Sonntag, 30. Dezember 2018

Der Wille zur Macht.

westgateevents

Es gibt gar keinen Egoismus, der bei sich stehenbliebe und nicht übergriffe, – es gibt folglich jenen »erlaubten«, »moralisch indifferenten« Egoismus gar nicht, von dem ihr redet.
»Man fördert sein Ich stets auf Kosten des andern«; »Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens« – wer das nicht begreift, hat bei sich auch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit getan.
[369]

Der Wille zur Macht interpretiert (– bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.) 
[643] 

Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vorneh- men. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedin- gungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Gewalten sich unterjochend. 
[856] 

Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Er- höhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Run- dung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine »Wahrheit«. 
[616]
 _______________________________
Nietzsche, Aus dem Nachlass (XII)



Nota. - Berüchtigt ist unter den Nietzsche-Texten vor allem der Nachlass aus den achtziger Jahren, mit dem Mutter und Schwester allerlei Schindluder getrieben haben.

Eigentlich ist er aber der philosophisch tiefere Teil - und zwar gerade durch das Anstößigste daran: den "Willen zur Macht". Endlich hatte er sich dazu durchgerungen, unterm aphoristischen Glitzern nach festerem Stoff zu bohren, doch so ergab sich zwanglos die Erfordernis nach Systematisierung - nämlich die, seine Untersuchun- gen einem verallgemeinernden Zweck zuzuordnen.

'Es ist ja alles Lüge, aber nützliche Fiktion zum Besten des Lebens!' Und dieser blasse Allgemeinplatz sollte allein keine Fiktion sein? Wenigstens emphatisch musste 'das Leben' so überhöht werden, dass es einen bestimm- ten Sinn vorstellen konnte, der all die andern Fiktionen immerhin überstrahlen würde. Was Besseres als der Wille zur Macht ist ihm da nicht eingefallen.


Es ist aber etwas, das man glauben muss - wenn man will; oder einfach ignorieren kann. Will sagen, irgendeine Verbindlichkeit, es zu denken, kann es nicht geltend machen. Er ist schlicht und einfach zu Schopenhauers Wil- len zurückgekehrt, aber im Trotz, nein, die Vorstellung war ihm zu schwächlich, zu unehrlich, überall, wo er im Nachlass endlich auf das philosophische Erbe eingeht, stichelt er doch, selbst wenn er "Kant" sagt, gegen den Schopenhauerschen Quietismus, der überall 'das Leben' hinwegsubtilisiert, um bei seinem vorstellenden kleinen Ich traut hinterm Ofen zu liegen.

Da setzt er noch einen obendrauf, macht aus Leben einen Willen zur Macht, welcher, da hat er völlig Recht, nur ein Wille zur Macht über andere sein kann, und hat schließlich herausgebracht, was er bei allen andern moniert: ein absolutes Subjekt. Und damit liegt er nun wirklich schief. 'Absolut' kann schlechterdings kein reales Subjekt sein; das ist eo ipso bedingt. Absolut kann überhaupt nur ein Transzendentales sein: im Denken; es kann als ab- solut gedacht werden (wenn auch nicht so recht).

Und am Schluss bemerkt man: Der ruppige Ton, den er zeitlebens gegen die Schulphilosophen angeschlagen hat, stand ihm gar nicht zu. Er blieb hinter ihnen zurück; daher das Getöse.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen