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aus
Begriff und Wirklichkeit
in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, V. Kapitel
von Heinrich Rickert
... Freilich, es könnte jemand sagen, daß er mit dem Erkennen nichts anderes als ein Abbild der Dinge erreichen wolle: die Wissenschaft habe die Welt zu "beschreiben", so wie sie wirklich ist, und was nicht eine mit der Wirklichkeit genau übereinstimmende Beschreibung sei, das habe überhaupt keinen wissenschaftlichen Wert, sondern bestehe lediglich aus "Konstruktionen". In der sogenannten Phänomenologie scheinen diese radikal "empiristischen" Tendenzen wieder lebendig zu werden.
Gegen die Kundgebung solchen Wollens läßt sich natürlich nicht viel sagen. Aber man darf doch die Frage aufwerfen, ob die Ausführung dieses Willens auch möglich ist. Man versuche nur einmal, die Wirklichkeit genau zu "beschreiben", d. h. sie mit allen ihren Einzelheiten, "so wie sie ist", in Begriffe aufzunehmen, um dadurch ein Abbild von ihr zu bekommen, und man wird wohl bald die Sinnlosigkeit eines derartigen Unternehmens einsehen. Die empirische Wirklichkeit nämlich erweist sich als eine für uns unübersehbare Mannigfaltigkeit, die immer größer zu werden scheint, je mehr wir uns in sie vertiefen und sie in ihre Einzelheiten aufzulösen beginnen, denn auch das "kleinste" Stück enthält mehr, als irgendein endlicher Mensch zu beschreiben vermag, ja, was er davon in seine Begriffe und damit in seine Erkenntnis aufnehmen kann, ist geradezu verschwindend gering gegen das, was er beiseite lassen muß. (11)
Hätten wir also die Wirklichkeit mit Begriffen abzubilden, so ständen wir als Erkennende vor einer prinzipiell unlösbaren Aufgabe, und so wird es denn, wenn irgendetwas, das bisher geleistet ist, überhaupt den Anspruch machen darf, Erkenntnis zu sein, auch für den immanenten Wahrheitsbegriff wohl dabei bleiben müssen, daß Erkennen nicht Abbilden durch Beschreibung der "Phänomene", sondern Umbilden und zwar, wie wir hinzufügen können, im Vergleich zum Wirklichen selbst, immer Vereinfachen ist.
Für unseren Zusammenhang könnte es vielleicht bei dieser ebenso schlichten wie unwiderleglichen Zurückweisung der Ansicht, daß die Wissenschaft ein Abbild der Wirklichkeit selbst zu geben hat, sein Bewenden haben. Aber da die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit, "so wie sie ist", in Begriffe aufzunehmen, zur Behauptung der "Irrationalität" der empirischen Wirklichkeit führt und weil dieser Gedanke auf entschiedenen Widerspruch gestoßen ist, so will ich hierüber noch einiges hinzufügen und besonders sagen, in welchem Sinne die Wirklichkeit irrational, also unerkennbar und in welchem Sinne sie rational, also erkennbar, genannt werden darf.
Achten wir auf irgendein beliebiges, uns unmittelbar gegebenes Sein oder Geschehen, so können wir uns leicht zum Bewußtsein bringen, daß wir darin nirgends scharfe und absolute Grenzen, sondern durchweg allmähliche Übergänge finden. Es hängt dies mit der Anschaulichkeit jeder gegebenen Wirklichkeit zusammen. Die Natur macht keine Sprünge. Alles fließt. Das sind alte Sätze und sie gelten in der Tat vom physischen Sein und seinen Eigenschaften ebenso wie vom psychischen, also von allem realen Sein, das wir unmittelbar kennen. Jedes räumlich ausgebreitete oder eine Zeitstrecke erfüllende Gebilde trägt diesen Charakter der Stetigkeit. Das können wir kurz als Satz der Kontinuität alles Wirklichen bezeichnen.
