Samstag, 13. April 2019

Die Darstellung und die Sache selbst.


"Die Darstellung erkläre ich selbst für höchst unvollkommen und mangelhaft", schrieb Fichte zu Ostern 1796 im Vorbericht zur ersten Buchausgabe der Grundlage. Und doch hat er sie bis zu seinem Tod in seinen Kollegien als Begleitschrift zu den mündlichen Darstellungen der Wissenschaftslehre verwendet - wie ja auch in den Vor- lesungen nova methodo. Zeitlebens habe er 'nie etwas anderes gelehrt', hat er stets versichert... 

Lediglich die Darstellungsweise sei ungeschickt gewesen und habe zu vielerlei Missverständnissen Anlass ge- geben: "So kann ich allerdings Unrecht gehabt haben, dass ich die bei mir durch das ganze System bestimmten Grundsätze desselben hingab, ohne das System; und mir von den Lesern und Beurtheilern die Geduld ver- sprach, alles so unbestimmt zu lassen, als ich es gelassen hatte." 

Es ist aber nicht nur eine didaktische Frage, ob man die Grundsätze des Systems aufstellen könne, bevor man dieses selbst aus- und durchgeführt hat. Bei einem spekulativ konstruierten metaphysischen System mag das möglich sein. Ein transzendental philosopisches System darf nicht einmal den Gedanken aufkommen lassen, dass es so verfahren sei. Es muss, wie die Nova methodo es ja tut, sein Vorgehen Schritt für Schritt vorführen, weil es nicht (logisch) fertige Begriffe aneinander knüpft, sondern (genetisch) lebende Vorstellungen auseinander her- vorbringt.

In specie: Dass das menschliche (welches wohl sonst?) Wissen auf einem "absolut-ersten, schlechthin unbe- dingten Grundsatz" beruhe, den man (in ihm selbst?) nur "auffinden" müsse, ist eine Voraussetzung, die er an dieser Stelle ohne alles Recht macht. Zwar hatte er, bevor er seine Vorlesungen in Jena begann, die Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre vorgelegt, die eben davon handelt. Deren Kenntnis durfte er vielleicht bei seinen Hörern voraussetzen; doch wir werden finden, dass die Wissenschaftslehre nicht eine Kenntnis nach der ande- ren - woher auch immer - herbeizieht und auf einander schichtet, sondern aus notwendigen Vorstellungen weitere Vorstellungen entwickelt. 

Das ist kein Unterschied in der Darstellungsweise, sondern in dem, was dargestellt wird. Fichte spricht diesen Unterschied später in der Nova methodo immer wieder an, namentlich dort, wo er an die Grenzen der sprachli- chen Ausdrucksmöglichkeiten stößt; doch nie spricht er aus, dass es dieser Unterschied ist, der sein philosophi- sches System wesentlich von allen vorhergegangenen unterscheidet.  


Nachtrag. Ob ich in einem System die Welt beschreibe und erkläre, wie ihre Teile untereinander zusammen- hängen, oder die Vorstellungen beschreibe, die ich mir - zuerst wohl von der Welt - mache und zeige, wie sie auseinander hervorgegangen sind, ist kein Unterschied in der Darstellungweise, sondern es wird ein jeweils Anderes dargestellt. 

Bei der Niederschrift der Grundlage als Begleittext zu seinem ersten Vortrag der Wissenschaftslehre in Jena war - der Erwartung seiner Hörer entgegenkommend oder weil es ihm nicht anders einfiel? - Fichte vorgegangen, wie man bis dahin beim Vortrag eines rationalistischen metaphysischen Systems vorgegangen war: zuerst die Prin- zipien aufstellend, aber dozierend und nicht entwickelnd, darauf zweitens einen 1., theoretischen Teil aufbauen und dann einen 2., praktischen Teil anfügen.

Dass er, anders als die rationalistische Metaphysik und noch der kritische Kant, nicht mit vorgegebenen Begriffen konstruiert, sondern lebendige Vorstellungen aus einander hervortreibt, war ihm als Differentia specifica seines Philosophierens noch gar nicht klar geworden, und wurde es erst im Verlauf seiner Vortragstätigkeit an der Universität. Mit dem Vortrag nova methodo in den Jahren 1798/99 wurde diesem sachlichen Unterschied nun auch formal Rechnung getragen, aber der geriet in den Atheismusstreit hinein und blieb für Fichtes weiteres Denken leider ohne Folgen.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen