'Bewusstsein' ist eine Bananenschale.
nach Oliver Haja / pixelio.de
Das Wort Bewusstsein ist eine gedankliche Bananenschale. Nicht an sich; es ist dazu erst geworden. In der Umgangssprache bezeichnet es den Moment, in dem ich bei Bewusstsein bin. Bewusstes Sein, in jedermanns Alltagserfahrung kein immerwährender Zustand, sondern nur ein paar Momente im Tagesverlauf, unterbrochen von vielen langen Phasen, in denen ich mehr oder minder 'außer mir' bin.
Doch wenn ich's recht bedenke, bin ich gerade dann, wenn ich mir meiner bewusst werde, außer mir, denn dazu muss ich einen Standpunkt einnehmen, als wäre ich ein anderer, der 'mir' neugierig zuschaut: re-flektieren. 'Bei mir selbst' wäre ich dann eher, wenn ich mich achtlos gehen ließe, 'spontan', 'echt', 'authentisch'.
In der empirischen Psychologie mag es zweckmäßig sein, den Ausdruck im Sinne eines definierten Begriffs zu verwenden (sofern man die Definition im gegebenen Fall ausdrücklich mitliefert). Die empirische Psychologie hat es mit den wirklich unter uns lebenden Menschen zu tun, und eines von deren hervorstechenden Merkmalen ist in den modernen westlichen Gesellschaften ihr Auftreten als Person - gedacht als Träger eines freien Willens, der sie für sich selbst verantwortlich und zu Subjekten der Volkssouveränität macht: Auch das eine empirisch gesetzte, gesellschaftlich wirksame Fiktion, die im Detail immer wieder in Spannung gerät zu dem tatsächlichen Walten intrinsischer und extrinsischer Motive, die dem 'Bewusstsein' notorisch verborgen bleiben und es auf Abwege leiten. In diesem kritischen, problematischen Sinn hat der Begriff oder besser: das Wort einen Platz auch in den Wissenschaften.
Problematisch wurde es durch den mystifizierenden Gebrauch, der bei Hegel und seiner Schule damit getrieben wurde. In deren System erscheint das Bewusstsein als eine Stufe in der Selbstentfaltung des Geistes, den es, ein- mal erreicht, nicht mehr zu unterschreiten gilt. Bei Kant und den andern kritischen Philosophen, die sich mit den Wissensvermögen des Menschen beschäftigt hatten, war 'das Bewusstsein' nur gelegentlich und unthematisch vorgekommen, denn sie waren phänomenologisch orientiert und nicht metaphysisch systembauend.
Phänomenal ist der Mensch und sind seine Vermögen eins, und nur von außen, in Hinblick auf die jeweiligen Leistungen, sind Unterscheidungen objektivierbar; so dass von 'dem Bewusstsein' wie von einer Substanz zu reden im Sinne einer kritischen Philosophie irreführend und falsch ist. Denn eben das Ich, das transzendentale oder absolute, dem das Bewusstsein als seine auszeichnende Eigenschaft zugerechnet werden soll, ist selber nur der gedachte Träger dieser gedachten Vermögen, und ist der empirischen Person so fern wie ein praller Fußball der Zahl Pi.
29. September 2013
Bewusstsein ist kein philosophisches Problem.
Wie die Individuen zu ihrem Bewusstsein kommen, ist philosophisch gar nicht interessant. Es ist eine Sache der positiven Wissenschaften: Hirnphysiologie und empirische Psychologie. Irgendwie finden sich auch die Tiere in ihren Welten zurecht. Die Philosophie kommt da allenfalls kritisch zu Wort; wenn nämlich die Empi-riker Begriffe verwenden, die auf keinerlei Erfahrung beruhen; Kausalität und Determination zum Beispiel.
Ein philosophisches Rätsel ist dagegen, wie es sein kann, dass die vielen individuellen Bewusstseine ein gemein-sames Maß gefunden haben. Logizität ist das Problem, genauer gesagt: Wie die Individuen sich verständigen können, obwohl doch jedes sein eigenes Bewusstsein hat. Wie kann einer dem andern sagen: Das ist nicht vernünf-tig –?
Jeder Naturzustand hat seinen vorherigen Zustand. Doch mit der Vernunft kann es nicht so sein. Wenn sie nicht vom Himmel gefallen sein soll, ist sie ein anderes Rätsel.
Die einzige Philosophie, die sich schlecht und recht diesem Rätsel bislang gestellt hat, ist Fichtes Wissenschaftslehre.
Bewusstsein ist kein Zustand.
Ich bin mir irgend eines Objekts B bewusst, dessen aber kann ich mir nicht bewusst sein, ohne mir meiner selbst bewusst zu sein, denn B ist nicht Ich, und ich bin nicht B. Ich bin mir aber nur dadurch meines selbst bewusst, dass ich mir des Bewusstseins bewusst bin. Ich muss mir also bewusst sein des Aktes des B, des Bewusstseins vom Bewusstsein.
Wie werde ich mir dessen bewusst? Dies geht ins Unendliche fort, und auf diese Weise lässt sich das Bewusst-sein nicht erklären. Der Hauptgrund ist, dass das Bewusstsein als Zustand des Gemüts, [also] immer als Objekt genommen wurde, wozu es den immer eines anderen Subjektes bedurfte. Wären dies die bisherigen Philosophi-en inne geworden, so würden sie vielleicht auf den rechten Punkt gekommen sein.
Dieser Einwurf ist nur so zu heben, dass man ein Objekt des Bewusstseins finde, welches zugleich Subjekt wäre; dadurch ein unmittelbares Bewusstsein aufgezeigt würde, ein Objekt, dem man nicht ein neues Subjekt entgegenzusetzen hat.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 30
Nota. - Bewusst sein ist kein Zustand. 'Sondern ein Akt', müsste hier folgen; actus purus. Aber das ist eher ein Thema der Psychologie und interessiert F. an dieser Stelle nicht. Hier geht es darum: Wenn ich mir das Be-wusstsein als einen Zustand vorstelle, erscheint es als ruhendes Objekt eines Vorstellenden und nicht selbst als vorstellend - und folglich als etwas anderes als ich, es kommt niemals in mich hinein und ich nicht in es. Die Vorstellung, dass ich auf bewusste Weise bin, und zwar in der Verlaufsform und nicht als Ruhe, wird so abge-schnitten.
Aber dies ist immerhin ein Wink an die empirischen Psychologen, in welcher Richtung sie suchen sollen, und so behauptet die Transzendentalphilosophie immerhin ihren Nutzen als Regulativ der realen Wissenschaften.
JE
Das Bewusstsein des Handelns und das Handeln ist eins.
Das Bewusstsein des Handelns und das Handeln war eins, durch unmittelbares Bewusstsein. ... Alles mögliche Bewusstsein setzt das ursprüngliche Bewusstsein voraus und ist außer dem nicht zu begreifen.
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, ebd.
Nota. - Handeln ist nicht bloß 'irgendwas tun', sondern handeln ist: etwas absichtlich tun. Eine Absicht kann ich nur absichtlich fassen, der Satz Absicht ist nur möglich im Bewusstsein wäre eine Tautologie. Eine Absicht fassen ist bewusst-werden. Dabei lässt sich aber nichts denken, wenn ich mir den Menschen nicht grundsätzlich als wollend vorstelle.
JE
‘Das Bewusstsein ist grammatikalisch verfasst.’
Wann immer vom Menschen als von einem seiner-selbst-Bewussten die Rede ist, wird der Mensch als ein Handelnder stillschweigend vorausgesetzt. Der Satz 'das menschliche Bewusstsein ist seiner Natur nach grammatikalisch strukturiert' ist ein Quidproquo; alias gequirlter Mist. Nur weil der Mensch vorab die Fähigkeit entwickelt hat, sich auf Etwas zu richten, konnte es ihm einfallen, dafür eine Mitteilungsform für solche zu suchen, die ihm dabei helfen oder ihn dabei behindern können. Eine Mitteilungsform also, in der nicht eine 'Information' gleich wichtig und gleich wertig neben der andern steht, sondern das eine über das andere gesetzt wird. In den Hierarchien der Grammatik wird die Gerichtetheit der Handlungen ausgesagt.
23. 1. 2010
Und wieder: Bewusstsein.
Körper und Seele
Wie der Geist entsteht
Das Geheimnis des Bewusstseins gilt vielen als das größte Rätsel überhaupt - als äußerste Grenze menschlichen Strebens nach Erkenntnis. Hirnforscher, Psychologen und Philosophen versuchen trotzdem, sich ihm zu nähern.
von Hartmut Wewetzer
Fledermäuse beginnen in der Dämmerung ihren Flatterflug. Und Sie sind dabei. Sie sind eine Fledermaus. Sie steigen in den Himmel auf und kreisen über den Häusern, um ihre Beute zu orten. Nein, Sie sind nicht Batman. Sie sind eine echte Fledermaus. Sie haben ein Fledertier-Bewusstsein und ein Bio-Echolot, mit dem Sie Ihre Beute orten, Fliegen und andere Insekten, die durch die Abendluft treiben. Die Nacht werden Sie in Ihrem Versteck verbringen, kopfüber von der Gemäuerdecke hinabhängend.
Natürlich werden wir Menschen uns niemals wirklich in eine Fledermaus hineinversetzen können. Aber ein reizvolles Gedankenexperiment ist es trotzdem.
Es stammt von dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. 1974 veröffentlichte er den Aufsatz „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“. Der Essay sollte die aufstrebende Gilde der Hirnforscher provozieren. Schickte die sich doch an, seelische Prozesse mit den Mitteln der Naturwissenschaft aufzuklären. Dabei machten sie sich sogar daran, dem Bewusstsein selbst sein Geheimnis zu entreißen.
Ein vermessenes Unterfangen, wie Nagel meinte. Sein zentraler Gedanke: Jedes subjektive Phänomen, wie das Bewusstsein einer Fledermaus, ist mit einem einzigartigen Blickwinkel verknüpft. Es wäre unausweichlich, dass eine objektive physikalische Theorie diese wichtige Eigenschaft des Bewusstseins preisgeben würde. Damit würde das Wesentliche verloren gehen. Bewusstsein in diesem Sinn kann die Wissenschaft nicht verstehen, argumentierte Nagel. Genauso wenig, wie wir Menschen uns in Fledermäuse hineinversetzen können.
"Für jeden von uns ist Bewusstsein das Leben selbst"
Mehr als vier Jahrzehnte später hat Nagels Kritik weiterhin Gewicht. Noch immer debattieren Hirnforscher mit Philosophen, ob und wie objektive Methoden subjektive Erfahrungen widerspiegeln und erklären können. Und trotz mancher Fortschritte haben Neurowissenschaft und Psychologie das Rätsel des Bewusstseins noch immer nicht gelöst. Für manche ist es die größte aller Fragen. Das Problem des Bewusstseins verkörpere, zusammen mit der Frage nach der Entstehung des Universums, „die äußerste Grenze des menschlichen Strebens nach Erkenntnis“, schreibt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger. Vielen erscheine es deshalb „als das letzte große Rätsel überhaupt“. Es berührt den Kern der menschlichen Existenz. „Für jeden von uns ist Bewusstsein das Leben selbst“, schreibt der Psychologe Steven Pinker. Es ist der Grund, warum das Leben lebenswert ist. Seine Essenz.
Die Probleme fangen schon bei der Frage an, was genau mit „Bewusstsein“ gemeint ist. Denn das Phänomen ist vielschichtig, der Begriff entzieht sich einer einfachen Definition. Umso erfreuter war die Gemeinde der Geist-Erforscher, als der Philosoph David Chalmers vor 20 Jahren etwas begriffliche Klarheit schuf. „Einfache Probleme“ drehen sich für Chalmers zum Beispiel darum, wie sich bewusste von unbewussten Hirnprozessen unterscheiden. Das „schwierige Problem“ ist dagegen eine echt harte Nuss: Wie entsteht aus Prozessen im Gehirn subjektive Wahrnehmung? Es geht nicht nur darum, die Farbe „Grün“ zu sehen (ein „einfaches Problem“), sondern um ihre Qualität, die Erfahrung des „Grünen“, wie der Psychologe Pinker das „schwierige Problem“ illustriert.
Eine grundsätzliche Frage lautet: Ist Bewusstsein an materielle Prozesse im Gehirn geknüpft? Oder gibt es eine Seele, die unabhängig von Nervenzellen agiert? Der berühmteste Vertreter dieser Annahme war der französische Philosoph René Descartes (1596 –1650). Er verkündete eine strikte Trennung von Geist und Körper, den Dualismus. Descartes’ Position hat zumindest in der Naturwissenschaft nur noch wenige Freunde. „In der Hirnforschung ist der Dualismus vollkommen out“, sagt John-Dylan Haynes, Leiter des Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin.
Über den "Sitz" des Bewusstseins herrscht Einigkeit
Das Bewusstsein ist also ein Produkt des Gehirns, es entsteht und vergeht mit ihm. Was für Neurowissenschaftler eine weithin akzeptierte Tatsache und fast eine Binsenweisheit ist, wird manchem einen Schrecken einjagen. „Tut mir leid, aber Ihre Seele ist gerade gestorben“, lautet der sarkastische Titel eines Essays des Schriftstellers Tom Wolfe über die Fortschritte der Neurobiologie.
Wo „sitzt“ das Bewusstsein? Auch darüber herrscht unter Forschern weitgehend Einigkeit. Es wird in bestimmten Gebieten der Großhirnrinde vermutet. In dieser nur wenige Millimeter dicken und stammesgeschichtlich jungen „Deckschicht“ des Gehirns, wissenschaftlich als Cortex bezeichnet, ballen sich etwa 15 Milliarden Nervenzellen.
Kann eine Maschine ein Bewusstsein haben?
Man nimmt an, dass bewusstes Erleben in assoziativen Gebieten der Hirnrinde erzeugt wird. Sie liegen im Bereich des Stirnhirns und im vorderen Teil des Schläfenlappens. Assoziativ heißt, dass diese Areale nicht vorrangig mit dem Verarbeiten etwa von Signalen aus den Sinnesorganen betraut sind oder Nachrichten an die Muskulatur senden, sondern Informationen aus anderen Hirnzentren sammeln und zusammenfügen.
Ein unfassbar kompliziertes Netzwerk
Das bedeutet, dass Regionen unterhalb der Hirnrinde zwar „Informationen“ an die Bewusstseinszentren liefern können, aber selbst nicht zum Bewusstsein fähig sind. „Erst die genügend starke Aktivierung von assoziativen Cortexarealen führt zum bewussten Erleben“, schreibt Gerhard Roth, Hirnforscher und Buchautor („Wie das Gehirn die Seele macht“).
Nervenzellen, Neuronen, kommunizieren, indem sie „feuern“. Sie nehmen über ihre Fortsätze elektrisch übertragene Signale an oder leiten sie weiter. Mit seinen Billionen von Nervenzellkontakten ist die Hirnrinde ein unfassbar kompliziertes Netzwerk , in dem Informationen verarbeitet und gespeichert werden. Irgendwo in diesem Prozess von „feuernden“ Neuronen entsteht Bewusstsein.
Das wirft die Frage auf, ob Bewusstsein an das Gehirn als „natürlich entstandenes Informationsverarbeitungssystem“ (so der Philosoph Metzinger) gebunden ist. Ist es möglich, Bewusstsein nicht nur in einem „Computer aus Fleisch“, sondern in einem aus Kunststoff und Halbleitern zu erzeugen? Christof Koch, einer der profiliertesten Hirnforscher, bejaht diese Frage. Zumindest im Prinzip. Der Amerikaner, der das Allen-Institut für Hirnforschung in Seattle leitet, belebt damit den Panpsychismus wieder. Das ist jene romantische Vorstellung, nach der das ganze Universum beseelt ist. Ganz so umfassend ist Kochs Version der All-Seele jedoch nicht. Er vertritt die Ansicht, dass Bewusstsein eine grundlegende Eigenschaft komplexer Systeme ist.