Dazu aber kommt noch etwas anderes. Kein Ding und kein Vorgang in der Welt gleicht dem anderen vollkommen, sondern ist ihm nur mehr oder weniger ähnlich, und innerhalb jedes Dings und jedes Vorgangs unterscheidet sich wiederum jeder noch so kleine Teil von jedem beliebigen räumlich und zeitlich noch so nahen oder noch so fernen. Jede Realität zeigt also, wie man auch sagen kann, ein besonderes, eigenartiges, individuelles Gepräge. Es dürfte wenigstens niemand behaupten wollen, daß er jemals auf etwas absolut Homogenes in der Wirklichkeit gestoßen wäre. Alles ist anders. Das können wir als Satz der Heterogenität alles Wirklichen formulieren.
Selbstverständlich gilt nun dieser Satz auch von den allmählichen kontinuierlichen Übergängen, die jede Wirklichkeit zeigt, und gerade das ist wichtig für die Frage nach der Begreiflichkeit der Realität. Wohin wir den Blick richten, finden wir eine stetige Andersartigkeit, und eine solche Vereinigung von Heterogenität und Kontinuität ist es, die der Wirklichkeit jenes eigentümliche Gepräge der "Irrationalität" aufdrückt, d. h. weil sie in jedem ihrer Teile ein heterogenes Kontinuum ist, kann sie so, wie sie ist, nicht in Begriffe aufgenommen werden. Stellt man daher der Wissenschaft die Aufgabe einer genauen Reproduktion des Wirklichen, so tritt nur die Ohnmacht des Begriffes zutage, und ein absoluter Skeptizismus ist das einzige konsequente Ergebnis, wo die Abbildtheorie oder das Ideal der reinen Beschreibung die Wissenschaftslehre beherrscht. (12)
Man darf also dem wissenschaftlichen Begriff eine solche Aufgabe nicht stellen, sondern muß fragen, wie er Macht über das Wirkliche bekommt, und auch die Antwort hierauf liegt nahe. Nur durch eine begriffliche Trennung von Andersartigkeit und Stetigkeit kann die Wirklichkeit "rational" werden. Das Kontinuum läßt sich begrifflich beherrschen, sobald es homogen ist, und das Heterogene wird begreiflich, wenn wir darin Einschnitte machen können, also sein Kontinuum in ein Diskretum verwandeln. Damit eröffnen sich für die Wissenschaft sogar zwei einander geradezu entgegengesetze Wege der Begriffsbildung. Wir formen das in jeder Wirklichkeit steckende heterogene Kontinuum zu einem homogenen Kontinuum oder zu einem heterogenen Diskretum um. Insofern als dies möglich ist, kann dann die Wirklichkeit auch selbst rational genannt werden. Irrational bleibt sie nur für die Erkenntnis, die sie abbilden will, ohne sie umzuformen.
Den ersten Weg, der mit einer Beseitigung der Heterogenität beginnt, geht die Mathematik. Zum Teil kommt sie sogar zu einem homogenen Diskretum, wie es z. B. in der Reihe der einfachen Zahlen vorliegt, aber sie kann auch das Kontinuum begrifflich beherrschen, sobald sie es homogen denkt und sie feiert dadurch ihre höchsten Triumphe. Ihre "Apriorität" dürfte an die Homogenität ihrer Gebilde gebunden sein. Ein "Vorurteil" über noch nicht Beobachtetes oder Erfahrenes ist möglich, wo man sicher sein kann, nie auf etwas prinzipiell Neues zu stoßen. (13) Vom Standpunkt der Wissenschaft jedoch, die die Wirklichkeit erkennen will, sind diese Triumphe teuer erkauft. Die homogenen Gebilde, von denen die Mathematik redet, haben überhaupt kein "reales" Sein mehr, sondern gehören in eine Sphäre, die man nur als die eines "idealen" Seins bezeichnen kann, wenn man von ihnen sagen will, daß sie sind. Die Welt der homogenen Kontinua ist für die Mathematik die Welt der reinen Quantitäten, und sie ist aus diesem Grund absolut "unwirkliche", denn wir kennen nur qualitativ bestimmte Wirklichkeiten in der Sinneswelt.
