Freitag, 5. September 2014

Thomas Hobbes über die Einbildungskraft.


Hobbes 1676, mit 89 Jahren. 

von Thomas Hobbes
aus Leviathan
Zweiter Abschnitt 
Vorstellungskraft

Was einmal ruht, wird, wenn es nicht anderweitig in Bewegung gesetzt wird, immer in Ruhe bleiben; - das leuchtet wohl einem jeden ein. Daß aber ein einmal in Bewegung gebrachter Körper sich, wenn er nicht anderweitig daran gehindert wird, ohne Aufhören fortbewegen werde, das ist (obgleich der nämliche Satz: nichts vermag sich selbst zu bewegen, hierbei zugrunde liegt) nicht so einleuchtend. Denn die Menschen beurteilen gewöhnlich alles nach sich; wenn sie nun gewahr werden, daß bei ihnen auf Bewegung Mißbehagen und Ermüdung folgt, so vermuten sie bei allen bewegten Körpern ein Gleiches, als wenn diese zuletzt ermüdet nach Ruhe strebten. Sie denken aber nicht daran, daß das Streben nach Ruhe selbst eine Bewegung in sich faßt. Hierauf gründet sich der Lehrsatz in den Schulen: schwere Körper fallen, aus ihrem Streben nach Ruhe und um ihrer Selbsterhaltung willen, an die für sich schicklichsten Örter nieder; und so schreiben sie leblosen Dingen ein Streben und eine Erkenntnis dessen, was ihnen nutzt und schadet (woran es dem Menschen so gar oft fehlt) ganz unrichtig zu.

So bald ein Körper in Bewegung gebracht worden ist, so wird er, wenn kein anderer Körper es hindert, sich immer weiter fortbewegen; und dieses Hindernis hemmt die Bewegung nicht immer auf einmal, sondern auch allmählich und nachgerade. Wie auf dem Meer nicht dann gleich Ruhe einkehrt, sobald sich der Sturm legt; ebenso ist es auch mit der Bewegung im Menschen, wenn er sieht, träumt usw. Denn wenn sich der Gegenstand auch wirklich entfernt, oder das Auge geschlossen wird, bleibt dessen Bild dennoch unserer Seele, wie wohl etwas dunkler, gegenwärtig. Dieses Bild aber hat die Benennung Einbildungskraft veranlaßt. Noch richtiger nennen es die Griechen phantasia, es entstehe durch welchen Sinn es wolle; Bild aber kann nur eigentlich von Gegenständen des Gesichts gesagt werden. Die Einbildungskraft ist daher nichts als die aufhörende Empfindung, oder die geschwächte und verwischte Vorstellung, und ist sowohl dem Menschen, als auch fast allen Tieren gemein, sie mögen schlafen oder wachen.

Daß nach der Entfernung des Gegenstandes die Vorstellung schwächer wird, rührt nicht von der verringerten Bewegung des Empfinders her, sondern von anderen Gegenständen, die unsere Sinne beschäftigen. Gleichwie der stärkere Sonnenglanz den Schimmer der Sterne verdunkelt, ob sie gleich an und für sich bei Tage so gut als bei Nacht gesehen werden könnten. Aber weil unter den vielen und mannigfaltigen Eindrücken, welche die Augen, Ohren und die übrigen Sinneswerzeuge, durch das alles, was von außenher auf sie wirkt, bei Tage bekommen, bloß der stärkste Eindruck empfunden wird; so ist auch der vorzüglich starke Sonnenglanz die Ursache, daß die Eindrücke der Sterne eben nicht von uns bemerkt werden. Wenn auch nach der Entfernung des Gegenstandes der Eindruck bleibt, so wird dennoch, durch die nachherigen Gegenstände und deren Wirkung, die Vorstellung des Vorhergehenden geschwächt und verdunkelt, wie die Stimme eines Menschen beim Gewühl am Tage. Je älter also ein Anblick oder die ehemalige Vorstellung eines Gegenstandes wird, je schwächer wird dessen Bild oder Vorstellung bei uns. Auch eine fortdauernde Veränderung der körperlichen Werkzeuge zerstört mit der Zeit manches, welches bei der Empfindung in Bewegung gesetzt wurde, und folglich sind hierin die Länge der Zeit und die Entfernung des Ortes bei uns von einerlei Wirkung. Denn wie in einer großen Entfernung uns Gegenstände wenig deutlich erscheinen, so daß wie die kleineren Teile derselben nicht unterscheiden können, die Stimmen uns auch schwächer und einförmig vorkommen; ebenso verliert sich, nach Verlauf eines beträchtlichen Zeitraumes, auch allmählich die Vorstellung des Vergangenen, es entfallen uns z. B. von den Städten, welche wir sahen, manche Straßen, und von den Handlungen manche Nebenumstände. Die schwächer gewordene Empfindung, im Hinblick auf die Vorstellung selbst, nennen wir, wie schon gesagt,  Einbildung;  sehen wir aber auf das Schwächerwerden, so heißt dasselbe  Gedächtnis so daß folglich Einbildung und Gedächtnis eins ist, und nur in dieser verschiedenen Hinsicht auch verschiedene Benennungen bekommt.