Eine Voraussetzung: integrierte Information
Koch bezieht sich auf eine Theorie des Psychiaters Giulio Tononi von der Universität Wisconsin-Madison. Tononi behauptet, dass bewusste Erfahrung ein fundamentaler Aspekt der Realität ist und gleichbedeutend mit einem bestimmten Typ von Information, den er „integrierte Information“ nennt. Sie ist hochgradig verknüpft und organisiert. Sie lässt sich laut Tononi berechnen und mit einem Zahlenwert namens „Phi“ versehen. Sogar einen „Bewusstseins-Meter“ hat Tononi konstruiert. Um ein „Phi“ größer als null zu besitzen, muss ein Gegenstand ein „integriertes System“ sein. Er muss also zum Beispiel viele Nervenzellen und Synapsen, Nervenzell-Kontakte, besitzen. Das trifft für Mensch und Tier zu, aber nicht für einen Sandhaufen eine Galaxie oder ein Schwarzes Loch. „Diese Objekte sind nicht integriert“, schreibt Koch im Magazin „Scientific American Mind“. „Sie haben kein Bewusstsein und keine mentalen Eigenschaften.“
Wie sieht es mit Computern, einem Smartphone oder gar dem Internet aus? Die Zahl seiner Schalter (in Form von Transistoren) entspricht derjenigen der „Schalter“ im Gehirn von 10 000 Menschen, in Form von Synapsen. Gibt es bewusste Maschinen? Prinzipiell ist das vorstellbar, argumentiert Koch. Allerdings sei die Annahme, das Internet habe so etwas wie Selbstbewusstsein, momentan „völlig spekulativ“.
Bewusstsein kann man nicht auf Prozesse in der Hirnrinde reduzieren
Während Koch glaubt, dass Tononis Theorie „einen gigantischen Schritt in Richtung einer endgültigen Lösung des Körper-Seele-Problems“ darstellt, sind manche seiner Kollegen weniger überzeugt. „Der Begriff ,Information‘ erklärt nichts“, kontert der Hirnforscher Roth. Er hebt die Bedeutung der Evolution hervor. Aus seiner Sicht ist das Bewusstsein von Vorteil, um als „neu“ und „wichtig“ erkannte Aufgaben zu meistern.
Mentale Felder schaffen eine virtuelle Gesamtwelt
Denn es schaffen nur sehr wenige der im Gehirn eintreffenden oder erzeugten Informationen, ins Bewusstsein „vorgelassen“ zu werden. Den routinemäßigen Weg zur Arbeit beherrscht der Pendler wie im Schlaf und meistert ihn beinahe unbewusst. Raubt ihm aber ein anderer Autofahrer die Vorfahrt, ist er plötzlich aufmerksam und konzentriert.
Obwohl Bewusstsein ein Produkt kommunizierender Nervenzellen ist, ist es nicht mit dieser Aktivität identisch, argumentiert Roth. Synchron feuernde Neuronen erzeugen in der Hirnrinde elektromagnetische Felder und diese wiederum „mentale“ Felder. Geist und Bewusstsein lassen sich „als ein immaterielles System verstehen, das aus ,mentalen Feldern‘ aufgebaut ist“. Sie erschaffen eine virtuelle Gesamtwelt, die aus der Wahrnehmung der Umwelt, unseres Körpers und des Geistes besteht, vermutet Roth.
Elektromagnetische Felder in der Hirnrinde sind zwar erforderlich, um Bewusstsein zu erzeugen, dieses geht aber über sie hinaus. Roth spricht von „Emergenz“, also dem Herausbilden neuartiger Eigenschaften. Bewusstsein ist ein Produkt des Gehirns. Aber es ist nicht auf Prozesse in der Hirnrinde reduzierbar, auch wenn es von diesen hervorgebracht wird. Daraus folgt für Roth, dass der Geist zumindest teilweise autonom ist.
Wie ein Schreibtisch, auf dem sich die Akten stapeln
Woraus Bewusstsein besteht, diese Frage sei vielleicht niemals befriedigend zu beantworten. „Das ist keine Besonderheit des Geist-Gehirn-Problems“, sagt Roth. „Ein Physiker ,versteht‘ auch nicht, was Quanten sind.“ Es komme auf die präzise Beschreibung an. „Die Suche nach dem Wesen des Geistes haben die Naturwissenschaften sich abgewöhnt, darin besteht ihr Vorteil.“ Auch John-Dylan Haynes kann gut damit leben, dass die Hirnforschung keine letzten Wahrheiten erlangen kann. Diesseits von ihnen gebe es eine Menge Fragen, die die Wissenschaft aufklären könne. Etwa die, wann Bewusstsein auftrete – ein Problem, das Haynes im Labor untersucht.
Unter den vielen Theorien, die das Bewusstsein und seine Entstehung zu erklären versuchen, hat sich bislang keine als allgemeingültig erwiesen. Den größten Einfluss hat seit einigen Jahren das Modell der „globalen Arbeitsfläche“ (global workspace). Es geht auf den Psychologen Bernard Baars zurück. Nach dieser Theorie ähnelt das Bewusstsein einem Schreibtisch, auf dem sich Akten stapeln. Nur jeweils eine von ihnen ist aufgeklappt, steht damit im Zentrum des Interesses und ist „bewusst“.
Das Modell der „globalen Arbeitsfläche“ ist mit einem Theater verglichen worden: Auf der Bühne des Bewusstseins werden jene Schauspieler in gleißendes Licht getaucht, die gerade unsere Aufmerksamkeit fesseln. Im Hintergrund stehen Regisseur, Autor, Bühnenbildner parat – also jene Teile des Gehirns, ohne die das Theaterstück namens Bewusstsein nicht möglich wäre. Und das Publikum? Ist bewusstlos.
Nota. - Eine gute Zusammenfassung. Im Detail immerhin diese Neuigkeit: Gerhard Roth, der seinerzeit das berüchtigte Manifest der Hirnforscher mitverfasst hat, ist vom Saulus zum Paulus geworden! Was mag Wolf Singer dazu sagen? Ich trau mich gar nicht nachzugugeln...
JE
Bewusst sein und die Sprache der Bilder.
aus Die Welt, 25.04.08
Warum wir uns gern falsch erinnern
Das Vergessen und Uminterpretieren sind wichtige Funktionen des Gehirns: Ein gutes Gedächtnis für sich allein bedeutet noch gar nichts. Menschen, die nicht vergessen können, sind praktisch nicht überlebensfähig. Hirnforscher Ernst Pöppel erklärt im Gespräch mit WELT ONLINE, warum das so ist.
Von Norbert Lossau
WELT ONLINE: Mitunter fällt es leicht, sich präzise an Dinge zu erinnern, die wir als Kinder erlebt haben, während wir Ereignisse von vorgestern bereits wieder vergessen haben. Warum ist das so?
Ernst Pöppel: Viele Erinnerungen an Ereignisse in Kindheitstagen sind mit starken Emotionen verbunden. Diese Kopplung erhöht die Chance, dass Erinnerungen langfristig im Gedächtnis bleiben.
WELT ONLINE: Gilt das auch für Erfahrungen, die man später als Erwachsener macht – je stärker die emotionale Tönung, umso besser die Erinnerung?
Pöppel: Genau. Und ich behaupte sogar: ohne emotionale Bewertung kann man überhaupt nichts im Gehirn speichern.
WELT ONLINE: Warum vergessen wir Dinge?
Pöppel: Eine der wichtigsten Fähigkeiten unseres Gehirns ist das kreative Vergessen. Ein gutes Gedächtnis für sich allein bedeutet noch gar nichts. Nur das, was wichtig ist, müssen wir behalten. Die wichtigsten Erfahrungen, die ein ganzes Leben lang gültig bleiben, haben wir häufig in der frühen Phase der Biografie gemacht. Das Vergessen ist eine kreative Funktion des Gehirns, die Abstraktionsleistungen erst möglich macht. Es schützt uns davor, Informationsmüll mit uns herumzuschleppen. Es gibt Patienten, die nicht vergessen können. Die sind, auf sich allein gestellt, praktisch nicht lebensfähig.