Will man also die Qualitäten und mit ihnen die Wirklichkeit festhalten, so muß man bei ihrer Heterogenität bleiben, dann aber in ihrem Kontinuum Einschnitte machen. Auch hierbei geht vom Inhalt der Wirklichkeit alles verloren, was zwischen den durch die Begriffe gezogenen Grenzen liegt, und das ist nicht wenig. Denn auch wenn wir die Grenzen noch so nah aneinanderlegen, so fließt doch immer die Wirklichkeit selbst mit ihrer kontinuierlichen und daher unerschöpflichen Andersartigkeit zwischen ihnen unbegriffen hindurch. Wir können also mit den Begriffen nur Brücken über den Strom der Realität schlagen, mögen die einzelnen Brückenbogen auch noch so klein sein. Daran wird keine Wissenschaft vom realen Sein etwas ändern.
Trotzdem liegt der Gehalt der so entstehenden Begriffe der Wirklichkeit selbst prinzipiell näher als das Homogene und rein Quantitative, wie hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht, da wir uns auf die Wissenschaften beschränken, die Begriffe von realen Objekten bilden wollen. Nur auf diese ist der Unterschied von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft überhaupt anwendbar. Die Wissenschaften vom idealen Sein, wie die Mathematik, gehören weder zu den einen noch zu den anderen und kommen daher in diesem Zusammenhang nicht weiter in Betracht.
Für unseren Zweck einer Gliederung der empirischen Wissenschaften vom realen Sein der Objekte wird der Nachweis, daß die Wirklichkeit, "so wie sie ist", in keinen Begriff eingeht, der ihren Inhalt erfassen will, wohl genügen. Nur bei einer einzigen Wissenschaft kann der Schein entstehen, daß sie trotzdem die Wirklichkeit restlos begreift und das ist aus naheliegenden Gründen die mathematische Physik. An sie hat daher der moderne Rationalismus, der das Wirkliche für völlig begreiflich hält, hauptsächlich angeknüpft. Die Physik hat es nämlich zweifellos mit realem Sein zu tun, aber es sieht trotzdem so aus, als werde durch die Anwendung der Mathematik das Diskretum, in welches sie die heterogene Wirklichkeit zerlegen muß, wieder in ein stetiges Gebilde zurückverwandelt und als sei daher das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit selbst in die Begriffe aufgenommen. (14) Doch, wir lassen diesen einzigartigen Fall zunächst beiseite, um ihn später zu behandeln, und fassen nur die anderen Wissenschaften von der Wirklichkeit ins Auge. Sie müssen sich unter allen Umständen auf einen relativ kleinen Teil des Wirklichen beschränken und ihre Erkenntnis kann daher nur eine Vereinfachung, niemals aber ein Abbild des realen Inhalts sein.
