von Wilhelm von Ockham
aus Summa Logicae I,15
(1) Weil es nicht genügt, diese Dinge zu erzählen, wenn sie nicht durch offensichtliche Gründe aufgewiesen werden, deshalb führe ich zum Gesagten einige Gründe an und bestätige das Gesagte durch einige Zitate.
(2) Es kann mit Evidenz aufgewiesen werden, daß kein Universale eine extramentale Substanz ist.
(3) Erstens so: Kein Universale ist eine Einzelsubstanz und der Zahl nach eines. Behauptet man das Gegenteil, dann ergäbe sich, daß Sokrates ein Universale wäre, weil es keinen einleuchtenden Grund gibt, wieso ein Universale eher eine Einzelsubstanz wäre als ein anderes. Keine Einzelsubstanz ist irgendein Universale, sondern jede Substanz ist der Zahl nach eine und eine Einzelsubstanz, weil jede Substanz entweder ein Ding ist und nicht viele oder mehrere Dinge. Wenn sie ein Ding ist und nicht mehrere, dann ist sie der Zahl nach eine; dies nämlich wird von allen das der Zahl nach Eine genannt.
Wenn aber eine Substanz mehrere Dinge ist, dann ist sie mehrere Einzeldinge oder mehrere Universalien. Wenn das erste gilt, dann ergibt sich, daß eine Substanz mehrere Einzelsubstanzen wäre; aus dem gleichen Grund könnte man sagen, daß eine Substanz mehrere Menschen sei; und dann folgt, obschon das Universale von einem Besonderen unterschieden würde, daß es von den Besonderen nicht unterschieden würde. Wenn hingegen eine Substanz mehrere Universalien wäre, dann nehme ich eines davon und frage: Entweder ist es mehrere Dinge oder eines und nicht mehrere. Im zweiten Falle ergibt sich, daß es ein Einzelding ist; im ersten Fall frage ich: Entweder handelt es sich um mehrere Einzeldinge oder um mehrere Universalien. Es ergibt sich dann entweder ein unendlicher Prozess, oder man kommt zu dem Schluß, daß keine Substanz ein Universale ist, so, daß sie nicht ein Einzelnes ist. Daraus ergibt sich, daß keine Substanz universal ist.
(4) Ferner: Wenn ein Universale eine Substanz wäre, welche in vielen Einzelsubstanzen existierte und dennoch davon verschieden wäre, dann folgte, daß es ohne diese existieren könnte, weil jedes Ding, das natürlicherweise früher ist als ein anderes, durch die göttliche Allmacht ohne dieses andere existieren kann. Diese Folgerung aber ist absurd.
(5) Ferner: Wenn diese Meinung wahr wäre, dann könnte kein Individuum (b) erschaffen werden, wenn ein anderes (a) bereits existierte, denn (b) würde nicht aus dem Nichts erschaffen, wenn das Universale, das in ihm ist, zuerst in anderem (a) war. Wegen des gleichen Grundes würde folgen, daß Gott nicht ein Individuum einer bestimmten Art von Substanz vernichten könnte, ohne zugleich die anderen Individuen derselben Art zu vernichten; denn wenn er ein Individuum vernichten würde, dann vernichtete er alles, was zum Wesen des Individuums gehörte; und folglich vernichtete er auch jenes Universale, das in ihm und in den anderen ist; die anderen Individuen würden also nicht mehr weiter existieren, da sie nicht ohne jenen Teil, welcher als Universale gesetzt wird, weiter existieren könnten.
(6) Ferner: Ein solches Universale könnte nicht als etwas gesetzt werden, das ganz und gar vom Wesen des Individuums verschieden ist. Es gehörte also zum Wesen des Individuums, und das Individuum wäre folglich aus Universalien zusammengesetzt. Und so wäre das Individumm nicht mehr Einzelnes als Universale.
