Nietzscheana.

Hans Olde

Nietzsche ist nur interessant, sofern er ein kritischer Denker war. Kritisch im Kantschen Sinn: sofern er sich im Vorfeld der Transzendentalphilosophie herumtrieb.

Dabei teilt er insbesondere mit Fichte dies, dass er nicht aus gesetzten Begriffen konstruiert, sondern dass er Vorstellungen hervorruft. In dem Punkt gehen sie beide über Kant hinaus. Der weiß zwar auch, dass Begriffe nicht gegeben sind, sondern gemacht wurden. Dennoch verwendet er seine Begriffe, als ob sie gegeben wären; statt uns zu zeigen, wie und woraus er sie gemacht hat.

Letzteres ist dagegen das Verfahren von Fichte. Der zeigt uns, wie seine Begriffe aus Vorstellungen entstehen, und zwar nicht zufällig und nach Laune, sondern mit Notwendigkeit. Nicht Begriffe werden auseinander ent- wickelt, sondern aus andern Begriffen synthetisiert. Eine Vorstellung kann dagegen nur aus einer vorangegan- genen Vorstellung entwickelt werden, in freier Absicht. Aber nur aus der - das ist notwendig.


Doch genau so macht es Nietzsche nicht. Seine Vorstellungen treten auf wie Blitze in einem Gewitter. Sie mit genetischer Folgerichtigkeit auseinander zu entwickeln, kommt für ihn nicht in Betracht. Dazu bräuchte es ein System, und davor hat er einen unvernünftigen Horror. Und weil alle seine Vorstellungen ohne genetischen Zu- sammenhang frei in der Luft hängen, kommt er zu keinem Ergebnis.

Das hat er bemerkt, und um dem Mangel abzuhelfen, setzt er am Ende aus freier Lust und Laune als nachträg- liches Prinzip den Willen zur Macht obendrauf.

Das wurde erst postum in die Welt getragen, und da hat es seine Philosophie in nachhaltigen Misskredit ge- bracht. Es ist allerdings auch, das muss man einräumen, die schließliche Quintessenz seines Denkens gewesen.



Die einfachsten Dinge.


6 Der Taschenspieler und sein Widerspiel.— Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissen- schaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die "einfachsten" Dinge sind sehr complicirt,—man kann sich nicht genug darüber verwundern!
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Fr. Nietzsche, Morgenröte, Buch 1, 1881




Die Identischen.

Tilman Riemenschneider; Ein Engel Riemenschneider 

Ihr wollt nie mit euch unzufrieden werden, nie an euch leiden – und nennt dies euren moralischen Hang! Nun gut, ein andrer mag es eure Feigheit nennen. Aber eins ist gewiss: Ihr werdet niemals eine Reise um die Welt (die ihr selber seid) machen und in euch selber ein Zufall und eine Scholle auf der Scholle bleiben. Glaubt ihr denn, dass wir Andersgesinnten der reinen Narrheit halber uns der Reise durch die eigenen öden Sümpfe und Eisgebirge aussetzen und Schmerzen und Überdruss an uns freiwillig erwählen, wie die Säulenheiligen?
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Nietzsche, Morgenröte, N° 343




Klarheit und Tiefsinn.


Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, N° 173


  

Fröhlicher Wissenschafter.

Velázquez, Demokrit, der lachende Philosoph

Die Vernunft gebietet, zu allem, was erscheint, einen hinreichenden Grund zu finden; wie könnte ich es sonst vor mir rechtfertigen?

Nur für mein Dasein, vulgo Existenz, gibt es keine Begründung, es ist mir zufällig (vulgo kontingent). Das tra- gische Gemüt verfällt darüber in Unglück und Pathos.

Der Fröhliche Wissenschafter kann sich dagegen ein Lachen nicht verkneifen.
JE
12. 12. 13


[124] Das Leben kein Argument. – Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.
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Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, III. Buch, N° 124


Ein Irrtum lässt sich nicht mit Argumenten, wohl aber vielleicht ästhetisch rechtfertigen. Doch nur, wenn man es will.
JE




Philosophische Neuerer.



Duchamp, Fontaine

200. Original. — Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jeder-mann Gesehene und Uebersehene  wie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus. Der erste Entdecker ist gemeinhin jener ganz gewöhnliche und geistlose Phantast — der Zufall.
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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Band II, 2. Ausgabe. 



Nota. - Das muss man wörtlich nehmen: Nicht ein bisschen anders, "querdedacht" oder "gegen den Strich ge- bürstet", sondern: wie neu. Die größte Neuerung der Denkgeschichte war Kants Kopernikanische Wende. Dass Wissen in Begriffe gefasst ist, hat schon den alten Griechen gedämmert und ist von Plato clare et distincte aus- gesprochen worden. Seither wusste man das und nahm es so hin; nämlich als ob im Begriff die Wahrheit der Sa- che erfasst wäre. Dass es stattdessen um die Wahrhaftigkeit des Begreifenden ginge, war die ganz neue Sicht auf eine ganz alte Frage.
JE




Metaphysische Bescheidenheit.

Ch. Sprague Pearce

Der Mensch, eine kleine, überspannte Tierart, die – glücklicherweise – ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, etwas, das für den Gesamt-Charakter der Erde belanglos bleibt; die Erde selbst, wie jedes Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen, ein Ereignis ohne Plan, Vernunft, Wille, Selbstbewußtsein, die schlimmste Art des Notwendigen, die dumme Notwendig- keit... 

Gegen diese Betrachtung empört sich etwas in uns; die Schlange Eitelkeit redet uns zu »das alles muß falsch sein: denn es empört... Könnte das nicht alles nur Schein sein? Und der Mensch trotz alledem, mit Kant zu reden – –«
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 19
[S. 835f.]     



Nota. - Wenn der Mensch sich überhebt und auf den Standpunkt eines außenstehenden Beobachters stellt, wird er einen Sinn nirgends erkennen und finden, dass er nichts weiß. Sich selbst wird er kleiner als eine Ameise er- scheinen. 

Doch keiner hat ihn geheißen, sich zu überheben. Wissen kann er auch dann nur, was in seiner Vorstellung vor- kommt - doch auch nicht alles: Vieles kommt nur darin vor und sonst nirgends. Er wird unterscheiden wollen, ob seinen Vorstellungen etwas außerhalb derselben entspricht, oder ob sie bloße Einbildungen sind. Das eine vom andern zu unterscheiden wird ihn ganz beanspruchen, und wie dürfte er sich mehr anmaßen? 

Wenn er sich darin eine Weile geübt hat, darf er auch ruhig mal in sich hinein horchen, ob er sich selber vielleicht einen Sinn geben will, wer kann ihm das verwehren?

Als nichtiger Wurm findet sich am Ende nur der wieder, der sich am Anfang überhöht hatte.
JE





Was nützt dem Hasenfuß ein Hammer?


5. Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst – und nicht die Moral – als die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist. In der Tat, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen »Gott«, wenn man will, aber gewiß nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will, der sich, Welten schaffend, von der Not der Fülle und Überfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst.
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Nietzsche, "Versuch einer Selbstkritik" [1886] in: 
Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 17


Nota. - Das ist eine als Moral aufgestellte Ästhetik.* Wie konnte er davon wieder abkommen? Und das ist er. Denn eine Ästhetik, die in den Dienst von irgendwas - das Leben, das Gute und Schöne oder das größte Glück der größten Zahl - gestellt wird, hört auf, eine zu sein. Sie wird Belehrung und Erbauung, oder Agitation und Propaganda: Kitsch in jedem Fall.