WELT ONLINE: Aber bei vielen alten Menschen erreicht das Vergessen ein ungutes Maß. Sie werden dement.
Pöppel: Das Älterwerden bringt eine Reihe von Risiken mit sich – unter anderem Alzheimer, Parkinson, Schlaganfälle, altersbedingte Depressionen und Schmerz. Doch es sind bei weitem nicht alle Menschen betroffen. Beim Alzheimer beklagt man ein schlechteres Gedächtnis. Das wirkliche Problem ist hier aber ein anderes. Forschungsergebnisse meines Teams weisen darauf hin, das in dem sogenannten episodischen Gedächtnis Bilder unserer persönlichen Vergangenheit vorkommen, wobei ich selber als Erlebender in meinem eigenen Bild erscheine.
Das heißt, ich bin mein eigener Doppelgänger. Unsere persönliche Identität wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, dass ich mich im Bild meiner eigenen Vergangenheit auf mich selbst beziehen kann. Dadurch erhalte und stabilisiere ich meine Identität. Das eigentlich Tragische beim Alzheimer-Patienten besteht nun darin, dass diese Möglichkeit zum Selbstbezug nicht mehr gegeben ist. Damit geht die persönliche Identität und auch der geistige Zugriff zur Vergangenheit und zur Zukunft verloren.
WELT ONLINE: Ab welchem Alter ist denn umgekehrt bei einem Kind diese Leistung der eigenen Identität möglich?
Pöppel: Da streiten sich die Gelehrten. Viele Hirnforscher gehen aber davon aus, dass dieser Selbstbezug ungefähr ab einem Alter von drei oder vier Jahren möglich ist. Das heißt aber keinesfalls, dass nicht auch zuvor gemachte, auch pränatale Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen können. Die Traumforschung gibt jedenfalls klare Hinweise darauf.
WELT ONLINE: Es ist doch auch so, dass man sich nicht an Dinge erinnern kann, die man als Ein- oder Zweijähriger erlebt hat. Hängt dies mit der noch fehlenden Identität zusammen?
Pöppel: Ich zumindest gehe davon aus. Die Fähigkeit, sich bewusst an Dinge zu erinnern, setzt voraus, dass ich ein Selbstbild von mir habe. Man muss zunächst die Außenperspektive von sich selber entdeckt haben und wissen, dass man ein Bewusstsein hat. Dann kann man sich auch bewusst auf seine Erinnerungen beziehen. Das, was vorher passierte, formt durchaus auch das Gedächtnis, nur kann ich eben nicht bewusst darauf Bezug nehmen.
WELT ONLINE: Welche Bedeutung kommt denn Erfahrungen zu, die ein Mensch bereits vorgeburtlich macht?
Pöppel: Ich vertrete die These, dass die vorgeburtliche Phase des Menschen entscheidend ist für die Prägung des visuellen Systems. Das Sehsystem ist das einzige, das vor der Geburt nicht gereizt wird. Damit es aber gleich nach der Geburt funktionieren kann, wird das visuelle System im Gehirn mit Hilfe von Träumen gleichsam eingefahren. Mehr als 50 Prozent der Zeit verbringen Kinder im Mutterleib in der Traumphase. Es hat dann keinen evolutionären Grund gegeben, die Träume nach der Geburt wieder abzuschaffen.
WELT ONLINE: Und die Bedeutung der Träume beim Erwachsenen haben uns dann die Psychoanalytiker erklärt?
Pöppel: Träume kann man so interpretieren, aber sie sind von der Natur nicht erfunden worden, um interpretiert zu werden. Es mag ja der Fall sein, dass im Traum Inhalte ins Bewusstsein gelangen, die normalerweise unterdrückt werden. Doch für uns ist es wichtiger, die Bildhaftigkeit des episodischen Gedächtnisses zu nutzen – für Kreativität oder zur Problemlösung. Viele Wissenschaftler und Künstler beziehen ihre wunderbaren Inspirationen doch gerade aus Träumen.
WELT ONLINE: Sind Träume immer farbig?
Pöppel: Ich gehe davon aus, dass Träume immer farbig sind, wobei diese häufig aber keine besondere Bedeutung hat. Die in unserem Gehirn gespeicherten Bilder sind halt farbig – im Wachbewusstsein genauso wie im Traum.
WELT ONLINE: Ist es möglich, dass ein Mensch die im Traum aufgerufenen Bilder oder auch die im episodischen Gedächtnis gespeicherten Bilder uminterpretiert, falsch abspeichert und sich deshalb falsch erinnert?
Pöppel: Das kann man nicht ausschließen. Wir haben überhaupt keine Kontrolle darüber, wie diese Bilder abgespeichert werden.
WELT ONLINE: Wie verlässlich sind vor diesem Hintergrund Aussagen von Zeugen, die über Dinge berichten sollen, die sehr lange zurückliegen? Die in ihren Köpfen gespeicherten Bilder könnten ja im Laufe der Zeit unbemerkt verändert worden sein.
Pöppel: Eine wesentliche Erkenntnis meiner Arbeit ist, dass zurückliegende Bilder uminterpretiert und uminszeniert werden, um für die persönliche Identität des Einzelnen passend gemacht zu werden. Das zeigt sich schon daran, dass der Erlebende selber als Handelnder in dem eigenen episodischen Gedächtnis vorkommt. Wenn ich mich zum Beispiel an eine Situation erinnere, in der ich zehn Jahre alt gewesen bin, dann sehe ich mich als Person in der Szene. Das ist physikalisch unmöglich und ein klarer Hinweis darauf, dass eine Umdeutung stattgefunden haben muss. Insofern ist es natürlich völlig unmöglich, sich auf Zeugenaussagen zu verlassen, die sich auf die bildliche Repräsentation allein beziehen.
WELT ONLINE: Wenn ich aber aus einer frischen bildlichen Erinnerung heraus Dinge ableite und diese dann sprachlich im Gehirn abspeichere, ist dann die Gefahr der Uminterpretation gebannt?
Pöppel: Nein. Es gibt keine eindeutige sprachliche Abbildung von Erlebnissen im Gehirn. Ich kann immer nur sprachlich das Bild beschreiben, das sich in meinem Gedächtnis befindet. Damit ist die Sprache genauso vergiftet wie das Bild selber.
WELT ONLINE: Kann ein Gutachter die Qualität einer Zeugenaussage anhand von bestimmten Indizien erkennen?
Pöppel: Es wird ja oft gefordert, dass Zeugenaussagen stimmig sein müssen. Aufgrund der Uminterpretationen sind Zeugenaussagen aber eher dann verlässlich, wenn sie nicht ganz stimmig sind. Eine Aussage, die völlig klar und logisch ist, ist vermutlich gelogen. Denn unser Gedächtnis funktioniert so, dass wir bestimmte Sachen einfach nicht mehr erinnern können.
WELT ONLINE: Wissen das auch die Gerichtspsychologen?
Pöppel: Da bin ich mir nicht sicher.
WELT ONLINE: Beim Abspeichern von Bildern muss ja vermutlich auch eine gewaltige Datenreduktion stattfinden. Können dadurch Informationen verfälscht werden?
Pöppel: Es wird in der Tat eine sehr große Komplexitätsreduktion vorgenommen. Das kann man schon daran erkennen, dass die Bilder, die in unserem episodischen Gedächtnis gespeichert sind, üblicherweise Standbilder und keine bewegten Bilder sind. Darüber hinaus gibt es auch eine hohe inhaltliche Reduktion. Nur das Wichtigste wird festgehalten, Details gehen verloren, und man sieht nur Bildausschnitte mit einem Radius von etwa zehn Grad Öffnungswinkel. Die Peripherie des Gesichtsfeldes wird im episodischen Gedächtnis kaum oder gar nicht repräsentiert. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung von Zeugenaussagen.
WELT ONLINE: Welchen gesellschaftlichen Nutzen haben die Erkenntnisse, die Sie als Gehirnforscher machen?