Hieraus ergibt sich dann eine für die Methodenlehre entscheidende Einsicht. Die Wissenschaften bedürfen, falls ihr umbildendes Verfahren nicht willkürlich sein soll, eines "a priori" oder eines Vor-Urteils, dessen sie sich bei der Abgrenzung der Wirklichkeit gegeneinander oder bei der Verwandlung des heterogenen Kontinuums in ein Diskretum bedienen können, d. h. sie brauchen ein Prinzip der Auswahl, mit Rücksicht auf das sie im gegebenen Stoff, wie man sich ausdrückt, das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden. Dieses Prinzip trägt dem Inhalt der Wirklichkeit gegenüber einen formalen Charakter und so wird der Begriff der wissenschaftlichen "Form" klar. Nur im Inbegriff des Wesentlichen, nicht in einem Abbild des Inhalts der Wirklichkeit haben wir die Erkenntnis nach der formalen Seite hin. Diesen Inbegriff, den wir mit Hilfe des formalen Prinzips aus der Wirklichkeit herauslösen, können wir auch das "Wesen" der Dinge nennen, falls das Wort überhaupt einen für die empirischen Wissenschaften bedeutsamen Sinn bekommen soll. Das Wesen läßt sich wissenschaftlich niemals "schauen" oder "intuitiv" erfassen, sondern ist lediglich dem "diskursiven" Denken oder einer begrifflichen "Konstruktion" zugänglich. (15)
Verhält sich dies aber so, dann wird die Methodenlehre die Aufgabe haben, die bei der begrifflichen Wesensbildung maßgebenden Gesichtspunkte, von denen der Mann der Einzelwissenschaft, oft ohne es zu wissen, bei einer Darstellung abhängt, ihrem formalen Charakter nach zu ausdrücklichem Bewußtsein zu bringen und auf das Ergebnis dieser Untersuchung kommt für uns hier alles an. Denn von der Art, wie Einschnitte in den Fluß der Wirklichkeit gemacht und die wesentlichen Bestandteil ausgewählt werden, ist offenbar der Charakter der wissenschaftlichen Methode abhängig, und die Entscheidung der Frage, ob zwischen zwei Gruppen von Einzelwissenschaften, die das Wirkliche darstellen, auch mit Rücksicht auf ihre Methode prinzipielle Unterschiede bestehen, fällt dann mit der Entscheidung darüber zusammen, ob es zwei auch in ihrem allgemeinsten formalen Charakter voneinander prinzipiell verschiedene Gesichtspunkte gibt, nach denen die Einzelwissenschaften in der Wirklichkeit das Wesentliche vom Unwesentlichen absondern und so den anschaulichen Inhalt der Wirklichkeit in die Form des Begriffs bringen.
Nur ein Wort sei noch, ehe wir diese Frage zu beantworten suchen, über die Verwendung des Ausdrucks "Begriff" hinzugefügt. Wir verstehen hier, unserer Problemstellung entsprechend, darunter Produkte der Wissenschaft, und dagegen werden sich keine Bedenken erheben lassen. Zugleich nennen wir jedoch auch den Inbegriff all dessen, was die Wissenschaft von einer Wirklichkeit in sich aufnimmt, um sie zu begreifen, den "Begriff" dieser Wirklichkeit, so daß wir also zwischen dem Inhalt einer wissenschaftlichen Darstellung überhaupt und dem Inhalt des Begriffs keinen Unterschied machen, und das kann man als Willkür bezeichnen.
Diese Willkür wäre aber nur dann ungerechtfertigt, wenn es hier eine feste Tradition in der Terminologie gäbe. Sie fehlt bekanntlich gerade mi Rücksicht auf das Wort Begriff vollkommen. Man verwendet den Ausdruck sowohl für die "letzten", d. h. nicht weiter auflösbaren "Elemente" der wissenschaftlichen Urteile, als auch für höchst komplizierte Gebilde, in denen viele solche Elemente zusammengestellt sind. Das undefinierbare "Blau" oder "Süß", das Inhalte der unmittelbaren Wahrnehmung bedeutet, wird als Begriff bezeichnet, und ebenso spricht man vom Begriff der Gravitation, der mit dem Gravitationsgesetz identisch ist. Wir wollen hier, weil dieser Unterschied für die Methodenlehre wichtig ist, die "einfachen" Begriffe, die man nicht definieren kann, als Begriffselemente von den eigentlichen wissenschaftlichen Begriffen trennen, die Komplexe solcher Elemente sind und erst durch die wissenschaftliche Arbeit entstehen. Dann läßt sich eine prinzipielle Grenze zwischen "Begriff" und "Darstellung mit Begriffen" offenbar nicht mehr ziehen und dann ist es also nur konsequent und gar nicht willkürlich, wenn wir auch den Begriffskomplex, der die wissenschaftliche Erkenntnis einer Wirklichkeit enthält, als "Begriff" dieser Wirklichkeit bezeichnen. Wir brauchen durchaus einen gemeinsamen Terminus für alle die Gebilde, die das enthalten, was die Wissenschaft aus der anschaulichen Wirklichkeit in ihre Gedanken aufnimmt, und um diesen Gegensatz des Inhalts jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zum Inhalt der unmittelbaren Anschauung zu bezeichnen, ist gerade das Wort "Begriff" sehr geeignet.