Wer sich dieser Ereignisse erinnern kann, hat Erfahrung. Wenn wir uns nur die Gegenstände vorstellen; die wir ehedem entweder auf einmal, oder Stückweise durch unsere Sinne vernahmen, so ist die Vorstellung, insofern sie den ganzen Gegenstand auf einmal enthält, eine  einfache  Einbildung; wie wenn sich z. B. jemand einen Menschen oder ein Pferd, welches er einmal sah, vorstellt. Die Vorstellung aber, welche aus der Empfindung einzelner Teile von verschiedenen Dingen entsteht, wie wenn wir vom gehabten Anblick eines Menschen zu einer Zeit und vom Anblick eines Pferdes zu einer anderen Zeit veranlaßt werden, uns einen Zentauren zu denken, heißt eine zusammengesetzte Einbildung. So oft wie jemand die Vorstellung seiner eigenen Person mit der Vorstellung von den Handlungen eines anderen Menschen verbindet, wie etwa, wenn sich jemand einbildet, er sei Herkules oder Alexnder, (wie es dem leidenschaftlichen Leser von Heldengeschichten oft ergeht), so ist das eine zusammengesetzte Einbildung und ein bloßes Hirngespinst. Es entstehen auch in uns, sogar wenn wir wachen, viele andere Vorstellungen aus dem bei der ersten Empfindung gemachten tiefen Eindruck; denn ein scharfer Blick in die Sonne läßt noch lange Zeit in kleines Sonnenbild wie einen Fleck in unseren Augen zurück, und nach einer anhaltenden und aufmerksamen Betrachtung geometrischer Figuren stellen sich uns im Dunklen, auch wenn wir raten, Linien und Winkel vor. Ob diese Art von Vorstellung eine eigenen Benennung habe, ist mir unbekannt; es ist selten hiervon die Rede.

Die Vorstellungen der Schlafenden sind Träume. Auch sie entstehen wie alle übrigen Vorstellungen entweder ganz, oder zum Teil aus der Empfindung. Und weil die notwendigen Werkzeuge der Empfindung, das Gehirn und die Nerven, im Schlaf so stumpf werden, daß sie durch äußere Gegenstände sehr schwer in Bewegung gesetzt werden; so können Schlafende gar keine Einbildung haben, folglich auch keinen Traum, außer insofern dergleichen von der inneren Bewegung des empfindenden Körpers vorgebracht wird; da die inneren Teile (wegen der Verbindung, worin sie mit dem Gehirn stehen) zur Unzeit oft ihre Werkzeuge bewegen, und es so bewirken, daß sich ehemalige Vorstellungen dem Träumenden so gut vergegenwärtigen, als ob er wache. Weil aber angenommen wird: daß, während des Schlafes, die Werkzeuge der Sinne jedes neuen Eindrucks unfähig sind, so daß also kein neuer Gegenstand auf sie wirken kann, so muß bei diesem Ruhestand der Sinne ein Traum eine weit größere Klarheit haben, als alle Vorstellung eines Wachenden. Dies ist auch die Ursache, weshalb es so schwer, ja manchen fast unmöglich zu sein scheint, eine Empfindung von einem Traum richtig zu unterscheiden. Wenn ich erwäge, daß ich mir im Traum selten und nicht immer dieselben Gegenstände, Orte, Personen und Handlungen vorstelle, die ich wachend bemerke, noch daß ich mir im Traum keiner so langen und zusammenhängenden Reihe von Gedanken bewußt sein kann, als sonst; und weil ich im Wachen sehr oft das Widersinnige in meinen Träumen gewahre, welches ich aber während des Traumes nicht zu tun imstande bin, so überzeugt mich dies hinlänglich, daß ich im Wachen mir dessen, daß ich nicht träume, bewußt bin, ob ich gleich im Traum wirklich zu wachen glaube.