Pöppel: Bleiben wir beim Gedächtnis, das ja neben der Wahrnehmung, den Gefühlen und dem Handeln ein ganz zentraler Aspekt unseres mentalen Haushalts ist. Die Erkenntnisse der Hirnforschung können Antworten auf die Frage geben: Wie lade und wie nutze ich dieses Gedächtnis am besten? Geistige Aktivität ist die beste Prävention für Gedächtnisprobleme. Ich sage: Lerne jeden Tag ein Gedicht auswendig. Ein besseres Gedächtnistraining gibt es nicht.
WELT ONLINE: Statt Gedichte lernen – könnte man auch ein Sudoku lösen?
Pöppel: Im Prinzip ja. Doch es geht in jedem Fall um die Eigenaktivität des Einzelnen. Besser noch, wenn es dabei eine emotionale Tönung gibt. Wir dürfen aber nicht glauben, dass das alles ohne Anstrengung möglich ist. Für Jung wie Alt gilt: Wir müssen uns konzentrieren, damit unser Gedächtnis richtig funktionieren kann. Wenn ich den Reichtum des Lebens genießen will, muss ich dem Gehirn eine Chance geben. Auch wenn man älter ist, sollte man versuchen, immer neue Erfahrungen in das Gehirn einzuspeichern. Wenn ich aber jeden Tag immer das gleiche mache, dann verliere ich die Zeit. Wenn nichts passiert, speichert man auch nichts mehr ein. Jeder Tag sollte vielmehr als eine Einheit inszeniert werden. Viele Menschen neigen aber leider dazu, vorwiegend in der Vergangenheit oder Zukunft zu leben. Aus dieser Gegenwartsverlorenheit sollten wir uns befreien.
WELT ONLINE: Ist es nicht so, dass gerade junge Leute sich nicht mehr richtig konzentrieren können?
Pöppel: Ja, ich beobachte an jungen Menschen einen Verlust der Fähigkeit, sich länger auf Dinge zu konzentrieren. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass gerade auch ein intensives kindliches Lernen ein guter Schutz vor Demenz im Alter ist. Wir treten in die Welt hinein mit genetischen Programmen von Möglichkeiten. Das ist ein Angebot der Natur an die Kultur. Durch Informationsverarbeitung wird dann das Gehirn geprägt und die Basis für Kreativität gelegt. Aber auch später kann man noch etwas für sein Gedächtnis tun. Die Wissenschaft legt nahe: Wenn man jeden Tag nur eine Viertelstunde in sein eigenes episodisches Gedächtnis schaut und gleichsam eine Zeitreise in seine eigene Vergangenheit macht, dann hat das einen sehr großen fördernden Effekt. Man fühlt sich dann wie befreit. Das kann jeder für sich machen, aber es erfordert Konzentration und ist anstrengend.
WELT ONLINE: Ist dies möglicherweise auch der Ansatz für eine neue Art der psychologischen Behandlung?
Pöppel: Ja, das denke ich durchaus. Man muss gar nicht im Unbewussten herumkramen, um Effekte zu erzielen. Es ist schon viel erreicht, wenn man in seiner eigenen Vergangenheit herumwandert. Das reinigt das Gehirn, und man lernt dabei auch, sich besser zu konzentrieren.
WELT ONLINE: Ist das nicht ein Wissen, das Religionen bereits seit Jahrtausenden haben? Dass sich mentale Effekte etwa durch das Beten von Psalmen oder Aufsagen von Mantras erzielen lassen?
Pöppel: Ja, sowohl im Zen-Buddhismus, als auch im Christentum gibt es genau diese Phasen der Konzentration auf Sachverhalte, um sich zu befreien. Damit ist eben nicht Zerstreuung gemeint. Die meisten Menschen leben jedoch heute in einer Zerstreuungswelt.
WELT ONLINE: Im Fernsehen gibt es immer häufiger sehr schnell geschnittene Szenenfolgen zu sehen. Wie wirkt sich dies auf die Gedächtnisfähigkeit aus?
Pöppel: Das Gehirn gibt einen Zeitrhythmus für das Gegenwartsbewusstsein von etwa drei Sekunden vor. Wenn man Bilder schneller schneidet, dann wird im Gehirn nur Erregung erzeugt, aber nichts mehr gespeichert. Wenn das menschliche Maß der Informationsverarbeitung nicht berücksichtigt wird, kann die Aufnahme von Informationen auch zur Verblödung führen.
Das Interview führte Norbert Lossau
Professor Ernst Pöppel ist Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie in München und geschäftsführender Vorstand des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig-Maximilians-Universität. Darüber hinaus wissenschaftlicher Ko-Direktor des "Parmenides-Center for the "Study of Thinking" in Elba und München sowie wissenschaftlicher Leiter des "Generation Research Programs" in Bad Tölz.
Drei Sekunden und die Dauer des Subjekts.
aus Neue Zürcher Zeitung, 27. 11. 2010
Von Uwe Justus Wenzel · Das Hirn darf man sich als einen nervösen Menschen vorstellen. In Abständen von wenigen Sekunden fragt es: «Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt?» So – so ungefähr – hat es Ernst Pöppel formuliert. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitende Psychologe sprach am vorgestrigen Abend in der vollbesetzten Aula der Zürcher Universität auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung über das Thema «Gehirn und Persönlichkeit». Zahlreiche Untersuchungen, so liess er wissen, haben ergeben: Drei Sekunden dauern mit messbarer Regelmäßigkeit die Szenen der Aufmerksamkeit, die sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielen. Drei Sekunden währt mithin die Gegenwart; Drei-Sekunden-Einheiten strukturieren die Welt. Ernst Pöppel findet die drei Sekunden in der Dauer eines Händedrucks ebenso wieder wie in der Zeit, die vergeht, bis zappende Fernsehkonsumenten sich entschieden haben, ob sie bei einem Sender verweilen.
Sogar von der Rhythmik der Poesie, der Länge der Verszeilen, lässt der Neurowissenschafter sich seine These bestätigen. Sie läuft in dieser Version auf die Behauptung hinaus, es gebe «biologische Marker» für ästhetische Werte. Mit heiterer und gar nicht nervöser Selbstironie interpretierte Pöppel seinen Ausgriff in die Welt der Kunst als ein Anzeichen für die «Präpotenz» der Hirnforschung. Zu Beginn hatte er sich von einem grassierenden «Neuro-Pop» distanziert, der auf alle Fragen eine neurowissenschaftliche Antwort zu haben vorgaukelt. Nicht an jeder Stelle der locker ineinander geflochtenen Ausführungen war dann aber deutlich, wie demgegenüber so etwas wie eine Neuro-Klassik aussähe, die einer Phantasie der Allzuständigkeit nicht die Zügel schießen ließe. Mussten wir wirklich erst auf die Hirnforschung warten, um zu wissen, dass es leichter fällt, Fremdsprachen in jungen Jahren zu lernen?
Das eigentliche Vortragsthema, «Gehirn und Persönlichkeit», fand im Anschluss an die «Drei-Sekunden-Bühnen» seine Fortsetzung in der Frage, wie überhaupt eine Kontinuität der Selbstwahrnehmung zustande komme, wenn die Aufmerksamkeitsspannen des Bewusstseins so kurz sind (und wenn zudem der innere Sinn die Zeit nicht als fliessenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreissig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren). Pöppels Antwort: durch «semantische Vernetzung und soziale Synchronisation» – dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen.
Das «und» ist Ernst Pöppel wichtig. Er verficht das Prinzip der Komplementarität (das die Leser seines lesenswerten Buches «Der Rahmen» schon kennen): Identität und Dynamik, Rationalität und Gefühl, Autonomie und soziale Einbindung bestimmen das Geschehen. Mit der Komplementarität als Prinzip, das Harmonien aus Gegensätzlichem wirkt, geht dasjenige der Homöostase Hand in Hand: Alle Organismen, vom Einzeller bis zum Menschen, suchen ihr Gleichgewicht und damit sich selbst zu erhalten. Die Homöostase kam freilich nur kurz, am Anfang des anregenden Vortrags, vor (verkörpert von einem projizierten Einzeller). Sie wäre vermutlich auch der Anknüpfungspunkt gewesen, um zu erörtern, inwiefern die Neuropsychologie zu dem Thema der Veranstaltungsreihe etwas beizutragen vermag, in deren Rahmen Ernst Pöppel gesprochen hat: «Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft».