Wissenschaftliche Begriffe können also entweder Komplexe von nicht definierbaren Begriffselementen oder auch Komplexe von definierten wissenschaftlichen Begriffen sein, die im Vergleich zu den komplizierten Begriff, den sie bilden, dann als dessen Elemente zu gelten haben. Das formale Prinzip der Begriffsbildung für ein Objekt, das erkannt werden soll, kommt unter dieser Voraussetzung nur in der Art der Zusammenstellung der Begriffselemente zu dem Begriff des betreffenden Objekts zum Ausdruck, nicht schon in den Begriffselementen selbst, und dieses Prinzip muß mit dem der wissenschaftlichen Darstellung dieses Objektes zusammenfallen. So allein gewinnen wir eine Problemstellung, welche eine Vergleichung der verschiedenen Methoden mit Rücksicht auf ihre formale Struktur ermöglicht. In der Begriffsbildung, durch welche die Wirklichkeit in die Wissenschaft aufgenommen wird, muß der für die Methode der Wissenschaft maßgebende formale Charakter stecken, und daher haben wir, um die Methode einer Wissenschaft zu verstehen, die Prinzipien ihrer Begriffsbildung kennen zu lernen. So ist unsere Terminologie verständlich und zugleich auch gerechtfertigt. Wenn Erkennen soviel wie Begreifen ist, dann steckt das Ergebnis der Erkenntnis im Begriff.
Hiermit sind wohl die Bedenken erledigt, die man gegen meine Verwendung des Ausdrucks "Begriff" erhoben hat. (16) Daß es sich um mehr als eine terminologische Frage handelt, ist nicht zutreffend. Unter Begriffsbildung ist stets die Zusammenfügung von Elementen zu verstehen, gleichviel, ob diese Elemente selbst schon Begriffe sind oder nicht. Nur die Prinzipien dieser Begriffsbildung gilt es, aufzuzeigen, denn darin allein, nicht in den als "Elementen" verwendeten Begriffen, können die wesentlichen logischen Unterschiede der empirischen Wissenschaften von der realen Welt zutage treten. Will man die Verwendung von Begriffen zur Bildung neuer Begriffe "Darstellung" nennen und daher nur Unterschiede in der "Methode", aber nicht in der "Begriffsbildung" zugeben, dann darf man vom "Begriff" der Gravitation ebensowenig reden wie vom "Begriff" der italienischen Renaissance. Hier jedenfalls kommt es nur darauf an, welches Prinzip die Bestandteile oder Elemente eines wissenschaftlichen Begriffes zusammenschließt.
- Anmerkungen
- 1)
Diesen Weg habe ich eingeschlagen in meinem Buch: Die
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische
Einleitung in die historischen Wissenschaften, 1896 - 1902, 3. und 4.
Auflage 1921. Vgl. ferner meine Abhandlung: Geschichtsphilosophie in:
Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno
Fischer, 1905, 3. Auflage als besonders gedrucktes Buch unter dem Titel:
Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, 1924. Ich
möchte betonen, daß auch diese Schriften nicht beabsichtigen, ein vollständiges
System der Wissenschaften zu entwickeln und daß daher alle Einwände
gegenstandslos sind, die darauf hinauskommen, daß diese oder jene
Disziplin bei mir keinen Platz fände. Ein System der Wissenschaftslehre habe ich bisher nicht publiziert.
...
11) In meinem Buch über: Die Grenzen usw. 3. und 4. Auflage, Seite 24f, habe ich diesen zuerst vielleicht etwas paradox erscheinenden Gedanken ausführlich zu begründen versucht.