Weil jedoch die Entstehung der Träume in der Unbehaglichkeit einiger inneren Teile des Körpers ihren Grund haben soll, so werden notwendig, je nachdem dieselbe verschieden ist, auch verschiedene Träume entstehen. Daher kommts, daß diejenigen, welche auf dem Lager Kälte empfinden, gewöhnlich fürchterliche Träume haben und Schreckensbilder zu erblicken glauben, (denn die Bewegung vom Gehirn zu den übrigen Teilen geht von hieraus zu jenem wieder zurück). So wie auch ferner der Zorn im Wachen einige innere Teile erhitzt: so bewirkt auch die Erhitzung dieser Teile im Schlaf den Zorn, und schafft im Gehirn das Bild eines Feindes. Noch eins: Wie der Anblick von Liebenden im Wachen Liebe erzeugt und einige innere Teile erhitzt, so bringt gleichfalls die Erhitzung dieser Teile im Schlaf das Bild der Liebe hervor. Mit einem Wort, die Träume und die Vorstellungen eines Wachenden sind umgekehrt miteinander verbunden, nämlich im Wachen entsteht die Bewegung im Gehirn, im Schlaf hingegen in den inneren Teilen.

Sobald wir uns etwa nicht deutlich bewußt sein, daß wir wirklich einschlafen, wird es auch allemal schwer sein, Träume von wahren Vorstellungen zu unterscheiden. ... Daß man Träume und andere lebhafte Vorstellungen von dem, was man sah und empfand, nicht zu unterscheiden wußte, dies veranlaßte hauptsächlich die Religion der alten heidnischen Völker, welche Satyre, Faune, Nymphen und ähnliche Hirngespinste verehrten; so wie auch den Wahn, den noch heutzutage unausgebildete Menschen von Werwölfen und Poltergeistern und von der großen Macht der Zauberer hegen. Wenn ich übrigens gleich die Zauberei für ein Unding ansehe, so billige ich doch die Bestrafung der Zauberer, da sie dergleichen Verbrechen nicht bloß für möglich halten, sondern sie auch, so weit es in ihren Kräften steht, sich zu begehen mühen. Indessen kommt mir die Zauberei keineswegs als etwas Wahres oder als eine Kunst der Wissenschaft vor, vielmehr glaube ich: daß es überspannte Begriffe sind, die man vorsätzlich unterhält. Was aber die Poltergeister und Gespenster betrifft, so ist, meiner Meinung nach, der bisherige Wahn davon mit Fleiß fortgepflanzt, oder wenigstens nicht widerlegt worden, weil sonst die Beschwörungen, das Einsegnen, das Besprengen mit Weihwasser und andere ähnliche Dinge, die den Geistlichen viel einbringen, dabei gelitten haben würden. Daß jedoch Gott übernatürliche Vorstellungen wirken könne, ist außer allem Zweifel; daß er es indessen so häufig tun sollte, daß dadurch eine größere Furcht erregt werden müßte, als durch die Hemmung oder Umwandlung der Natur, welches ebensogut in der Gewalt Gottes steht, das ist kein christlicher Glaubensartikel; sondern schlechte Menschen erfrechen sich aus dem Grund "Gott sei alles möglich", all das als wahr zu behaupten, was ihnen Vorteil schaffen kann, obgleich sie im Grunde vom Gegenteil überzeugt sind. Jeder Verständige muß aber ihren Behauptungen nicht weiter Glauben beimessen, als die gesunde Vernunft es erlaubt. Wäre diese Furcht vor Gespenstern, die Traumdeuterei und mehr noch, welches hiermit in Verbindung steht, dessen sich stolze und listige Menschen zum Nachteil des gemeinen Mannes leider bedienen, verdrängt: so würde sich beim Bürger jeden Staates wirklich weit mehr Lust zum Gehorsam finden.

Dafür müßten nun die Schulen sorgen, die aber, anstatt solche Lehren zu widerlegen, sie vielmehr oft ausbreiten. Da sie nämlich die Einbildung und Empfindung ihrer Beschaffenheit nach nicht kennen, so beten sie nur das nach, was andere ihnen vorsagen. Einige lehre: die Einbildungen entstünden von selbst, also ohne allen Grund; andere schreiben sie einem Willen zu, so daß die guten Gedanken von Gott, die bösen aber vom Teufel dem Menschen eingegeben oder eingeflößt würden. Schließlich sagen andere noch: Wenn unsere Sinne die Eindrücke von den Dingen empfangen, so überliefern sie dieselben dem Verstand, der Verstand der Einbildungskraft, die Einbildungskraft dem Gedächtnis, das Gedächtnis der Urteilskraft, und werden bei allem Aufwand von Worten durchaus unverständlich.