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Nota. - “Neuropop” ist eine hübsche Wortprägung. Aber ob Neuropotpourri viel besser ist?
…dass der “innere Sinn die Zeit nicht als fließenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreißig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren”: Was soll das denn heißen: der ‘innere Sinn’ “nimmt wahr”? Was ist denn das für eine “Wahr”nehmung, von der keiner was merkt? Merken kommt nicht ohne (wie immer man es definieren mag) Bewusstsein aus. Aber die in dreissig, vierzig Millisekunden pulsieren Hackstückchen kommen doch eben nicht zu Bewusstsein. “Gegeben” ist aber die Zeit, wenn überhaupt, nur dem Bewusstsein. Und im Bewusstsein fließt sie.
Na, und so weiter.
Noch eins sei aber hervorgehoben: “Komplementarität”, “Harmonie” und “Homöostase ” – das ist Neurometaphysik. Nämlich wenn man sie wie wirkende Kräfte vorstellt. Was lässt sich beobachten? Dass in allem Lebenden zwei gegensätzliche Tendenzen vorkommen – eine zum Wachstum ‘aus sich’ oder ‘über sich’ hinaus; und eine andere zur Beharrung im Status quo und zu seiner Wiederherstellung ‘auf erweiterter Skala’. Und wer kann diese ‘Tendenzen’ beobachten? Nur einer, der darauf achtet.
J. E.
Ein Vortrag des Hirnforschers Ernst Pöppel
Von Uwe Justus Wenzel · Das Hirn darf man sich als einen nervösen Menschen vorstellen. In Abständen von wenigen Sekunden fragt es: «Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt?» So – so ungefähr – hat es Ernst Pöppel formuliert. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitende Psychologe sprach am vorgestrigen Abend in der vollbesetzten Aula der Zürcher Universität auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung über das Thema «Gehirn und Persönlichkeit». Zahlreiche Untersuchungen, so liess er wissen, haben ergeben: Drei Sekunden dauern mit messbarer Regelmäßigkeit die Szenen der Aufmerksamkeit, die sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielen. Drei Sekunden währt mithin die Gegenwart; Drei-Sekunden-Einheiten strukturieren die Welt. Ernst Pöppel findet die drei Sekunden in der Dauer eines Händedrucks ebenso wieder wie in der Zeit, die vergeht, bis zappende Fernsehkonsumenten sich entschieden haben, ob sie bei einem Sender verweilen.
Sogar von der Rhythmik der Poesie, der Länge der Verszeilen, lässt der Neurowissenschafter sich seine These bestätigen. Sie läuft in dieser Version auf die Behauptung hinaus, es gebe «biologische Marker» für ästhetische Werte. Mit heiterer und gar nicht nervöser Selbstironie interpretierte Pöppel seinen Ausgriff in die Welt der Kunst als ein Anzeichen für die «Präpotenz» der Hirnforschung. Zu Beginn hatte er sich von einem grassierenden «Neuro-Pop» distanziert, der auf alle Fragen eine neurowissenschaftliche Antwort zu haben vorgaukelt. Nicht an jeder Stelle der locker ineinander geflochtenen Ausführungen war dann aber deutlich, wie demgegenüber so etwas wie eine Neuro-Klassik aussähe, die einer Phantasie der Allzuständigkeit nicht die Zügel schießen ließe. Mussten wir wirklich erst auf die Hirnforschung warten, um zu wissen, dass es leichter fällt, Fremdsprachen in jungen Jahren zu lernen?
Das eigentliche Vortragsthema, «Gehirn und Persönlichkeit», fand im Anschluss an die «Drei-Sekunden-Bühnen» seine Fortsetzung in der Frage, wie überhaupt eine Kontinuität der Selbstwahrnehmung zustande komme, wenn die Aufmerksamkeitsspannen des Bewusstseins so kurz sind (und wenn zudem der innere Sinn die Zeit nicht als fliessenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreissig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren). Pöppels Antwort: durch «semantische Vernetzung und soziale Synchronisation» – dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen.
Das «und» ist Ernst Pöppel wichtig. Er verficht das Prinzip der Komplementarität (das die Leser seines lesenswerten Buches «Der Rahmen» schon kennen): Identität und Dynamik, Rationalität und Gefühl, Autonomie und soziale Einbindung bestimmen das Geschehen. Mit der Komplementarität als Prinzip, das Harmonien aus Gegensätzlichem wirkt, geht dasjenige der Homöostase Hand in Hand: Alle Organismen, vom Einzeller bis zum Menschen, suchen ihr Gleichgewicht und damit sich selbst zu erhalten. Die Homöostase kam freilich nur kurz, am Anfang des anregenden Vortrags, vor (verkörpert von einem projizierten Einzeller). Sie wäre vermutlich auch der Anknüpfungspunkt gewesen, um zu erörtern, inwiefern die Neuropsychologie zu dem Thema der Veranstaltungsreihe etwas beizutragen vermag, in deren Rahmen Ernst Pöppel gesprochen hat: «Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft».
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Nota. - “Neuropop” ist eine hübsche Wortprägung. Aber ob Neuropotpourri viel besser ist?
…dass der “innere Sinn die Zeit nicht als fließenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreißig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren”: Was soll das denn heißen: der ‘innere Sinn’ “nimmt wahr”? Was ist denn das für eine “Wahr”nehmung, von der keiner was merkt? Merken kommt nicht ohne (wie immer man es definieren mag) Bewusstsein aus. Aber die in dreissig, vierzig Millisekunden pulsieren Hackstückchen kommen doch eben nicht zu Bewusstsein. “Gegeben” ist aber die Zeit, wenn überhaupt, nur dem Bewusstsein. Und im Bewusstsein fließt sie.
Na, und so weiter.
Noch eins sei aber hervorgehoben: “Komplementarität”, “Harmonie” und “Homöostase ” – das ist Neurometaphysik. Nämlich wenn man sie wie wirkende Kräfte vorstellt. Was lässt sich beobachten? Dass in allem Lebenden zwei gegensätzliche Tendenzen vorkommen – eine zum Wachstum ‘aus sich’ oder ‘über sich’ hinaus; und eine andere zur Beharrung im Status quo und zu seiner Wiederherstellung ‘auf erweiterter Skala’. Und wer kann diese ‘Tendenzen’ beobachten? Nur einer, der darauf achtet.
J. E.
Bewusst sein.
aus Der Standard, Wien, 31. 7. 2014
Zwischen Schlaf und Koma
Salzburg - Frau A. kann sich nicht bewegen. Sie muss gefüttert, gewickelt, umgebettet und rund um die Uhr umsorgt werden. Vor vier Jahren erlitt A. bei der Operation eines Aneurysmas eine Gehirnblutung. Seitdem ist die Mittfünfzigerin im Wachkoma. Doch ihr linkes Auge ist klar und wach, es folgt dem Geschehen. "Sie versteht komplett. Wenn ich sie etwas frage, antwortet sie. Wir kommunizieren mit den Augen", sagt ihr Lebensgefährte. Er hat darum gekämpft, sie zu Hause pflegen zu dürfen, anstatt sie in einem Heim unterzubringen. Es scheint ihr gut zu tun. Immer wieder zeigt sie Emotionen: Manchmal lacht sie, und sogar geweint habe sie schon.
Etwa 800 bis 1000 Menschen leben laut der österreichischen Wachkoma-Gesellschaft hierzulande im Wachkoma, auch als apallisches Syndrom bekannt. Ausgelöst wird es durch schwere Schädel-Hirn-Verletzungen, etwa infolge eines Unfalls. Die Betroffenen bleiben in einem komaähnlichen Zustand mit zeitweise geöffneten Augen. Wie viel sie tatsächlich wahrnehmen und von ihrer Umgebung mitbekommen, bleibt aber meist ein Rätsel.
