Mittwoch, 26. Dezember 2018

Urteil und Wirkung.

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Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?
 

Was sind Prädikate? – Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« – und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. 

Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«; – aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. 

Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen. 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)

 

Nota. - Er steht schon im Vorzimmer der kritischen alias Transzendentalphilosophie, aber weil er nicht bloß aphoristisch schreibt, sondern auch denkt, befingert er überall nur die Oberfläche. Dass ihm deutsche Gründ- lichkeit zuwider war, darf man ihm bis heute als Verdienst anrechnen, aber mit deutschem Tiefsinn hat er nur zu gerne koketttiert; indem er nämlich seine Paradoxa als Fragen verkleidete. 

Nein, Fragen ist an sich noch kein Verdienst, sondern nur, wenn ein Wille zur Antwort dabei ist. Doch dann müsste man eben weiter gehen, das kostet Arbeit und Disziplin (auch was Deutsches): das kostet Systematik, und davor graute ihm. Überall witterte er metaphysisches Ansich, und das roch ihm nach lutherischem Pfarrhaus. Dabei ist Systematik gerade in der Kritik vonnöten, sonst verläuft sie sich in alle Richtungen. So bei ihm.
JE 

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