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an, dessen Obersatz ein Naturgesetz, bezw. eine Anzahl von gesetzlichen Notwendigkeiten, dessen Untersatz eine zeitlich gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen, und dessen Schlusssatz dann das wirkliche einzelne Ereigniss ist. Wie aber logisch der Schlusssatz eben zwei Prämissen voraussetzt, so das Geschehen zwei Arten von Ursachen: einerseits die zeitlose Notwendigkeit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt. Die Ursache einer Explosion ist in der einen - nomothetischen - Bedeutung die Natur der explosiblen Stoffe, die wir als chemisch-physikalische Gesetze aussprechen, in der anderen - idiographischen - Bedeutung eine einzelne Bewegung, ein Funke, eine Erschütterung oder Ähnliches. Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereigniss, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet. So wenig, wie der bei der syllogistischen Subsumtion angefügte Untersatz eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim Geschehen die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten. Vielmehr ist diese Bedingung als ein selbst zeitliches Ereigniss wiederum auf eine andere zeitliche Bedingung zurückzuführcn, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit gefolgt ist: und so fort bis in infinitum. Ein Anfangsglied dieser endlosen Reihe ist begrifflich nicht zu denken; und auch wenn man versucht es vorzustellen, so ist ein solcher Anfangszustand doch immer ein Neues, was zu dem allgemeinen Wesen der Dinge hinzutritt, ohne daraus zu folgen. Spinoza hat dies durch die Unterscheidung der beiden Causalitäten, der unendlichen und der endlichen, ausgedrückt und damit in genialer Einfachheit viele Bedenken unnötig gemacht, mit denen sich neuere Logiker über das «Problem der Vielheit der Ursachen» beunruhigt haben. In der Sprache der heutigen Wissenschaft liesse sich sagen: aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen selbst. Aus keiner «Weltformel» kann die Besonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehörte dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz.

   Da es somit kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt, bis zu welchem die Causalkette der Bedingungen zurückverfolgt werden könnte, so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nicht, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinirbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies Unfasshare erscheint vor unserem Bewusstsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen Freiheit.

   Eine Menge metaphysischer Begriffe und Probleme ist an diesem Punkte entsprungen. So unglücklich jene, so verfehlt diese sein mögen: das Motiv bleibt bestehen. Die Gesammtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmässigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondre aus dem Allgemeinen, das «Viele» aus dem «Einen», das «Endliche» aus dem «Unendlichen», das «Dasein» aus dem «Wesen» begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riss, welchen die grossen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben.

   Das sah Leibniz, als er den vérités éternelles ihren Ursprung im göttlichen Verstande, den vérités de fait den ihrigen im göttlichen Willen anwies. Das sah Kant, als er in der glücklichen aber unbegreiflichen Tatsache, dass alles in der Wahrnehmung Gegebene sich unter die Formen des Intellects bringen und danach ordnen und verstehen lässt, eine über unser theoretisches Wissen weit hinausragende Andeutung göttlicher Zweckzusammenhänge fand.

   In der Tat kann über diese Fragen kein Denken mehr Aufschluss geben. Die Philosophie vermag zu zeigen, bis wohin die Erkenntnisskraft der einzelnen Disciplinen reicht; über diese hinaus aber kann sie selbst keine gegenständliche Einsicht mehr gewinnen. Das Gesetz und das Ereigniss bleiben als letzte, incommensurable Grössen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen. Hier ist einer der Grenzpunkte, an denen der wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur noch die Frage stellen kann in dem klaren Bewusstsein, dass er nie im Stande sein wird, sie zu lösen.


        

Quelle:         B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A