Freitag, 19. April 2019

Geist ist Deutung des Gefühls.


Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vorgehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung angetroffen zu werden.  

Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Ein- bildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, inso- fern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder hervorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist insofern Schöpferin des eigenen Bewußtseins. Ihrer, in dieser Funk/tion , ist man sich nicht bewußt, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist.

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden.


Nun muss im Ich das liegen, was sie bildet. 

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hevorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vor- handen sein: und zwar im Ich vorhanden sein. - 

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschieden werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich. 

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das einzige Grundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss nocht etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Einbil- dungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mithin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. ... ___________________________________________________________________________________ 
J. G. Fichte, in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, 
S. 297f.  

 
Nota I. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empirischen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich ein/bilden kann, ist sie arbeits- los. Nicht das, was sie vorfindet, bildet die Einbildungskraft, sondern das, was sie vorgefunden hat: was es ist, das es bedeutet


Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: Gefühl. Das ist der Stoff, an dem die Einbildungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder jenes.

*

So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbei- tet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissenschaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbst- gedacht werden kann. Für didaktische Zusammenfassungen dieser Art gibt es gar keine Berechtigung.

Daher kommt die hier wiedergebene Stelle auch nirgends in seinen Veröffentlichungen, aber auch - nicht in seinen mündlichen Vorträgen vor! Sie stammt vielmehr aus seinen eigenen Aufzeichnungen, die er zur Vorbe- reitung seiner öffentlichen Vorträge Über Geist und Buchstaben in der Philosophie angefertigt hat, die an die Pflichten der Gelehrten anschlossen. Diese Vorträge selbst sind nicht überliefert, wohl aber eine spätere Ausarbeitung für Schillers Zeitschrift Horen, die auf ihre Art selber Geistesgeschichte gemacht hat. 

Dass er sie in dieser Form nie wiederholt hat, hat seinen guten philosophische Grund. Wer aber - wie ich - hi- storisch deutlich machen will, was Fichte wirklich gemeint hat, darf sie in der Darstellung ganz nach vorn setzen
.


 21. 8. 17

Nota II. - Eigentlich ist das Gefühl die Grenze zwische Ich und Nichtich, zwischen Subjekt und Objekt. Es ge- hört schon dem Ich an - aber verursacht doch durch das Nichtich. Allerdings nicht vom Nichtich aus eigner Ab- sicht, sondern durch den Widerstand, den es der tätigen Absicht des Ich entgegengesetzt hat. Es ist die ursprüng- liche Realität, aber ist doch bloß Vermittlung. Es ist die ursprüngliche Realität meiner Vorstellung. Vermittlung ist es für den kritischen Philosophen.
JE


 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen