Samstag, 15. Juni 2019

Eine neue Denkepoche.

Wolfgang Dirscherl, pixelio.de
 

Unter der Überschrift Wahrheit und Lüge veröffentlicht die Neue Zürcher heute einen großen Essay, in dem Karl-Heinz Ott ausführlich den Gedanken entwickelt, dass die Wahl von Donald Trump zugleich Höhepunkt und Todesstunde der Postmoderne ist: Der gebildete linke Liberale, der ein paar Jahrzehnte lang eitel-leichtsinnig mit den Foucaults, Derridas und Deleuzes getändelt hat, suche verschreckt Zuflucht beim altmodischen Habermas und seiner vernünftigen, ordentlichen, konsens- und diskutierfreudigen Wahrheitsliebe.

Das war vor zwei Jahrhunderten das Ergebnis der Transzendentalphilosophie: dass es Wahrheit 'nicht gibt'. Dann brach das Zeitalter des Positivismus aus und nach Wahrheit musste nicht länger gefragt werden, Erfolg und An-schlussfähigkeit waren weit belastbarer. Bis vor drei-, vier Jahrzehnten, da gings uns zwar noch gold, aber doch nicht mehr so recht vorwärts. Es kam ein vornehmer Skeptizimus auf, der spöttisch flötete: "Any- thing goes!" (Paul Feyerabend  erwähnt K.-H. Ott nicht.) Es war eine Art Transzendentalphilosophie für arme Leute.

Für ganz arme. Denn den zweiten Satz der Transzententalphilosophen hatten sie nicht wiederbelebt: "Wahrheit muss sein, wenn Vernunft sein soll.

Nun sollte die Zeit reif sein, dass er in die Köpfe der großen Zahl der Gebildeten endlich, endlich Eingang findet - nicht trotz, sondern wegen der Paradoxie: Wahrheit gibt es nicht, aber Wahrheit muss es geben. Nämlich Wahr- heit nicht als Ausgangspunkt, sondern als Fluchtpunkt der Vernunft: da, wo alles einmal hinführen soll. Denke, rede, handle so, als ob es Wahrheit gäbe, und wenn das alle tun, werden wir ihr schon näherkommen. Sie ist nicht etwas, das da ist, sondern etwas, das zu machen wäre.

19. 4. 17

In ganz anderem Zusammenhang ist seit zwei, drei Jahren von einer Neuen Renaissance die Rede. Vielleicht ist es bloß Sehnsucht, doch wer sie nicht kennt, weiß nicht, wie ich leide. Dass bei uns seit dreißig Jahren Philosophie eine Spezialrichtung der Philologie geworden und jenseits des Rheins ein Jahrmarkt der Eitelkeiten wie immer geblieben war, schuf bleierne Langeweile, aber das zuerst unterschwellige und dann lautstarke Einsickern der lo- gisch-atomistisch-pragmatisch-phlegmatischen angelsächsischen Denkroutine brachte nicht den frischen Wind, den sie versprach. Sie reden aneinander vorbei, und immer dasselbe. 

In den verstopften synaptischen Spalt zwischen beiden nisteten sich auf engem Raum nebeneinsander Neuer wie Spekulativer Realismus ein - als zwei löbliche Versuche, in der Philosophie endlich wieder nach der Sache zu fragen statt nach Form und Präsentation und Wie-komm-ich-mir-vor. Doch nicht als Laxativ und Lösungsmittel traten sie an, sondern als fertiger Versatz. Das verstopft das Ding nur weiter.

Denn sie haben alle keinen gemeinsamen Grund, auf dem sie wenigstens streiten könnten. Und vor einem Grund scheuen sie sogar: Die Behauptung eines Grundes hat bislang zu oft in dogmatische Sprachlosigkeit geführt. War- um? Weil sie un begründet war. Ein Grund für einen gemeinsamen Aufbau muss überhaupt erst freigelegt werden. Diese Arbeit nennt man Kritik, und die kann gründ lich nur sein, wenn sie systematisch ist.

Aber davor graust es seit dem Platzen der Hegelschen Seifenblase bis heute allen. Eine Renaissance würde sich vor andern Zeitaltern unter anderm dadurch auszeichnen, dass große Pläne für realistischer gehalten werden als die kleinen. Dann käme vielleicht auch die radikale Kritik zu Ansehen.

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