Sonntag, 7. April 2019

Begriff und Vorstellung, oder: Digital und analog.

 
Die Wissenschaftslehre knüpft nicht, wie alle andern philosophischen Systeme, vorab definierte Begriffe an- einander, sondern entwickelt ihren Gang aus lebendigem Vorstellen, wobei die begrifflichen Feststellungen gewissermaßen nebenher anfallen. Das ist der elementare Unterschied zu allem vorangegangenen und allem folgenden Philosophieren. Fichte kommt immer wieder auf ihn zu sprechen.

Aber nur beiläufig wie auf ein bloßes Faktum. Die Tragweite, so ist mein Eindruck, wurde ihm nicht recht bewusst.

Auch an diesem systematisch entscheidenden Punkt sind die Prolegomena Vom Wesen der Gelehrten aufschluss- reich. Der zweite Hauptteil Über Geist und Buchstab hat, wiederum ohne dass es ausgesprochen wird, keinen an- deren Gegenstand. Die dort angegriffenen Buchstäbler sind niemand anderes als die rationalistischen Metaphy- siker - man denkt an Wolff und Baumgarten -, die aus Begriffen ganze Weltgebäude auftürmen, ohne zu erklä- ren, woher sie ihre Begriffe haben und mit welchem Recht sie von ihnen Gebrauch machen.

Doch Fichte fügt hinzu: Der Wissenschaftslehre selbst ginge es nicht besser und sie verfiele wie das Wolff-Baumgarten'sche System der transzendentalen Kritik, wenn ihre lebendige Vorstellungstätigkeit zu toten Be- griffen sistiert und als ein lernbares Pensum aufgefasst würde. 

Dass Fichte diesen Unterschied nur nebenher ausgesprochen und nicht als kategorisch festgestellt hat, steht bis heute im akademischen Raum einem angemessenen Verständnis der Wissenschaftslehre entgegen.

Der Begriff ist der Urtyp des digit. Die diskursive Rede ist die digitale Darstellung par excellence. Das lebendige Vorstellen lässt sich dagegen nur analog darstellen. Fichte hatte nicht die Wahl: Auch die Wissenschaftslehre konnte er nur diskursiv vortragen. Dass digital vorgetragen wird, was analog angeschaut werden soll, muss auf Schritt und Tritt Missverständnisse hervorrufen.

26. 8. 17 


Nachtrag. Die diskursive Rede war die digitale Darstellung par excellence. Sie ist heute abgelöst, aufgelöst in Big Data und den Algorithmen. Daraus erhellt, dass die diskursive Rede auch nur ein Zwischenstadium war. In ihr sind die Bilder, die der Stoff des originären Vorstellens waren, zu Begriffen formalisiert, die man ihrerseits für Seiende halten und anscheinend ohne Verlust durch bloße Zeichen darstellen kann.

Nein, ohne Verlust eben nicht. Denn übrig blieb eine bloße Formel des Machens. Was gemacht wird oder wer- den oder nicht werden soll, ist den Formeln nicht anzumerken. Es müsste denen, die die Daten erheben und sie mit den Algorithmen durchkämmen, anschaulich vor Augen stehen, wenn die intelligenten Maschinen beherrsch- bar bleiben sollen. Dazu müssten sie allerdings gebildet werden, nachdem die handelsübliche Bildung so lange in die umgekehrte Richtung verlaufen ist.

Ob die Philosophie zur Bildung der Vielen etwas beitragen kann, steht in den Sternen. Wünschen wollte man es, aber dazu müsste sie selber erst wieder den Mut finden, in Bildern anschaulich zu machen, wovon sie redet. 



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