*) Die gilt natürlich erst, nachdem die Philosophie ihr kritisches Geschäft erledigt hat.
JE





Moral um der Moral willen.

goldfedervogel

»Die Moral um der Moral willen« – eine wichtige Stufe in ihrer Entnaturalisierung: sie erscheint selbst als letzter Wert. In dieser Phase hat sie die Religion mit sich durchdrungen: im Judentum z. B. Und ebenso gibt es eine Phase, wo sie die Religion wieder von sich abtrennt und wo ihr kein Gott »moralisch« genug ist: dann zieht sie das unpersönliche Ideal vor... Das ist jetzt der Fall. 

»Die Kunst um der Kunst willen«. – das ist ein gleichgefährliches Prinzip: damit bringt man einen falschen Gegen- satz in die Dinge, – es läuft auf eine Realitäts-Verleumdung (»Idealisierung« ins Häßliche) hinaus. Wenn man ein Ideal ablöst vom Wirklichen, so stößt man das Wirkliche hinab, man verarmt es, man verleumdet es. »Das Schöne um des Schönen willen», »das Wahren um des Wahren willen«, »das Gute um des Guten willen« – das sind drei For- men des bösen Blicks für das Wirkliche. – 


Kunst, Erkenntnis, Moral sind Mittel: statt die Absicht auf Steigerung des Lebens in ihnen zu erkennen, hat man sie zu einem Gegensatz des Lebens in Bezug gebracht, zu »Gott«, – gleichsam als Offenbarungen einer höheren Welt, die durch diese hie und da hindurchblickt... 

»Schon und häßlich«, »wahr und falsch«, »gut und böse« – diese Scheidungen und Antagonismen verraten Daseins – und Steigerungsbedingungen, nicht vom Menschen überhaupt, sondern von irgendwelchen festen und dauerhaften Komplexen, welche ihre Widersacher von sich abtrennen. Der Krieg, der damit geschaffen wird, ist das Wesent- liche daran: als Mittel der Absonderung, die die Isolation verstärkt... 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 14 



Nota. - Amoralität um des Übermenschen willen - ist das besser als Moral um der Moral willen? 

Fragt man die Gebildeten nach dem Philosophen des Ich, so werden nur die einen Fichte nennen - die andern aber Nietzsche. Der eine der Hypermoralist, der andere der erste erklärte Immoralist. Doch ist der Gegensaatz so groß nicht, wie er scheint. Wenn der Pastorensohn Nietzsche von Moral spricht, so meint er die gesetzte, ge- satzte Moral der Katecheten, Krämer und Apotheker. Fichte dagegen spricht von Moralität als Haltung

Wenn Nietzsche vom Ich spricht, so meint er ebensowenig wie Fichte das zufällige konkrete Idividuum, son- dern - das Leben in ihm, das er zu steigern habe. Aus dem Götzenkult und dem Glauben an die Obrigkeit will er ihn befreien, indem er ihn einer Chimäre unterwirft, einem Collectivum über ihm. Fichte befreit das Ich, indem er es an sich selbst verweist: an die Stimme seines Gewissens in ihm. Und nicht etwa die Stimme des Gewissens, so als raunte sie quer durch alle Iche zugleich; sondern die seines Gewissens als einem, vor dem allein er sich und das er allein vor sich zu verantworten hat. Das ist kein Ideal, von dem man sich ein Bild machen und vor dem man tanzen kann, sondern einer, der sich nur meldet, wenn man nach ihm lauscht. 

Die Endstufe der Entnaturalisierung? Allerdings. Die Natur und das Leben sind fixe Ideen, die Nietzsche nicht entbehren konnte, weil er sich wohl aus dem Muckertum des D. Luther erheben wollte; an das es doch aber fixiert blieb wie das Kaninchen auf die Schlange. Dass er Atheist sei, hat er laut geprahlt, doch man mag's ihm nicht recht glauben. Dass er kein Atheitst wäre, hat Fichte laut geschimpft, aber keiner wollt es glauben. 
JE



Werte und Zwecke.


Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr ist sehr falsch, verglichen schon für einen sehr viel feineren Sinnenapparat. Aber ihre Verständlichkeit, Übersichtlichkeit, ihre Praktikabilität, ihre Schön- heit beginnt aufzuhören, wenn wir unsre Sinne verfeinern: ebenso hört die Schönheit auf beim Durchdenken von Vorgängen der Geschichte; die Ordnung des Zwecks ist schon eine Illusion. 

Genug, je oberflächlicher und gröber zusammenfassend, um so wertvoller, bestimmter, schöner, bedeutungsvol- ler erscheint die Welt. Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Wertschätzung – die Bedeutungs- losigkeit naht sich! 

Wir haben die Welt, welche Wert hat, geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist – und daß man, mehr als sie, die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat.
 

»Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!« 

Erst bei einer gewissen Stumpfheit des Blickes, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das »Wert- volle« ein: an sich ist es ich weiß nicht was.
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre,
N° 6    



Nota. - Ob er es selber wusste oder nicht: Das ist Ästhetik als Moral.
JE



Tous les genres sont bons, sauf l'ennuyeux.

F. X. Messerschmidt, Gähnen

25. Muth zur Langweiligkeit. — Wer den Muth nicht hat, sich und sein Werk langweilig finden zu lassen, ist gewiss kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder Wissenschaften. — Ein Spötter, der ausnahmweise auch ein Denker wäre, könnte, bei einem Blick auf Welt und Geschichte, hinzufügen: "Gott hat diesen Muth nicht; er hat die Dinge insgesammt zu interessant machen wollen und gemacht." 
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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Band II, 2. Ausgabe


Nota. - Voltaire war ein geistreicher Franzose, Nietzsche ein tiefsinniger Deutscher; soviel über National-charakter. 
JE



Sich taub stellen.

Dürer

331 Lieber taub, als betäubt. — Ehemals wollte man sich einen Ruf machen: das genügt jetzt nicht mehr, da der Markt zu gross geworden ist, — es muss ein Geschrei sein. Die Folge ist, dass auch gute Kehlen sich überschrei- en, und die besten Waaren von heiseren Stimmen ausgeboten werden; ohne Marktschreierei und Heiserkeit giebt es jetzt kein Genie mehr. — Das ist nun freilich ein böses Zeitalter für den Denker: er muss lernen, zwis- chen zwei Lärmen noch seine Stille zu finden, und sich so lange taub stellen, bis er es ist. So lange er diess noch nicht gelernt hat, ist er freilich in Gefahr, vor Ungeduld und Kopfschmerzen zu Grunde zu gehen.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. 4. Buch 1882


Nota I. - Dies als Erläuterung, weshalb auf diesem Blog die Gegenwartsphilosophien überhaupt nicht erwähnt werden.
29. Juli 2014

Nota II. - Letzteres hat sich inzwischen geändert; aber, dem Anlass entsprechend, nur ein bisschen.
JE




Kontingenz der Vernunft.

 
123 Vernunft. – Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn erraten müssen wie ein Rätsel.
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Nietzsche, Morgenröte, 2. Buch


Nota. - Es hat sich in den bürgerlichen Gesellschaften der westlichen Länder eine Verkehrsweise ausgebildet, die wir für vernünftig halten, weil sie auf dem Glauben an die Wirklichkeit der Welt und das Gesetz von Ur- sache und Wirkung beruht. Dass es so ist, ist eine historische Gegebenheit und darum kontingent. Notwen- digkeit gibt es nur in der Logik; alles, was historisch geworden ist, hätte auch anders ausfallen können. 

Die metaphysischen Systeme fassten das physikalische Gesetz von Ursache und Wirkung als den irdischen Nie- derschlag der logischen Notwendigkeit auf. Dem hat die Kant'sche Kritik ein Ende bereitet. Er lokalisierte die Kausalität unter den Kategorien, die unserm Denken apriori zu Grunde lägen. Er ist auf halbem Wege stehen ge- blieben und hat die Herkunft der Kategorien nicht auch erörtert. Das hat Fichtes Wissenschaftslehre unter- nommen und sie ihrerseits in die Tätigkeit des denkenden Subjekts selbst verlegt. Das Denken der Menschen hat sich seine Gesetze selbst gegeben, die Logik beschreibt sie nur. 

Sie sind historische Gegebenheiten. Sind sie also Zufall? Wie man's nimmt. Gegenwärtige Kosmologie be- schreibt das Werden der Welt so, dass man an seine Notwendigkeit kaum glauben mag. Doch so, wie sie mehr oder minder zufällig geworden ist, ist sie die Voraussetzung unseres Lebens und unserer Tätigkeit in ihr: Wir kön- nen nicht woanders sein als in ihr, und wir können in ihr nicht anders als tätig sein. Unsere Tätigkeit mag frei ge- wählten Zwecke dienen; aber ihre Gegenstände kann sie nicht frei wählen. Tätigkeit in ihrer konkretesten Form - der materiellen Produktion - wie in ihrer abstraktesten - dem Denken - ist eine Synthesis der Zwecke und der Gegenstände. Die Zwecke sind das Bestimmende, doch die Gegenstände sind das, was bestimmt werden soll. Und leisten Widerstände, die überwunden werden müssen. Und zwar so, wie sie es bedingen

Ich wüsste nicht, was es da groß zu raten gibt.
JE






 

Der Wille zur Wahrheit und mein Stolz.


Cecil

Denn im Reiche des Denkens sind Macht und Ruf schlecht zu behaupten, die sich auf dem Irrthum oder der Lüge aufbauen: das Gefühl, dass ein solcher Bau irgend einmal zusammenbrechen könne, ist demüthigend für das Selbstbewusstsein seines Baumeisters; er schämt sich der Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, weil er sich selber wichtiger als die übrige Welt nimmt, Nichts thun, was nicht dauernder als die übrige Welt wäre. 

Im Verlangen nach der Wahrheit umarmt er den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit, das heisst: den hochmüthigsten und trotzigsten Gedanken, den es giebt, verschwistert, wie er ist, mit dem Hintergedanken "pereat mundus, dum ego salvus sim!" Sein Werk ist ihm zu seinem ego geworden, er schafft sich selber in’s Unvergängliche, Allem Trotzbietende um. Sein unermesslicher Stolz ist es, der nur die besten, härtesten Steine zum Werke verwenden will, Wahrheiten also oder Das, was er dafür hält. Mit Recht hat man zu allen Zeiten "das Laster des Wissenden" den Hochmuth genannt, — doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster er- bärmlich um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt sein. 

Darin dass wir uns vor unsern eigenen Gedanken, Begriffen, Worten fürchten, dass wir aber auch in ihnen uns selber ehren, ihnen unwillkürlich die Kraft zuschreiben, uns belohnen, verachten, loben und tadeln zu können, darin dass wir also mit ihnen wie mit freien geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren, als Glei- che mit Gleichen — darin hat das seltsame Phänomen seine Wurzel, welches ich "intellectuales Gewissen" ge- nannt habe. — So ist auch hier etwas Moralisches höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht. 
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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Band II, 2. Ausgabe; aus N° 26


Ich und das Absolute.


Den [obigen] Eintrag würde ich so umformulieren wollen:

Vernünftig ist ein freier Wille, der als Maß für sich nichts Geringeres gelten lässt als das Absolute.

Das Absolute ist das Maß der Vernünftigkeit. Vernünftigkeit ist eine Sache der Selbstachtung.

Dagegen sind zwei Einwände möglich: 1) Ein Absolutes gibt es nicht. 2) Der Wille ist nicht frei. Praktisch bedeuten sie beide dasselbe: Es gibt keine Vernunft.
 
26. 11. 15




Das Verlangen nach Gewissheit.


Paul Feyerabend

2 Das intellectuale Gewissen. — Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; ... Ich will sagen: die Allermeisten finden es nicht verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, — die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen "Allermeisten." 

Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das Verlangen nach Gewissheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Noth gilt, — als Das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! 


Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen — das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: — irgend eine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Buch 4. 1882


Nota I. - Das ist kein philosophisches Argument, sondern ein metaphilosophisches Motiv, und lässt sich nicht begründen, sondern muss gerechtfertigt werden.

Nota II. - Hätten Sie von Nietzsche erwartet, dass er aus der Dynamik seiner heroisch-nihilistischen Lebens- philosophie heraus die Notwendigkeit der Kritischen alias Transzendentalphilosophie behauptet? - Ebendas hat er hier getan; und sei es nur der Schönheit halber.
JE

28. 7. 14;




Jeder ein Künstler.


Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch – er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungs- würdig in jeder Kunst der Verstellung –, es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. 

Diese Eitelkeit ist wie ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel nötig hat und vor keinem Selbst- betrug, vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht. (Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben – das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit.) 

Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und das »Dramatische« in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studieren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter. 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 19
[S. 830]  


Nota. - Der Künstler, an den Nietzsche immer zuerst dachte, war Wagner. Der Künstler, der zu seiner Zeit meinte, es sei jeder ein Künstler, war Joseph Beuys.
JE



Eine antimetaphysische Weltbetrachtung.


Eine antimetaphysische Weltbetrachtung – ja, aber eine artistische.
[1048] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)


Nota. - Wittgenstein ist seriöser, das stimmt. Aber das ist nicht in jeder Hinsicht ein Vorteil.
JE




Wissenschaft und Kinderspiel.

L. Sauer

Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wie- derfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben, – die einen zum Wiederfinden, die andern – wir andern! – zum Hineinstecken!
[606]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass. (XII)


Wenn er's nicht erhofft, wird er das Unverhoffte nicht finden. Denn sonst ist's unerforschlich und unzugäng- lich.
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Heraklit, fr. 18 (Diels) 





Gesetzgeber der Zukunft.

 
Gesetzgeber der Zukunft. – Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph« einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte – denn ich fand viele entgegengesetzte Merkmale –, erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen gibt:
 

1. solche, welche irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen wollen;
 

2. solche, welche Gesetzgeber solcher Wertschätzungen sind.
 

Die ersten suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen – sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergan- genen Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.
 

Die zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!« Sie bestimmen erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen, was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: z. B. Plato, als er sich über- redete, das »Gute«, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz, den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern: ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich will« – nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.
 

Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der An- spruch des Gesetzgebers neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe  sei schon gelöst, oder sie sei unlös- bar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zu- meist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten« – und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 7
 



Nota. - Soviel ist ja wahr: Gott ist tot, und die ewigen Werte, die wohl seine Ausscheidungen waren, haben ihn nicht überlebt. Es folgte in der Philosophie eine Zeit der akribischen Sichtung des Angesammelten, seine teils originelle, teils mustergültige Neuordnung, und es endete in einem ratlosen Schwindel vor der Existenz.

Auch da hat er Recht: Nachdem alles Wissbare säuberlich aufgelistet, auf seine Bedingungen geprüft und richtig den vorstellend tätigen Ichen angelastet worden war, konnten die Philosophen nicht länger ihre Zeit vertreiben in der Suche nach dem, was ist; sondern mussten sich zusammenraffen und erkühnen, zu sagen, was sein soll. Material ist die Philosophie abgeschlossen. Bleibt den Philosophen, die trotzdem an der Sache dran- bleiben wollen, nur das Gesetzgeben übrig, und wenn sie sich nicht trauen, sollen sie das Fach wechseln und, sagen wir, Entomologie betreiben.