12) Ich bemerke ausdrücklich, daß ich nicht von einer "Unendlichkeit" des Wirklichen rede, denn man könnte sagen, daß damit schon eine begriffliche Umformung des Unmittelbaren vollzogen werde. Es kommt nur darauf an, die faktische Unübersehbarkeit der unmittelbar gegebenen Realität zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen und die Gründe zu zeigen, auf denen sie beruth. Selbstverständlich kann auch das nur mit Hilfe von Begriffen geschehen, denn ohne sie läßt sich überhaupt nichts aussagen, was verständlich ist. Aber die Begriffe sollen hier nur Begriffe vom Unbegreiflichen sein, d. h. klarstellen, was nie begriffen werden kann. Deshalb darf man nicht meinen, dadurch, daß wir einen Begriff vom Wirklichen als dem heterogenen Kontinuum bilden können, zeige sich ja seine Erkennbarkeit und es habe also keinen Sinn mehr, vom Wirklichen als Unerkennbarem zu reden. Die Einzelwissenschaften erstreben eine Erkenntnis des Inhalts der wirklichen Welt und über diesen Inhalt sagt uns der formale Begriff des heterogenen Kontinuums nichts anderes, als daß er uns seine Unerschöpflichkeit zum Bewußtsein bringt. So bleibt gerade nach Bildung dieses formalen Begriffs das Wirkliche für die Einzelwissenschaften das inhaltlich Unbegreifliche oder die Grenze ihrer auf den Inhalt gerichteten Begriffsbildung. Damit sind wohl die Einwände erledigt, die KURT STERNBERG, Zur Logik der Geschichtswissenschaft, 1914, Seite 45, gegen mich vorgebracht hat.
13) Vgl. hierzu meine Abhandlung: Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs, 1911, Logos, Bd. 2, Seite 26f. In zweiter, umgearbeiteter Auflage ist diese Schrift als erstes Heft der "Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte" 1924 erschienen.
14) Daß auch das eine Täuschung ist, werden wir später sehen.
15) Die Unentbehrlichkeit der Anschauung bei der Gewinnung des Materials der Erkenntnis wird damit selbstverständlich in keiner Weise in Frage gestellt.
16) Vgl. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER, Einige Bemerkungen zu Rickerts Geschichtslogik, Philosophische Wochenschrift und Literaturzeitung, 1907, Bd. 8
Nota.
- Dies sei doch angemerkt: Dass die Natur "keine Sprünge" mache, ist ein Ammenmärchen, aber nicht einmal ein sehr altes, denn in dieser Formulierung stammt es erst von Leibniz (geht aber als Vorstellung wohl bis auf die 2. Stoa zurück). Es kann auch gar nicht sehr alt sein - "die Natur" ist als wissenschaft- licher Begriff naturgemäß ein Kind der Neuzeit - und bei der Stoa ging es ebenso naturgemäß nicht um "die Natur", sondern um den kosmos, und das ist nicht dasselbe. - Tatsächlich macht die Natur, je tiefer man blickt, nämlich auf der Ebene der Teilchen, kaum etwas anderes als Sprünge, und man kann daher sagen, dass sie auf Sprüngen beruht.
- Es scheint im Übrigen, als habe Rickert die Hauptleistung seines Lehrers Windelband nicht wirklich zu schätzen gewusst. Seine - für sich selber genommen durchaus scharfsinnige - Unterscheidung von homogen, heretogen, stetig und diskret scheint die (größere) Unterscheidung zwischen nomothetisch und idiogra- phisch unterlaufen zu sollen und den Begriffen der pp. Kulturwissenschaften den Rang naturwissenschaft- licher Exaktheit doch noch irgendwie anhexen zu wollen. Das liegt wohl daran, dass er den Begriff am Ende nicht ganz so streng nominalistisch auffassen konnte wie Fichte, dem er ansonsten nahestand.
JE
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