43 Prozent Fehldiagnosen
Nicht alle haben wie Frau A. das Glück, dass jemand an sie glaubt. "Die Fähigkeit von Wachkomapatienten, die Außenwelt wahrzunehmen, wird systematisch unterschätzt", sagt Manuel Schabus. "Studien haben gezeigt, dass es bis zu 43 Prozent Fehldiagnosen gibt." Der Schlafforscher von der Universität Salzburg entwickelt verlässlichere Diagnose- und Prognoseverfahren. Seine Arbeit wurde kürzlich mit einem Start-Preis des Wissenschaftsfonds FWF belohnt - das ist die höchste Auszeichnung für Nachwuchsforscher in Österreich.
"Üblicherweise wird der Zustand der Patienten anhand ihrer sprachlichen und körperlichen Reaktionen auf Reize eingeschätzt. Das ist sehr schwierig, da manche völlig bewegungsunfähig sind. Wir messen die Reaktionen direkt im Gehirn, um zu verstehen, was Wachkomapatienten noch wahrnehmen und erleben."
Fließende Übergänge
Wo fängt Bewusstsein an, und wo hört es auf? Das ist eine der zentralen Fragen, die Schabus und sein Team aus Psychologen im Labor für Schlaf-, Kognitions- und Bewusstseinsforschung der Uni Salzburg beschäftigt. Denn nicht nur im Wachkoma, auch im Alltag verschwimmen die Grenzen zwischen den Bewusstseinsstadien, am eindrucksvollsten beim Einschlafen oder Träumen.
Um mehr darüber herauszufinden, wie viel Bewusstsein überhaupt nötig ist, um Reize und Informationen zu verarbeiten, testet Schabus per Gehirnwellenmessung (EEG), was gesunde Testpersonen in den unterschiedlichen Schlafphasen wahrnehmen. "Wir wissen bereits, dass das Gehirn im Leichtschlaf und auch in bestimmten Wachkomazuständen auf den eigenen Namen stärker als auf fremde Namen reagiert."
Mit der Stimme der Mutter
Inwieweit komplexere Informationen verarbeitet werden können und ob im Tief- und Traumschlaf noch Reize unterschieden werden können, soll nun weiter erforscht werden. Dazu werden zunächst 30 gesunde Probanden in den verschiedenen Schlafphasen mit sechs Namen, darunter dem eigene, konfrontiert - einmal mit der Stimme der Mutter gesprochen und einmal mit einer unbekannten Stimme. "Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass Wachkomapatienten für emotional besetzte Reize empfänglicher sind", erklärt Schabus.
Um feststellen zu können, welche Rolle das Bewusstsein bei der Reizverarbeitung spielt, werden die schlafenden Testpersonen in der Folge instruiert, sich auf einen bestimmten Namen zu konzentrieren. Ist tatsächlich Bewusstsein im Spiel und nicht nur ein automatischer Prozess im Gange, müsste die Gehirnantwort bei dem entsprechenden Namen stärker ausfallen, so die Forscher.
Die Ergebnisse der Gehirnwellenmessungen im Schlaf sollen dann als Basis für EEG-Tests mit Wachkomapatienten dienen. Das Wissenschafterteam arbeitet dazu mit der Albert-Schweitzer-Klinik in Graz und dem Geriatriezentrum am Wienerwald zusammen. "Es sollen jeweils 30 Personen mit minimalem Bewusstsein sowie mit apallischem Syndrom getestet werden, einmal kurz nach der Verletzung und dann nach größeren Zeitabständen."
Schlafspindeln
Ziel der Studie ist es, auf Basis der jeweiligen Gehirnaktivitäten auf die voraussichtliche Entwicklung des Patienten zu schließen. Ein wichtiger Marker sind die sogenannten Schlafspindeln, benannt nach sekundenschnellen, spindelähnlichen Ausschlägen am EEG, die besonders während des Einschlafens und im Leichtschlaf regelmäßig auftreten.
Schabus konnte bereits vor einigen Jahren zeigen, dass die Spindeln eine zentrale Rolle bei der Reaktion des Gehirns auf Reize spielen. Sobald sie auftauchen, ist der Draht zur Außenwelt unterbrochen, das Gehirn kann keinerlei Reize aufnehmen. Andererseits weisen sie auf eine gute neuronale Vernetzung im Gehirn hin und stehen mit hoher Intelligenz und Leistungsfähigkeit in Verbindung.
Während der Spindelaktivität ist das Gehirn quasi mit sich selbst beschäftigt: Vermutlich werden Informationen abgespeichert und ins Langzeitgedächtnis integriert. "Die Spindel erlaubt somit sowohl eine Aussage über die verbleibende Vernetzung als auch über die Lernfähigkeit im geschädigten Gehirn" - was entscheidend für die Wahl der Therapie sein kann.
Gestörter Tag-Nacht-Rhythmus
Ebenso wichtig für eine möglichst treffende Prognose des Komaverlaufs ist der richtige Testzeitpunkt: "Viele Wachkomapatienten haben einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus. Oft sind sie nur wenige Minuten aufnahmefähig - und das unregelmäßig über den ganzen Tag verteilt", betont Schabus. Daher werden die Patienten vor den Tests mehrere Wochen lang mithilfe von Bewegungssensoren, Kameras und Hormonmessungen beobachtet.
Normalerweise wird das Hormon Melatonin beim Einschlafen ausgeschüttet, beim Aufwachen sinkt der Spiegel hingegen wieder. Durch Hormongaben am Abend und Lichtstimulationen tagsüber soll der Tag-Nacht-Rhythmus verbessert werden, wodurch sich das Gehirn und der gesamte Organismus besser regenerieren und der optimale Testzeitpunkt festgelegt werden kann.
Keine Diskussion nach Fall Schuhmacher
Falsche Diagnosen können fatale Folgen haben: "In den USA kann es sein, dass Personen in einem kritischen Zustand gar nicht mehr wiederbelebt werden", sagt Schabus. "Auch in Österreich gibt es keine klaren Richtlinien, was in den verschiedenen Komaphasen gemacht werden soll, um die Rehabilitation bestmöglich zu fördern oder wann eine weitere Behandlung nicht zielführend scheint." Der Psychologe bedauert, dass auch der Fall Michael Schuhmacher keine ethische Diskussion zum Thema Wachkoma angestoßen hat. Die einzige Möglichkeit, um selbst zu entscheiden, ist die Patientenverfügung - doch die wird nach wie vor zu wenig genutzt.
Link
Labor für Schlaf-, Kognitions- und Bewusstseinsforschung
Nota.
Es ist zu begrüßen, dass durch solche Forschungen das "Bewusstsein" aus seinem metaphysischen Dunst herausgeholt wird. Bewusstsein ist kein Zustand, keine 'Schicht', keine Seinsweise, die 'es' auch dann gäbe, wenn ich nicht 'bei Bewusstsein' wäre. 'Es gibt' mein sein, und dabei bin ich mal bewusster, mal weniger bewusst, in zahllosen Stufen, oder richtiger: in stetem Gleiten. 'Stufen' unterscheiden 'sich' nicht in meinem Kopf, sondern allenfalls auf dem Schreibpapier der Forscher.
JE
Zwischen Schlaf und Koma
Die Grenzen des Bewusstseins
Die Fähigkeiten von Wachkomapatienten werden systematisch unterschätzt, sagt der Salzburger Psychologe Manuel Schabus - er erforscht, was wirklich in ihnen vorgeht
Salzburg - Frau A. kann sich nicht bewegen. Sie muss gefüttert, gewickelt, umgebettet und rund um die Uhr umsorgt werden. Vor vier Jahren erlitt A. bei der Operation eines Aneurysmas eine Gehirnblutung. Seitdem ist die Mittfünfzigerin im Wachkoma. Doch ihr linkes Auge ist klar und wach, es folgt dem Geschehen. "Sie versteht komplett. Wenn ich sie etwas frage, antwortet sie. Wir kommunizieren mit den Augen", sagt ihr Lebensgefährte. Er hat darum gekämpft, sie zu Hause pflegen zu dürfen, anstatt sie in einem Heim unterzubringen. Es scheint ihr gut zu tun. Immer wieder zeigt sie Emotionen: Manchmal lacht sie, und sogar geweint habe sie schon.