Was denn, als Gesetzgeber? Doch wohl nicht als Verkünder eine neuen... Moral!

Doch, darauf lief's bei Nietzsche hinaus, und bei Gott, was für einer!

Sein persönliches und intellektuelles Unglück war die Herkunft aus einem lutherischen Pastorenhaushalt. Die hat er nicht verwinden können. Wie anders ist zu erklären, dass er nicht - nicht einmal er - auf den erlösenden Gedanken kam, den der rechtgläubige Lutheraner Herbart fast ein Jahrhundert zuvor gefasst hat: dass nämlich Moral nur als ein Abschnitt der Ästhetik zu begreifen ist?

Dass die Welt nur noch ästhetisch zu rechtfertigen sei, hatte er in jungen Jahren immerhin verstanden.
JE


Nietzsches Überpflanze.


Typus: Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen – welche sich nicht damit erheben will, daß sie gütig ist; – die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 4 

 


Jedes Lebendige greift so weit um sich mit seiner Kraft, als es kann, und unterwirft sich das Schwächere: so hat es seinen Genuß an sich. Die zunehmende »Vermenschlichung« in dieser Tendenz besteht darin, daß immer feiner empfunden wird, wie schwer der andere wirklich einzuverleiben ist: wie die grobe Schädigung zwar unsre Macht über ihn zeigt, zugleich aber seinen Willen uns noch mehr entfremdet – also ihn weniger unterwerfbar macht. 
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ebd. 


Nota. -  Er ist sich gar nicht einig, welche Eigenschaften er in der "Pflanze Mensch" heranzüchten soll, dass sie sich vom Herdenmenschen ab- und zum Übermenschen hinaufhebt. Rücksichtslos und selbstherrlich wie "das Leben" und "die Natur", so käme er sich gern vor. Das macht Skandal im väterlichen Pastorenhaushalt. Doch immer wieder läuft ihm in vornehmer Verschwendung der Artisten-Metaphysiker über den Weg. Der war seine erste Liebe, doch war sie ihm nicht hold: Es fehlte am Reichtum. Also zurück zur Pflanzenmoral. Froh wird er der Unterwerfung alles Schwächeren aber nicht, denn dessen Willen wird er doch nicht Herr.

Wer an sich zweifelt, sollte kein Übermensch werden wollen. Und wer's nicht tut, bringts nur zur wild wuchern- den Überpflanze.



Nietzsches Willen zur Macht.

Linderhof

Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. 

Die Physiker werden die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze« nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des or- ganischen Lebens aus dieser einen Quelle. 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 9
  



Nota. - Von einem An sich will er nichts hören, das ist ihm wie dem Teufel das Weihwasser. Aber er ersetzt es keck durch das In mir. Und das ist schwindelerregend flach. Er macht sein Ich zum An sich und drückt sich nur darum, es auszusprechen. Macht er's nicht heimlich genau wie Fichte? 

Das, worin die Kraft 'sitzt', wovon sie 'ausgeht', was in ihr 'wirkt', ist in der philosophische Tradition Substanz. Ein realistischer Denker meint: Ur-Sache. Der idealistische Denker Fichte war indes strenger Phänomenologe; was man nicht wahrnehmen kann, war für ihn nicht wirklich, sein Ich war stets nur Noumenon, ein reines Ge- dankending, das die Vorstellung dem Phänomen lediglich um der Erklärung willen hinzufügt, das aber, weil es nicht wirklich ist, schon gar nicht wirklich wirkt

Von Fichte hatte Nietzsche sein Ich gar nicht. Er hatte seinen Willen von Schopenhauer. Der wiederum hatte ihn von... Fichte, bei dem er mit wachsendem Widerwillen studiert hatte. Er nannte ihn unverfroren das An sich, und dass Nietzsche es ins Ich rückübersetzt hat, hat eine gewisse Folgerichtigkeit. Nur ist dabei das Wesentliche verlorengegangen: Bei Fichte ist das Ich nicht jedes beliebige Selbst, sondern ein Ich immer nur als Subjekt der Vernünftigkeit (ansonsten möchte es auch Freud'sches Es sein, das ja auch von Schopenhauers Wille stammt).

So kommen wir zu Nietzsche zurück. Eine vitalistische Moral, die den Willen zur Macht metaphorisch versteht als Ausdruckstrieb und Drang zu Selbstermächtigung, wäre wohl sympathischer als das ebenso duckmäuseri- sche wie überhebliche wilhelminische Bildungsphilisterium. Da aber der Wille zur Macht über Andere stets un- überhörbar mitklang, hat sich der Unterschied vor Langemarck und Verdun dann als gar nicht so groß erwie- sen.
JE




Reflektieren ist absehen.

Spiegelung in Baby-Auge

Wir nehmen keine Erscheinungen wahr. Wir nehmen keine Bedeutungen wahr. Wir nehmen Dieses oder Das wahr. Was ist Dies oder Das? Eine Erscheinung, die etwas bedeutet. Könnte sie mir nichts bedeuten, würde sie mir nicht erscheinen.*

Die Unterscheidung geschieht nicht in der Anschauung, sondern in der Reflexion. Wahrnehmung ist das Pro- dukt beider. Die Reflexion rechnet auf eine Bedeutung. Wenn sie keine erkennen kann, fragtsie; sogar, wenn sie döst. Reflexion ist Absicht.

Bis sie in Diesem oder Jenem ein 'Ding' erkennt, hat sie noch tüchtig zu tun.

April 20, 2009

*) Der von Schiller so genannte ästhetische Zustand entsteht bei einem absichtsvollen Absehen von aller Bedeu- tung. Er wird möglich durch Bildung und entstand ursprünglich wohl aus dem Befremden. Er ist ein ge- wünschtes und gesuchtes Befremden.

Nota I. - Absehen auf das eine heißt absehen von allem andern. Reflektieren und Abstrahieren sind dasselbe - jeweils von hinten und vorn.

26. 2. 15


Nota II. - Dies zum gestrigen Eintrag: Reflektieren heißt passend machen. -  Ich habe eine Absicht und ich habe einen Gegenstand. Was zuerst da war, ist egal. Einiges an dem Gegenstand kommt meiner Absicht entgegen, einiges widersteht ihr. Ich achte auf das Günstige, von dem Ungünstigen sehe ich ab. Zuerst in meiner Vor- stellung; dann nehme ich meine Hände und mach das Ding passend. 

Es ist nichts anderes als was Nietzsche sagt; aber es klingt nicht so böse: Logik stammt nicht aus dem Denken selbst, sondern aus der Reflexion auf das Denken. Und ihr einziger Zweck ist das Reflektieren.
JE



Als Gott gestorben war.

 
343 Was es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat. – Das größte neuere Ereignis – daß »Gott tot ist«, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu wer- fen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schau- spiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, »älter« scheinen. 

In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungs- vermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. 

Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abge- ben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?... 

Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hin- gestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für diese Verdüsterung, vor allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn? Stehen wir viel- leicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses – und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte... 

In der Tat, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, daß der »alte Gott tot« ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«.
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Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft V: Wir Furchtlosen


Nota. -  Er hat ja keinen Zweifel daran gelassen: Was ihn am meisten gegen das Christentum aufgebracht hat, war eben "unsre ganze europäische Moral". Dass Gott tot ist, ist ihm eine neue Morgenröte, Licht, Glück, Er- heiterung; denn mit der Moral ist nun Schluss. Nämlich mit der in Sätzen kodifizierten positiven, die lehrt, was du im gegebenen Fall zu tun hast. Sie hat ja nun keinen Bürgen mehr.

