Dienstag, 7. August 2018

Gesetzgeber der Zukunft.

 
Gesetzgeber der Zukunft. – Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph« einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte – denn ich fand viele entgegengesetzte Merkmale –, erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen gibt:
 

1. solche, welche irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen wollen;
 

2. solche, welche Gesetzgeber solcher Wertschätzungen sind.
 

Die ersten suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen – sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergan- genen Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.
 

Die zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!« Sie bestimmen erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen, was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: z. B. Plato, als er sich über- redete, das »Gute«, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz, den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern: ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich will« – nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.
 

Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der An- spruch des Gesetzgebers neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe  sei schon gelöst, oder sie sei unlös- bar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zu- meist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten« – und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 7
 



Nota. - Soviel ist ja wahr: Gott ist tot, und die ewigen Werte, die wohl seine Ausscheidungen waren, haben ihn nicht überlebt. Es folgte in der Philosophie eine Zeit der akribischen Sichtung des Angesammelten, seine teils originelle, teils mustergültige Neuordnung, und es endete in einem ratlosen Schwindel vor der Existenz.

Auch da hat er Recht: Nachdem alles Wissbare säuberlich aufgelistet, auf seine Bedingungen geprüft und richtig den vorstellend tätigen Ichen angelastet worden war, konnten die Philosophen nicht länger ihre Zeit vertreiben in der Suche nach dem, was ist; sondern mussten sich zusammenraffen und erkühnen, zu sagen, was sein soll. Material ist die Philosophie abgeschlossen. Bleibt den Philosophen, die trotzdem an der Sache dran- bleiben wollen, nur das Gesetzgeben übrig, und wenn sie sich nicht trauen, sollen sie das Fach wechseln und, sagen wir, Entomologie betreiben.

Was denn, als Gesetzgeber? Doch wohl nicht als Verkünder eine neuen... Moral!

Doch, darauf lief's bei Nietzsche hinaus, und bei Gott, was für einer!

Sein persönliches und intellektuelles Unglück war die Herkunft aus einem lutherischen Pastorenhaushalt. Die hat er nicht verwinden können. Wie anders ist zu erklären, dass er nicht - nicht einmal er - auf den erlösenden Gedanken kam, den der rechtgläubige Lutheraner Herbart fast ein Jahrhundert zuvor gefasst hat: dass nämlich Moral nur als ein Abschnitt der Ästhetik zu begreifen ist?

Dass die Welt nur noch ästhetisch zu rechtfertigen sei, hatte er in jungen Jahren immerhin verstanden.
JE


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