Sonntag, 19. August 2018

Eine unmoralische Mystifikation.

78.media

Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztendlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein.
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Wittgenstein, Vortrag über Ethik, Frankfurt a. M. 1989, S. 19 


Nota. - 'Kann sie keine Wissenschaft sein' - das ist beruhigend, aber auch das Mindeste. Dass sie dagegen "et- was über den letztendlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle" zu sagen habe, hat man seit bald vierhundert Jahren nicht mehr gehört. Wenn ichs recht überblicke, hat als letzter Spinoza gemeint, das Moralische im Metaphysischen begründen zu können, und hat darum sein metaphysisches Grundlagenwerk Ethik nach geometrischer Methode demonstriert genannt.

Natürlich glaubt Wittgensein an keine wissenschaftliche Metaphysik. Aber dass Ethik auf dem Streben beruhe, das Absolute zu bestimmen, ist ein weiterer Beweis von schockierender philosophischer Unbildung. Er hat ja nicht vom Streben nach dem Absoluten in einem metaphorischen Sinn geredet, sondern von dem Wunsch, übers Absolute etwas zu sagen. Er lehrt uns, die Bedeutung der Wörter sei ihre Verwendung im Sprachspiel. Da darf man annehmen, dass er seine Worte nicht nur so ungefähr, sondern mit Bedacht verwendet. Aussagen kann ich nur, was ich zuvor bestimmt habe. Etwas, das ich bestimmt habe, ist ipso facto nicht länger absolut. Es ist be- stimmt durch die Termini, die es begrenzen. Was sollte das heißen: ein begrenztes Absolutes?

Über semantische Pedanterie mag sich jeder sonst beschweren; Wittgenstein nicht. Das ist aber auch nur die Oberfläche. In der Sache selbst wird es noch haarsträubender. Das metaphysische Vorurteil meint, wenn ich den Sinn der Welt bestimme, dann ist der Sinn des Lebens darin enthalten; ich muss ihn nur ausfindig machen, aussprechen und "immer wieder auf die Praxis anwenden", wie es in Maos Rotem Büchlein hieß - und aller Ge- wissensnöte bin ich enthoben: Der Sinn meines Lebens ist mir gegeben; für mein Heil ist gesorgt.

Aller Metaphysik hatte Kants Kritik der reinen Vernunft ein Ende bereitet; und den Gehalt der Ethik  mit der Frage (!) "Was soll ich tun?" beschrieben. Es ist die Frage, auf die ich aus schlechterding eigenem Urteil zu ant- worten habe. Sittlichkeit, so lernten es zu Wittgensteins Zeiten die Gymnasiasten in Wien, setzt voraus die Freiheit des Willens.

Und zwar - ich mach's kurz - in jedem Moment wieder. "In Fichtens Moral sind die richtigsten Ansichten der Moral. Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. " Novalis, Allgemeines Brouillon N° 670

Die Unkenntnis der philosophischen Überlieferung erlaubt es Wittgenstein, in seinem Vortrag über Ethik alles zu einem bunten Brei durcheinander zu rühren, und, statt Licht in die Köpfe seiner englischen Studenten zu bringen, zu mystifizieren, wo doch eben der Wunsch nach Klarsicht gewesen war.
JE    

  

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