Für einen wie Nietzsche war es eine Unmoral, weil sie den Menschen von der Mühe des eigenen Urteils ent- band und zum Gefolgsmann bequemte. Doch nun wäre der Mensch zur Freiheit verurteilt...

Das ist ein weites Feld, aber da traut auch Nietzsche sich nicht hinein, und siehe da, der Philosoph mit dem Hammer entpuppt sich wiedermal als Hasenfuß. Der alte Gott ist tot, der christliche Gott. Zum Lehrer und Vor- ausverkünder und Propheten des neuen Gottes fühlt er sich nicht berufen, auch ihm bleibt nur Entgegensehnen.

Doch zu den Erstlingen und Frühgeburten zählt er sich wohl schon. Es wird nicht lange dauern, da spürt er den Willen zur Macht in sich und manchem andern Auserwählten, und auch das Unterscheiden zwischen Über- menschen und Tschandalas wird er sich zutrauen; wie ein x-beliebiger Schwächling.
JE




Zahl, Raum und Zeit, und Substanz.


Die Zahl. – Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein »Ding«). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. – 

Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen: aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange miteinander; man kann auf ihnen fortbauen – bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. 

Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines »Dinges« oder stofflichen »Substrats«, das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur aber die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von altersher verknotet ist. – 

Wenn Kant sagt »der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor«, so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes ist. – Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.
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Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, I/1, N° 19



Nota. - Hans Vaihinger hat nie verhehlt, dass Nietzsche neben Kant und Darwin die Hauptinspirationsquelle seiner Philosophie des Als-ob gewesen ist.

Nietzsche war ein assoziativer Denker, der auf Systematik keinen Wert legt. Tiefe und eher seichte Gedanken stehen aphoristisch nebeneinander, man mag dem einen, muss aber nicht dem andern beipflichten. Eines zieht sich allerdings durchs ganze Werk, was ihm eine gewisse, zumindest negative Nähe zur Kritischen Philoso- phie verschafft: die kategorische Ablehnung der Substanz.
JE




Alle Philosophie ist Sprachkritik.


Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«, sondern ein Machtver- hältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein«. – Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen...

Die Trennung des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, – der Versuch, das Ge- schehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-gramma- tischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte .
[631] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass  (XII)


Nota. - Er schleicht um das Eingangstor zur kritischen Philosophie herum wie nach ihm Wittgenstein; wie er nur von einem dogmatischen Parti-pris gehindert einzutreten und sich umzusehen: Wittgenstein glaubt inbrün- stig an die mathemtische Logik als reellste der Realitäten, Nietzsche hängt an dem "Prozess ohne Subjekt" (den später der Imposteur Althusser Karl Marx unterschieben wollte); ein Schicksal ohne Schöpfer, der schickt.

Und immer wieder dasselbe? Sollte die schließliche Züchtung des Übermenschen nicht endlich was Neues in die Welt setzen? Oder ist auch er lediglich ein Wendepunkt zu neuer Dekadenz? Das ist nicht seriös, er spielt mit den Einfällen nur rum. Alle Philosophie ist Sprachkritik; na ja. Aber doch nicht Wörterwürfeln. Da ist Wittgenstein schon seriöser.
JE




Vom Sprechen und dem Vergessen.



Der Mensch fragte wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte.
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Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. 
Nietzsche-Werke (ed. Schlechta) Bd. 1, S. 211


Fritz Mauthner meinte, Gedächtnis sei das Wesen der Sprache: Nur durch Sprache sei Erinnern möglich, und Erinnerung sei die Voraussetzung für alles weitere. Ist es also richtig zu sagen, das Tier habe keine Sprache, weil es kein Gedächtnis hat? Ist es nicht eher so, dass das Tier kein Gedächtnis hat, weil ihm dazu die Wörter feh- len?

Die Auflösung ist salomonisch. Sie werden sich wohl mit einander und durch einander ausgebildet haben.




"Es blitzt."


Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen.
[531]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)

Nota. -Ich sehe es blitzen, aber einen Blitz sehe ich nicht; schon gar nicht, wie er leuchtet. Das ist der Unter- schied von Anschauung und Begriff. Der Begriff fasst alles, was geschieht, so auf, als ob etwas ist. Das Hilfsverb sein ist als Begriff die größte Nummer, die wir haben.

Nietzsche fällt auf, dass da ein Problem ist. Doch statt der Sache auf den Grund zu gehen, bleibt er stehen beim Beklagen eines Irrtums. Der Begriff ist aber kein Irrtum. Es ist nur dann ein Irrtum, tätiges Wirken als totes Sein vorzustellen, wenn man zugleich annimmt, aus Begriffen sei die Welt erbaut. 

Das wäre der dogmatische Gebrauch des Begriffs. Reell ist nur, was anschaubar ist, und das ist allein aktuelles Wirken in seinem Verlauf. Doch unverzichtbar wird der Begriff, wenn man tätiges Wirken (und tätig Wirkende) beurteilen will - das macht nicht die Anschauung, dazu bedarfs der Reflexion; und die verlangt nach festen Bezü- gen.

Das war aber gar nicht Nietzsches Problem. Er will vielmehr ein Werden ohne Subjekt. Alles fließt und bleibt sich gleich, weil alles wiederkehrt. Das ist wiederum die Verwandlung von etwas, das ich anschaue, in etwas, das... ist. "Das Werden" ist hier Subjekt - und Begriff! 

Wenn er werden anschaut, schaut er nicht 'das Werden' an. Sondern er handelt; selber! Bei ihm kommen Sinnes- eindrücke an, viele auf einmal, miteinander und nacheinander. Irgend eine Bestimmung, nach der er sie ordnet, muss er selbst hineinbringen; 'sie selber' haben keine. Er sieht es blitzen - wobei das es schon etwas ist, das er nicht sieht, das hat er sich vorgestellt, aber nicht so richtig, es ist eine objektivierende Interpretation, die ihm unterläuft wie ein als Begriff verkleidetes Hilfsverb. 

Das Subjekt steckt als Voraussetzung immer drin. Wenn er es loswerden will, muss er mit dem Anschauen aufhören; mit dem Denken schon gar.

(Der Haken ist, dass N. nicht abstrahieren kann. Unter einem Subjekt kann er immeer nur ein reales verstehen. Das transzendentale Ich ist ihm unbekannt.)
JE



Es gibt kein "Ding" - schon gar nicht an sich.

 
Das »Ding an sich« widersinnig. Wenn ich alle Relationen, alle »Eigenschaften«, alle »Tätigkeiten« eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingiert ist aus logischen Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung (zur Bindung jener Vielheit von Relationen, Eigenschaf- ten, Tätigkeiten).
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 14 


Nota. - Fichte bemerkt, dass es nach Kant nur ein, und nicht mehrere Dinge-an-sich geben könnte: denn mit seinen Qualitäten ist im Ansich auch seine Quidditas hinweggedacht; sein Unterschied zu allem Andern, seine 'Dieselbigkeit'. (Allerdings wäre auch seine Ein/heit nicht 'gesetzt'.)
  
Man erkennt an diesem Punkt, dass Kants Ding-an-sich nicht, wie seit Hegel vermutet, von der platonisch-spinozistischen Idee, sondern aus der Leibniz-aristotelischen Entelechie  herkommt.
JE




Dinge und ihre Qualitäten.


Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding »wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaf- ten, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigen- schaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner Eigenschaften – x – als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz dumm und verrückt ist! 

Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemein- wesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nicht eins ist.
[561] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)


Nota. - Es gäbe keine Prädikate ohne ein Ding, dem sie zukommen? Wohl wahr, aber es gibt kein Ding ohne Prädikate, die ihm zukämen. Das eine wie das andere sind bloße Denkbestimmungen, und nur als solche lassen sie sich scheiden; und unterscheiden. In der Wirklichkeit gibt es weder ein Ding an sich noch eine Qualität an sich.

Nietzsche hat Unrecht, wenn er meint, in Wahrheit gäbe es nur die sinnlichen Qualitäten, ihre Einheit im Ge- genstand sei nur hinzugedacht. Denn diese eine Qualität ist ihnen auch sinnlich gemeinsam: dass sie nicht ich sind; aber alle auf einmal. Bedeutung ist nicht nichts, sondern die Qualität, die Etwas für mich aufweist.
JE



Alles nur Meinung.

verkehren

Was kann allein Erkenntnis sein? – »Auslegung«, Sinn-hineinlegen – nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt kei- nen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.
[604] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII) 


Nota. - Die Aphorismen aus dem Nachlass sind nicht datierbar. Dass der obige früher entstanden ist als der vorangegangene, darf man vermuten, aber sicher ist da nichts. Die betonte Gewissheit jenes Stücks klingt ja ein wenig wie das Pfeifen im Wald, und es könnte wohl sein, dass es nicht N.'s abschließender Gedanke war.
JE



Angst vor der eigenen Courage.


Die Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zu- sammen, wie so oft geglaubt wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.

Was sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug worauf? – Antwort: für das Leben. Aber was ist Leben? Hier tut also eine neue, bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben« not. Meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht.

Was bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es auf eine andere, metaphysische Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte, der vor der großen historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist es entstanden? Oder ist es nicht »ent- standen«? – Antwort: das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen:

Wer legt aus? – Unsre Affekte. 

[254]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII) 


Nota. - Beinahe hätte er den Hasen noch erwischt: "Leben ist auch nur eine Fiktion!" - Da hat er einfach mal nicht richtig aufgepasst, und schon hat er sich eine große Verlegenheit erspart. So fasst er nun 'den Begriff Leben bestimmter': Wille zur Macht! Nachdem er sich um seine Pudenda origo herumgedrückt hat, darf er unbefangen frei hantieren: sich ausdenken, was immer ihm einfällt. Wenn er die Herkunft vertuscht, muss er die Kritik nicht weiter fürchten.

Nietzsche, es ist aber ein Skandal! Da fragst du, wo unsere Wertschätzung "herkommt"? Wie nennen wir doch aber die Fähigkeit, Werte zu schätzen, die mit unser Bequemlichkeit und Selbsterhaltung nicht zu tun haben? Richtig: die ästhetische. Und aus gerechnet Sie, lieber Herr, wollen sie unter "unsere Affekte" zählen?!

Ich kannte mal einen, der auf seine antimetaphysische Weltbetrachtung stolz war: "aber eine artistische"!
JE



Alles nur Interpretation (bis auf eine).

  Kinski

Unsre Werte sind in die Dinge hineininterpretiert. 
Gibt es denn einen Sinn im An-sich?!
Ist nicht notwendig Sinn eben Beziehungs-Sinn und Perspektive?
Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihn auflösen). 
[590]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)


Nota. - Alles nur Konstrukt, sagt der Konstruktivist.
Alles, bis auf den Begriff Konstrukt.
Alles nur Fiktion, sagt Vaihinger - im Dienste des Lebens (alles Fiktion außer dem Leben).
Alles nur in die Dinge reininterpretiert, sagt Nietzsche. Außer dem Willen zur Macht.

Ist das blöd, oder kommts mir nur so vor?
JE






Vernunftwesen und Übermensch.

Hercules Farnese

Ein »Ding an sich« ebenso verkehrt wie ein »Sinn an sich«, eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbe- stand an sich«, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann. 

Das »was ist das?« ist eine Sinn-Setzung von etwas anderem aus gesehen. Die »Essenz«, die »Wesenheit« ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zugrunde liegt immer »was ist das für mich?« (für uns, für alles, was lebt usw.).

Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr »was ist das?« gefragt und beantwortet hätten. Ge- setzt, ein einziges Wesen mit seinen eignen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen fehlte, so ist das Ding immer noch nicht »definiert«.

Kurz: das Wesen eines Dings ist auch nur eine Meinung über das »Ding«. Oder vielmehr: das »es gilt« ist das eigentliche »es ist«, das einzige »das ist«.

Man darf nicht fragen: »wer interpretiert denn?« sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein »Sein«, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt.

Die Entstehung der »Dinge« ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfinden- den. Der Begriff »Ding« selbst ebenso als alle Eigenschaften. – Selbst »das Subjekt« ist ein solches Geschaffe- nes, ein »Ding« wie alle andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu be- zeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst. Also das Vermögen im Unter- schiede von allem Einzelnen bezeichnet: im Grunde das Tun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Tun (Tun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Tuns) zusammengefaßt.
[556] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass  (XII)


Nota. - Und wieder schleicht er um den Eingang zur Transzendentalphilosophie herum. Aber mehr auch nicht. Wenn "alle" ihre - zufälligen? - Meinungen über das Wesen des Dings zu Protokoll gegeben hätten - dann wäre es "definiert"? Nicht ein einziger dürfte fehlen, schiebt er als Einschränkung nach, aber dadurch wird es nicht besser. Denn "alle" ist genauso zufällig wie "alle minus einem".

Nämlich wenn es um empirische Subjekte geht. Doch was die meinen, ist ohnehin zufällig, wie viele sie auch wären. Geltend - 'geltend an sich' - könnte ihre Meinung nur sein, wenn sie selber als nicht zufällig gedacht würden, sondern in irgendeiner Weise als notwendig. Was ist aber das einzig überindividuell und gewissermaßen notwen- dig Geltende an Nietzsches empirischen Subjekten? Ihre Teilhabe am Willen zur Macht. Die geschieht aber im- mer nur als ein Willen zu seiner eignen Macht. Es ist sein Wille zur Übermacht - über die andern. Es ist etwas, was sie trennt, sogar feindlich gegeneinander werden lässt. Welche Art von Notwendigkeit könnte daraus ent- stehen?

Angenommen, zum Schluss bleibt ein einziger Übermensch übrig. Dann aber nicht aus Notwendigkeit, son- dern durch Kampf - Sieg und Niederlage. 'Nicht bloß Zufall, sondern natürliche Auslese', sagt der Darwinist. Da hätte er aber gleich sagen können: Der Stärkere hat Recht. Nietzsche, dafür wären Ihre Abstecher zur kri- tischen (transzendentalen) Philososophie nicht notwendig, sondern ganz überflüssig gewesen.

Notwendig ist an den empirischen Subjekten derjenige Anteil, der sie zu Vernunftwesen macht. Nicht, weil sie vernünftig sein sollen (wer könnte das bestimmt haben?), sondern weil der Mensch der Gegenwart das faktisch von sich voraussetzt: indem er mit Andern verkehrt wie mit seinesgleichen - nämlich solchen, die miteinander vernünftige Zwecke auf venünftige Weise ermitteln und teilen. Vernünftig sind sie nicht überhaupt, sondern ledig- lich in dem Maße, wie sie so verfahren: Das ist das Kriterium. Es ist eine historische Gegebenheit. In logischer Hin- sicht ist sie daher zufällig. Aber für die historischen Subjekte unserer Tage ist sie gegeben. Für ihre Selbstbewusst- heit ist es notwendig.