Die Vorstellung, welche bei Menschen und Tieren durch Sprache oder andere willkürliche Zeichen hervorgebracht wird, heißt  Verstand,  und diesen hat der Mensch mit den vernunftlosen Tieren gemein; denn z. B. der Hund kann so abgerichtet werden, daß er weiß, ob sein Herr ihn herbeiruft oder von sich weist. Man findet dies auch noch bei mehreren Tieren. Der dem Menschen eigentümliche Verstand aber ist ein solcher, der nicht allein die Willensmeinung, sondern auch die Begriffe und Gedanken anderer Menschen einsieht, und zwar durch Folgerungen und durch die Zusammensetzung der Benennungen der Dinge, woraus bejahende, verneinende und andere Redensarten entstehen. Von dieser Art des Verstandes werden wir weiter unten handeln.

aus Thomas Hobbes, Leviathan oder der kirchliche und bürgerliche Staat, Halle 1794


Nota. 

So energisch Hobbes einerseits Nominalist war, so entschieden war er auch Sensualist. Einbildungskraft entstünde durch das mehr oder minder alterierte Erinnern an vergangene Sinneseindrücke, und er zögert nicht, das mit dem griechischen Wort phantasia zu erläutern. Und in der Tat ist es schwer vorstellbar, wie das Gemüt, die Seele, die Intelligenz oder wie immer man es nennen mag, aus sich selber den Eindruck sinnlicher Erlebnisse produzieren könnte, für die es in seiner Lebensgeschichte keinerlei Vor-Bild gab. (Hier geht es um reale Psychologie, nicht um philosophische Abstraktionen.) Von unserer Lebenserfahrung her fällt es schwer, sich Einbildungen anders zu erklären als durch Erinnerung.

Die Hirnphysiologie erklärt die Gedächtnisspuren aus Verschaltungen zwischen Nervenzellen. Diese entstehen allerdings nicht erst mit dem Beginn des individuellen Erlebens. Millionenfach, milliardenfach werden sie durch die gattungsgeschichtlichen Erwerbungen vererbt. 

Aber auch das sind Erinnerungsspuren, wenn auch keine persönlichen. 

Doch das Gehirn wartet nicht darauf, das ihm von außen Eindrücke beigebracht werden, dafür bringt es schon viel zu viel gattungsgeschichtlich erworbene Erfahrung mit. Es sucht sie vielmehr, es hält Ausschau nach ihnen und hascht danach, und vergreift sich wohl auch dabei. Und es experimentiert 'einbildend' nicht nur in der Außenwelt, sondern auch bei sich zuhaus. Es ist empirisch ganz und gar nicht länger unvorstellbar, dass es dabei Bilder erfindet, die es nie zuvorgeschen hat (und ein anderer schon gar nicht).

Ernst Pöppel geht noch einen Schritt weiter. Er meint, dass unsere Fähigkeit zum Sehenlernen sogar darauf beruht, dass das noch ungeborene Gehirn träumt und "sich etwas einbildet". 

Alle anderen Sinne, Gehör, Tastsinn, Geruch und Geschmack bilden sich schon im Mutterleib und bilden sich dort aus, allein das Sehen nicht. Die Nervenzellen des Sehsystems sind wohl da, aber die Sinneszellen haben noch nichts zu tun: "Ich vertrete die These, dass die vorgeburtliche Phase des Menschen entscheidend ist für die Prägung des visuellen Systems. Das Sehsystem ist das einzige, das vor der Geburt nicht gereizt wird. Damit es aber gleich nach der Geburt funktionieren kann, wird das visuelle System im Gehirn mit Hilfe von Träumen gleichsam eingefahren. Mehr als 50 Prozent der Zeit verbringen Kinder im Mutterleib in der Traumphase. Es hat dann keinen evolutionären Grund gegeben, die Träume nach der Geburt wieder abzuschaffen."

Thomas Hobbes wäre heute dahingehend zu korrigieren, dass das grundlose, unverursachte freie Erfinden von Bildern, die noch keiner gesehen hat, sogar die Voraussetzung dafür ist, dass wir lernen, wirkliche Bilder überhaupt wahrnehmen zu können.
JE  

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