(7) Ferner: Es ergäbe sich, daß etwas vom Wesen Christi elend und verdammt wäre, denn die gemeinsame Natur, die wirklich in Christus und dem Verdammten existierte, wäre verdammt, weil Judas daran teilhätte. Das ist aber absurd.
(8) Man könnte viele andere Gründe anführen. Um der Kürze willen übergehe ich sie und bestätige denselben Schlußsatz durch Autoritäten.
... (9) Aus den vorangegangenen Autoritäten und vielen anderen ergibt sich, daß kein Universale eine Substanz ist, wie auch immer man es betrachten mag. Deshalb bewirkt die Betrachtung des Intellekts nicht, daß etwas eine Substanz sei oder nicht, obschon die Bedeutung der Termini bewirkt, daß von etwas - nicht für sich selbst - der Name Substanz ausgesagt wird, oder nicht. In diesem Sinne ist der Satz Der Hund ist ein Tier, wenn Hund für bellendes Tier steht, wahr, nicht aber, wenn der Ausdruck Hund für ein Gestirn steht. Es ist aber unmöglich, daß dasselbe Ding wegen einer Betrachtung eine Substanz sei, wegen einer anderen aber nicht.
Man muß also ohne Einschränkung zugestehen, daß keine Universale eine Substanz ist, wie man es auch betrachten mag. Jedes Universale ist eine Intention der Seele, welche gemäß einer wahrscheinlichen Meinung sich vom Erkenntnisakt nicht unterscheidet. Deshalb sagen sie, der Erkenntnisakt, durch den ich den Menschen erkenne, sei ein natürliches Zeichen der Menschen; natürlich in der Weise wie das Stöhnen Zeichen der Krankheit, der Trauer oder des Schmerzes ist. Und der Erkenntnisakt ist ein solches Zeichen, das in mentalen Aussagen für die Menschen stehen kann, gleich wie Laute in gesprochenen Aussagen für Dinge stehen.
(11) Avicenna sagt im fünften Buch seiner Metaphysik deutlich genug, das Universale sei eine Intention der Seele, an der Stelle, wo er bemerkt: "Ich sage, daß Universale auf dreifache Weise gebraucht wird. Man nennt nämlich etwas Universale, weil es tatsächlich von vielen ausgesagt wird, z.B. Mensch; und man nennt Universale eine Intention, die von vielen ausgesagt werden kann." Und es folgt: "Das Universale wird Intention genann; und nichts verbietet zu vermeinen, daß sie von vielen ausgesagt wird."
(12) Aus diesen Sätzen und aus vielen anderen Stellen erhellt, daß das Universale eine Intention der Seele ist, die von vielen ausgesagt werden kann.
(13) Dies kann durch Vernunftgründe bekräftigt werden, denn jedes Universale kann, gemäß der Auffassung aller, von vielen ausgesagt werden. Aber nur eine Intention oder ein konventionell eingesetztes Zeichen, nicht aber eine Substanz, hat diese Fähigkeit. Also ist nur eine Intention der Seele oder ein konventionelles Zeichen ein Universale. Jetzt aber gebrauche ich Universale nicht für ein konventionelles Zeichen, sondern für das, was von der Natur aus ein Universale ist.
(14) Daß eine Substanz nicht ausgesagt werden kann, ist offensichtlich, weil, wenn dies der Fall wäre, dann eine Aussage als Einzelsubstanzen zusammengesetzt wäre. Folglich wäre das Subjekt in Rom und das Prädikat in England, was absurd ist.
(15) Ferner: Eine Aussage ist entweder im Geiste, oder sie wird gesprochen oder geschrieben. Ihre Teile also können nur als gedachte, gesprochene oder geschriebene vorkommen. Von dieser Art sind aber keine Einzelsubstanzen. Es steht also fest, daß keine Aussage aus Substanzen zusammengesetzt ist. Eine Aussage ist aus Universalien zusammengesetzt. Die Universalien sind deshalb auf keine Weise Substanzen.
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aus Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, lat.- dt.(Hrsg. Ruedi Imbach), Stuttgart 1984
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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