Je mehr vernünftige Zwecke sie auf diese Weise gemeinsam bestimmen, umso weiter reicht das Reich der Ver- nunft und reicht die Geltung ihrer Bestimmungen.* Sie werden auf diese Weise nie zu einem Schluss kommen? Nein. Wozu auch? Dann bliebe der Vernünftigkeit ja nichts mehr zu tun.

*) Dass es ständig Streit darüber gibt, was vernünftig ist, versteht sich. Aber nicht anders geschieht das Ermit- teln.
JE



Der Wille zur Macht.

westgateevents

Es gibt gar keinen Egoismus, der bei sich stehenbliebe und nicht übergriffe, – es gibt folglich jenen »erlaubten«, »moralisch indifferenten« Egoismus gar nicht, von dem ihr redet.
»Man fördert sein Ich stets auf Kosten des andern«; »Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens« – wer das nicht begreift, hat bei sich auch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit getan.
[369]

Der Wille zur Macht interpretiert (– bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.) 
[643] 

Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vorneh- men. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedin- gungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Gewalten sich unterjochend. 
[856] 

Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Er- höhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Run- dung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine »Wahrheit«. 
[616]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)



Nota. - Berüchtigt ist unter den Nietzsche-Texten vor allem der Nachlass aus den achtziger Jahren, mit dem Mutter und Schwester allerlei Schindluder getrieben haben.

Eigentlich ist er aber der philosophisch tiefere Teil - und zwar gerade durch das Anstößigste daran: den "Willen zur Macht". Endlich hatte er sich dazu durchgerungen, unterm aphoristischen Glitzern nach festerem Stoff zu bohren, doch so ergab sich zwanglos die Erfordernis nach Systematisierung - nämlich die, seine Untersuchun- gen einem verallgemeinernden Zweck zuzuordnen.

'Es ist ja alles Lüge, aber nützliche Fiktion zum Besten des Lebens!' Und dieser blasse Allgemeinplatz sollte allein keine Fiktion sein? Wenigstens emphatisch musste 'das Leben' so überhöht werden, dass es einen bestimm- ten Sinn vorstellen konnte, der all die andern Fiktionen immerhin überstrahlen würde. Was Besseres als der Wille zur Macht ist ihm da nicht eingefallen.


Es ist aber etwas, das man glauben muss - wenn man will; oder einfach ignorieren kann. Will sagen, irgendeine Verbindlichkeit, es zu denken, kann es nicht geltend machen. Er ist schlicht und einfach zu Schopenhauers Wil- len zurückgekehrt, aber im Trotz, nein, die Vorstellung war ihm zu schwächlich, zu unehrlich, überall, wo er im Nachlass endlich auf das philosophische Erbe eingeht, stichelt er doch, selbst wenn er "Kant" sagt, gegen den Schopenhauerschen Quietismus, der überall 'das Leben' hinwegsubtilisiert, um bei seinem vorstellenden kleinen Ich traut hinterm Ofen zu liegen.

Da setzt er noch einen obendrauf, macht aus Leben einen Willen zur Macht, welcher, da hat er völlig Recht, nur ein Wille zur Macht über andere sein kann, und hat schließlich herausgebracht, was er bei allen andern moniert: ein absolutes Subjekt. Und damit liegt er nun wirklich schief. 'Absolut' kann schlechterdings kein reales Subjekt sein; das ist eo ipso bedingt. Absolut kann überhaupt nur ein Transzendentales sein: im Denken; es kann als ab- solut gedacht werden (wenn auch nicht so recht).

Und am Schluss bemerkt man: Der ruppige Ton, den er zeitlebens gegen die Schulphilosophen angeschlagen hat, stand ihm gar nicht zu. Er blieb hinter ihnen zurück; daher das Getöse.
JE




Züchtung des Übermenschen.

Tschandala

Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe).
Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion.
Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht. 
»Ernährung« nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht.
Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren. 
Die gestaltende Kraft ist es, die immer neuen »Stoff« (noch mehr »Kraft«) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei.
»Mechanistische Auffassung«: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären.
Der »Zweck«. Auszugehen von der »Sagazität« der Pflanzen.
Begriff der »Vervollkommnung«: nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht (– braucht nicht nur größere Masse zu sein –).
Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtig- sten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweg- lichstes Werkzeug). 

[660]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII) 


Nota. -  Ja, so ist er dann endlich doch noch bei einem System angekommen, bei einem weiß Gott metaphysi- schen. Er verkündet es rein dogmatisch, von kritischem Verstand keine Spur mehr. Als die Nationalsozialisten sich darauf beriefen und es rassistisch interpretiert haben, waren sie ganz in ihrem Recht. Es ist rassistisch, wenn es auch nicht gegen die Juden gerichtet ist, sondern gegen den Tschandala. Der ist minderwertig.
JE



  

...wird passend gemacht.


111 Herkunft des Logischen. – Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiß aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen, gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! 

Wer zum Beispiel das »Gleiche« nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur gerin- gere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang – denn es gibt an sich nichts Gleiches –, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. 

Ebenso mußte, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, – lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche alles »im Flusse« sahen. 

An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu ver- neinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein – außerordentlich stark angezüchtet worden wäre. – 

Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Prozesse und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, N° 111



Nota. - Hans Vaihinger hat neben Kant und Darwin als den dritten Inspirator seiner Philosophie des Als Ob Friedrich Nietzsche genannt. 
JE




Ich kann nichts Bedingtes annehmen, ohne ein Absolutes vorauszusetzen.

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Die größte Fabelei ist die von der Erkenntnis. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind: aber siehe da, es gibt keine Dinge an sich! Gesetzt aber sogar, es gäbe ein An-sich, ein Unbedingtes, so könnte es eben darum nicht erkannt werden! Etwas Unbedingtes kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben nicht un- bedingt! Erkennen ist aber immer »sich irgendwozu in Bedingung setzen« – –; ein solch Erkennender will, daß das, was er erkennen will, ihn nichts angeht und daß dasselbe Etwas überhaupt niemanden nichts angeht: wobei erstlich ein Widerspruch gegeben ist im Erkennen-wollen und dem Verlangen, daß es ihn nichts angehen soll (wozu doch dann Erkennen?), und zweitens, weil etwas, das niemanden nichts angeht, gar nicht ist, also auch gar nicht erkannt werden kann. – 

Erkennen heißt »sich in Bedingung setzen zu etwas«: sich durch etwas bedingt fühlen und ebenso es selbst uns- rerseits bedingen – – es ist also unter allen Umständen ein Feststellen, Bezeichnen, Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, »An-sichs«).
[555] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)


Nota. - Ja, wo er Recht hat, hat er Recht. Nämlich immer, wenn er sich der Pforte zur Transzendentalphilosophie nähert. Aber rein tritt er nie. Wenn etwas unbedingt sein soll, kann ich von ihm nichts wissen. Nicht einmal, ob 'es' sowas 'gibt' oder nicht. Aber wenn etwas gelten soll, muss 'es' Geltung 'geben', egal, was ich unter 'es' und 'geben' verstehe. Und wenn es 'nur bedingte' Geltung geben soll, dann muss es etwas geben, wodurch sie bedingt ist; und das gilt unbedingt.

Ich kann nichts Bedingtes annehmen, ohne ein Absolutes vorauszusetzen. Das wäre eine Fiktion? Allerdings. Logik beruht auf einer Fiktion.

JE



Logik beruht auf einer Fiktion.


Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und ge- schlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchfüh- rung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.
[512]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XI)  


Nota. - Das ist eine seiner treffendsten Bemerkungen. Man muss sie nur aussprechen, und sie leuchtet ein. Das liegt daran, dass es jeder eigentlich schon gewusst hat, doch um nicht als Depp dazustehen, hat er es beiseitege- schoben. Nicht einmal der Physiker in seinem Labor glaubt, dass es zwei identische Fälle gibt. Sonst müsste er ja nicht so akribisch Buch führen über seine Versuchsanordnung. Er will Kontingenz ausschließen. Das setzt vor- aus, dass die verbleibenden Bestimmung des Orts, der Zeit, der experimentierenden Personen usw. behandelt werden, als ob sie unerheblich wären für das, was das Experiment überprüfen soll. Dem das, was gegenüber sind sie gleichgültig, weil sie als gleich gelten.

Diese Fälschung sieht der gesunde Menschenverstand dem Wissenschaftler nach. Denn eigentlich geht es ja darum, dass ein jeder dasselbe Experiment wiederholen und sich vom Ergebnis selbst überzeugen kann.

Nur ist das Leben kein Labor, wir sind nicht alle Physiker, und schon gar nicht rund um die Uhr. Doch Expe- rimente machen wir alle Tage, aber nicht, um Ergebnisse zu überprüfen, sondern um Fakten zu schaffen. Beim Roulette können besonders Begabte die Wahrscheinlichkeiten im Kopf berechnen; aber beim Poker nützt die Logik gar nichts, da wirst du mit Absicht getäuscht.
JE





Verzeichnen und begreifen.


Es liegt auf der Hand, daß weder Dinge an sich miteinander im Verhältnisse von Ursache und Wirkung stehen können noch Erscheinung mit Erscheinung: womit sich ergibt, daß der Begriff »Ursache und Wirkung« inner- halb einer Philosophie, die an Dinge an sich und an Erscheinungen glaubt, nicht anwendbar ist. Die Fehler Kants –

Tatsächlich stammt der Begriff »Ursache und Wirkung«, psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkwei- se, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt, – die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an »Seelen« (und nicht an Dinge). Innerhalb der mechanistischen Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren An- wendung auf Raum und Zeit) reduziert sich jener Begriff auf die mathematische Formel – mit der, wie man im- mer wieder unterstreichen muß, niemals etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet, verzeichnet wird.
[554]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)



Nota. - Das ist fein beobachtet: dass auch das mathematische Weltbild insgeheim den Willen und den Handeln- den impliziert. Denn noch die simpelste mathematische Gleichung vollzieht sich ja nicht von allein. Die Opera- tion setzt einen voraus, der operiert. Das wird durch die dürren Zeichen lediglich verdeckt. Die Mathematik be- schreibt nicht, was ist, sondern was getan werden kann.
JE




Subjekt und Wille.

 
In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetze); und dieser letztere Glaube ist sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube übrig- bleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgendwelchem Subjekte.

Ich bemerke etwas und suche nach einem Grund dafür: das heißt ursprünglich: ich suche nach einer Absicht dar- in und vor allem nach einem, der Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Täter: alles Geschehen ein Tun - ehe- mals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit. 


Hat das Tier sie auch? Ist es, als Lebendiges, nicht auch auf die Interpretation nach sich angewiesen? – Die Fra- ge »warum?« ist immer die Frage nach der causa finalis, nach einem »Wozu?« Von einem »Sinn der causa efficiens« haben wir nichts: hier hat Hume recht, die Gewohnheit (aber nicht nur die des Individuums!) läßt uns erwarten, daß ein gewisser oft beobachteter Vorgang auf den andern folgt: weiter nichts! Was uns die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Kausalität gibt, ist nicht die große Gewohnheit des Hintereinanders von Vorgängen, sondern unsre Unfähigkeit, ein Geschehen anders interpretieren zu können als ein Geschehen aus Absichten. 

Es ist der Glaube an das Lebendige und Denkende als an das einzig Wirkende – an den Willen, die Absicht –, es ist der Glaube, daß alles Geschehen ein Tun sei, daß alles Tun einen Täter voraussetze, es ist der Glaube an das »Subjekt«. Sollte dieser Glaube an den Subjekt- und Prädikat-Begriff nicht eine große Dummheit sein?
 

Frage: ist die Absicht Ursache eines Geschehens? Oder ist auch das Illusion? Ist sie nicht das Geschehen selbst? 
[550] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII) 


Nota. - Er ist Kritiker nur an der Oberfläche. Er denkt arglos unter dogmatischen Voraussetzungen. Er redet von dem, was ist, so, als wüsste er, was das bedeutet. Immerhin fällt ihm auf, dass das anmaßend ist. Doch statt zurückzutreten und einen neuen Anlauf zu nehmen, begnügt er sich mit Mosern. 

Er will sich bloß Schopenhauers Willen vom Hals schaffen, der auf Erden immer ein wirkendes Subjekt vor- aussetzt, und ein solches wäre verantwortlich - seinem Pastor, und das kann N. nicht zugeben.

Doch ein Subjekt "ist" nicht und "hat" keinen Willen. Ein Ich 'setzt sich', indem es sich zu wollen entschließt. Das ist ihm nicht auferlegt von einem, der Rechenschaft fordert, das tut es oder tut es nicht aus Freiheit. Verantwor- ten muss es sich wohl, aber vor sich selbst. Nach welchem Maßstab, muss es aus Freiheit wiederum selber wäh- len. Das ist schon was anderes als sein lutherisches "Subjekt", das alles auf seinen Weg mitbekommen hat und damit als Haushälter "wirken" darf.
JE





Urteil und Wirkung.

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Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?
 

Was sind Prädikate? – Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« – und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. 

Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«; – aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. 

Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen. 
[531]
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)

 

Nota. - Er steht schon im Vorzimmer der kritischen alias Transzendentalphilosophie, aber weil er nicht bloß aphoristisch schreibt, sondern auch denkt, befingert er überall nur die Oberfläche. Dass ihm deutsche Gründ- lichkeit zuwider war, darf man ihm bis heute als Verdienst anrechnen, aber mit deutschem Tiefsinn hat er nur zu gerne koketttiert; indem er nämlich seine Paradoxa als Fragen verkleidete. 

Nein, Fragen ist an sich noch kein Verdienst, sondern nur, wenn ein Wille zur Antwort dabei ist. Doch dann müsste man eben weiter gehen, das kostet Arbeit und Disziplin (auch was Deutsches): das kostet Systematik, und davor graute ihm. Überall witterte er metaphysisches Ansich, und das roch ihm nach lutherischem Pfarrhaus. Dabei ist Systematik gerade in der Kritik vonnöten, sonst verläuft sie sich in alle Richtungen. So bei ihm.
JE  




Einfach so und nicht anders.

Beate Güldner

Die »Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso »Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz« entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. 

Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts.
[632] 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)


Nota. - Da hat er völlig Recht: Wir können es uns nicht anders vorstellen, als ob da ein Allverursacher für Ord- nung sorgte. Denn aus dem Handeln, zum Zweck des Handelns ist unser Vorstellen entstanden. Wenn wir von allem in der Vorstellung abstrahieren können - davon nicht.

Doch indem wir uns das vergiftete Geschenk der Begriffsbildung mit seiner inhärenten dogmatischen Versu- chung beschert haben, haber wir uns damit zugleich die Waffe der Kritik in die Hand gegeben. So wie der Be- griff zum Baustein für metaphysische Türme zu Babel taugt, taugt er auch zum Sezierbesteck der Vernunft.
JE










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