Etwa 800 bis 1000 Menschen leben laut der österreichischen Wachkoma-Gesellschaft hierzulande im Wachkoma, auch als apallisches Syndrom bekannt. Ausgelöst wird es durch schwere Schädel-Hirn-Verletzungen, etwa infolge eines Unfalls. Die Betroffenen bleiben in einem komaähnlichen Zustand mit zeitweise geöffneten Augen. Wie viel sie tatsächlich wahrnehmen und von ihrer Umgebung mitbekommen, bleibt aber meist ein Rätsel.
43 Prozent Fehldiagnosen
Nicht alle haben wie Frau A. das Glück, dass jemand an sie glaubt. "Die Fähigkeit von Wachkomapatienten, die Außenwelt wahrzunehmen, wird systematisch unterschätzt", sagt Manuel Schabus. "Studien haben gezeigt, dass es bis zu 43 Prozent Fehldiagnosen gibt." Der Schlafforscher von der Universität Salzburg entwickelt verlässlichere Diagnose- und Prognoseverfahren. Seine Arbeit wurde kürzlich mit einem Start-Preis des Wissenschaftsfonds FWF belohnt - das ist die höchste Auszeichnung für Nachwuchsforscher in Österreich.
"Üblicherweise wird der Zustand der Patienten anhand ihrer sprachlichen und körperlichen Reaktionen auf Reize eingeschätzt. Das ist sehr schwierig, da manche völlig bewegungsunfähig sind. Wir messen die Reaktionen direkt im Gehirn, um zu verstehen, was Wachkomapatienten noch wahrnehmen und erleben."
Fließende Übergänge
Wo fängt Bewusstsein an, und wo hört es auf? Das ist eine der zentralen Fragen, die Schabus und sein Team aus Psychologen im Labor für Schlaf-, Kognitions- und Bewusstseinsforschung der Uni Salzburg beschäftigt. Denn nicht nur im Wachkoma, auch im Alltag verschwimmen die Grenzen zwischen den Bewusstseinsstadien, am eindrucksvollsten beim Einschlafen oder Träumen.
Um mehr darüber herauszufinden, wie viel Bewusstsein überhaupt nötig ist, um Reize und Informationen zu verarbeiten, testet Schabus per Gehirnwellenmessung (EEG), was gesunde Testpersonen in den unterschiedlichen Schlafphasen wahrnehmen. "Wir wissen bereits, dass das Gehirn im Leichtschlaf und auch in bestimmten Wachkomazuständen auf den eigenen Namen stärker als auf fremde Namen reagiert."
Mit der Stimme der Mutter
Inwieweit komplexere Informationen verarbeitet werden können und ob im Tief- und Traumschlaf noch Reize unterschieden werden können, soll nun weiter erforscht werden. Dazu werden zunächst 30 gesunde Probanden in den verschiedenen Schlafphasen mit sechs Namen, darunter dem eigene, konfrontiert - einmal mit der Stimme der Mutter gesprochen und einmal mit einer unbekannten Stimme. "Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass Wachkomapatienten für emotional besetzte Reize empfänglicher sind", erklärt Schabus.
Um feststellen zu können, welche Rolle das Bewusstsein bei der Reizverarbeitung spielt, werden die schlafenden Testpersonen in der Folge instruiert, sich auf einen bestimmten Namen zu konzentrieren. Ist tatsächlich Bewusstsein im Spiel und nicht nur ein automatischer Prozess im Gange, müsste die Gehirnantwort bei dem entsprechenden Namen stärker ausfallen, so die Forscher.
Die Ergebnisse der Gehirnwellenmessungen im Schlaf sollen dann als Basis für EEG-Tests mit Wachkomapatienten dienen. Das Wissenschafterteam arbeitet dazu mit der Albert-Schweitzer-Klinik in Graz und dem Geriatriezentrum am Wienerwald zusammen. "Es sollen jeweils 30 Personen mit minimalem Bewusstsein sowie mit apallischem Syndrom getestet werden, einmal kurz nach der Verletzung und dann nach größeren Zeitabständen."
Schlafspindeln
Ziel der Studie ist es, auf Basis der jeweiligen Gehirnaktivitäten auf die voraussichtliche Entwicklung des Patienten zu schließen. Ein wichtiger Marker sind die sogenannten Schlafspindeln, benannt nach sekundenschnellen, spindelähnlichen Ausschlägen am EEG, die besonders während des Einschlafens und im Leichtschlaf regelmäßig auftreten.
Schabus konnte bereits vor einigen Jahren zeigen, dass die Spindeln eine zentrale Rolle bei der Reaktion des Gehirns auf Reize spielen. Sobald sie auftauchen, ist der Draht zur Außenwelt unterbrochen, das Gehirn kann keinerlei Reize aufnehmen. Andererseits weisen sie auf eine gute neuronale Vernetzung im Gehirn hin und stehen mit hoher Intelligenz und Leistungsfähigkeit in Verbindung.
Während der Spindelaktivität ist das Gehirn quasi mit sich selbst beschäftigt: Vermutlich werden Informationen abgespeichert und ins Langzeitgedächtnis integriert. "Die Spindel erlaubt somit sowohl eine Aussage über die verbleibende Vernetzung als auch über die Lernfähigkeit im geschädigten Gehirn" - was entscheidend für die Wahl der Therapie sein kann.
Gestörter Tag-Nacht-Rhythmus
Ebenso wichtig für eine möglichst treffende Prognose des Komaverlaufs ist der richtige Testzeitpunkt: "Viele Wachkomapatienten haben einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus. Oft sind sie nur wenige Minuten aufnahmefähig - und das unregelmäßig über den ganzen Tag verteilt", betont Schabus. Daher werden die Patienten vor den Tests mehrere Wochen lang mithilfe von Bewegungssensoren, Kameras und Hormonmessungen beobachtet.
Normalerweise wird das Hormon Melatonin beim Einschlafen ausgeschüttet, beim Aufwachen sinkt der Spiegel hingegen wieder. Durch Hormongaben am Abend und Lichtstimulationen tagsüber soll der Tag-Nacht-Rhythmus verbessert werden, wodurch sich das Gehirn und der gesamte Organismus besser regenerieren und der optimale Testzeitpunkt festgelegt werden kann.
Keine Diskussion nach Fall Schuhmacher
Falsche Diagnosen können fatale Folgen haben: "In den USA kann es sein, dass Personen in einem kritischen Zustand gar nicht mehr wiederbelebt werden", sagt Schabus. "Auch in Österreich gibt es keine klaren Richtlinien, was in den verschiedenen Komaphasen gemacht werden soll, um die Rehabilitation bestmöglich zu fördern oder wann eine weitere Behandlung nicht zielführend scheint." Der Psychologe bedauert, dass auch der Fall Michael Schuhmacher keine ethische Diskussion zum Thema Wachkoma angestoßen hat. Die einzige Möglichkeit, um selbst zu entscheiden, ist die Patientenverfügung - doch die wird nach wie vor zu wenig genutzt.
Link
Labor für Schlaf-, Kognitions- und Bewusstseinsforschung
Nota.
Es ist zu begrüßen, dass durch solche Forschungen das "Bewusstsein" aus seinem metaphysischen Dunst herausgeholt wird. Bewusstsein ist kein Zustand, keine 'Schicht', keine Seinsweise, die 'es' auch dann gäbe, wenn ich nicht 'bei Bewusstsein' wäre. 'Es gibt' mein sein, und dabei bin ich mal bewusster, mal weniger bewusst, in zahllosen Stufen, oder richtiger: in stetem Gleiten. 'Stufen' unterscheiden 'sich' nicht in meinem Kopf, sondern allenfalls auf dem Schreibpapier der Forscher.
JE
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