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Sonntag, 24. August 2014

Die Dunkelmänner der Postmoderne.


 
aus Allgemeine Pädagogik 
Anything goes. 
Cole Porter 

Die Frage nach dem „Grund“ – wie altertümlich! Die Dunkelmänner der Postmoderne wissen es längst: das Wahre ist nur ein Mythos, der falsche Schein, dem das Abendland verfallen war und all seine Perversionen schuldet – von der Inquisition über Auschwitz bis zum Gulag. Darüber ist der Zeitgeist längst hinweg, seine Schamanen psalmodieren das Ende der Ideologien, der Geschichte sogar, und als der Weltweisheit letzter Schrei erweist sich Cole Porters Hit aus den Dreißigern: „Anything goes!“

Wahr ist alles, was funktioniert – und solange, wie es funktioniert: Das war ein brauchbares regulatives Prinzip einer exakten Naturwissenschaft, die Forschung um ihrer technischen Verwertung willen trieb. Als Zweck der Wissenschaft definierte der Pragmatismus ausdrücklich: Vorhersagen machen. Das mochte einem Chemiker des 19. Jahrhunderts genügen – einem Astrophysiker und Kosmologen unserer Tage nicht! Es gibt keine Grundlagenforschung ohne die Frage nach Wahrheit.* 

Was in der Naturwissenschaft bloß überholt ist, wird in den Geisteswissenschaften, wo’s um die Sinnfragen geht, zur Mummenschanz. Wahrheit = ein patchwork, Flickenteppich, Narrengewand: Hauptsache bunt! Unter der Firma des ‚Konstruktivismus’ darf jeder sein Glück versuchen, warum auch nicht, Wahrheiten kommen und gehen, nehmt’s doch nicht so ernst! Statt der Philosophie haben wir Bindestrich-Philosophien. Und statt Pädagogik nur Bindestrich-Pädagogiken. Ganz wichtig zwar, aber daß es ihren Zöglingen nicht gelingt, sie ernst zu nehmen – wen wird es wundern?

Alles fließt? Der Zeitgeist bestimmt. Er kommt aus den Hochglanz-Postillen, und da soll man ihn ruhig lassen. Ernster klingt der (scheinbar) entgegengesetzte Einwand: ‚Ein Erster Grund, den sich jeder selber setzt?! Das hieße der Beliebigkeit Tür und Tor öffnen!’ Wie bitte? Wenn sich einer ‚seinen’ Grund als ein Absolutes setzt – wird es dadurch zu einem Relativen? Muß ich Eines, um es als mein Absolutes setzen zu dürfen, zugleich als das Absolute der Andern erkennen können? Weil Eines, um mir absolut gelten zu können, von Andern als absolut anerkannt worden sein muß? Ich dürfte also immer nur das Absolute der Andern anerkennen!


Für das Ästhetische behauptet das keiner. Vom Sittlichen denken das Alle. Warum? Weil sie meinen, der Zusammenhalt des Gemeinwesens hinge davon ab. Sie verwechseln es mit dem Recht. Das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen beruht – nicht in der Wirklichkeit, aber wir sehen es so an, als ob: Das macht seinen Sinn aus! – auf dem freien Vertrag autonomer Subjekte. Ein Absolutes, worüber sich zwei verständigen konnten, wird ipso facto ein Relatives: So ‘rum wird ein Schuh draus. Das Absolute ist weder konsensfähig noch konsensbedürftig.

Die Sittlichkeit sagt, was ich mir selber schulde, das Recht sagt, was ich andern schulde. Dieses ist meine Pflicht, jenes sind die Ansprüche der andern gegen mich. Über jene müssen – und können – wir uns verständigen, über diese nicht. Mein erster, letzter, absoluter Grund muß sich, als rechtes Handeln, in meinem Leben bewähren. Ich muß mich dann „in der Welt“ bewähren – per Verhandlung und Vertrag, wenn’s sein soll. Das ergäbe einen Nachtwächterstaat ohne Pathos und Würde? Sein Pathos und seine Würde ist, daß er die Freiheit einer jeden Person, sich zu ihrer eignen Pflicht zu bestimmen, zu seinem Rechtsgrund macht. Ist das wem zu wenig, soll er’s sagen.

Ach, Leviathans Kinderfänger, die Pädagogen! „Die Menschen brauchen Orientierung!“ Nein, gerade das brauchen sie nicht. Es muß sich ein jeder selber orientieren. „Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung nennt.“** Sie aber meinen in Wahrheit: Die Menschen sollen sich von ihnen orientieren lassen – ausgerechnet! Gottlob meinen sie’s nicht ernst. Ein Absolutes käme ihnen, Zeitgeist behüte, gar nicht in den Sinn. Werte – ein „verbindlicher Werteunterricht“ tut’s auch.

Daß sie das Absolute zu Häppchen farcieren, macht die Sache zwar nicht besser, denn irgendwas, irgendwer (?) müßte deren Geltung doch verbürgen können. Ein „bißchen Wahrheit“ gibt’s so wenig wie ein bißchen… Unschuld. Doch ich hab eine Ahnung: Anything goes! Wahr ist, was funktioniert. Um den Ruf unserer Schulen ist es nicht gut bestellt. Daß sie junge Menschen bilden, glaubt kaum einer. Nun ein neuer Schibboleth, ein weiteres Gadget, noch ein Bindestrich: Werte-Pädagogik! Man kann einen Ausbildungsgang dafür einrichten, mit C4-Professur. Wenn’s funktioniert…

*) vgl. Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen; Frankfurt a. M. 1968
**) J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. III, S. 39

Sonntag, 7. Oktober 2018

Es gilt nichts ohne Bedingung.


Nichts gilt ohne Voraussetzung - eine tiefsinnige Trivialität. Tiefsinnig, weil man erst darauf gebracht werden muss, um sie einzusehen; aber dann kommt sie wie eine Erleuchtung. Trivial, weil sie halbherzig ist. So wie sie da steht, heißt sie nur: Ein jedes borgt seine Geltung aus von einem über ihm; oder unter, wie man will. Na, und so weiter! Die Konsequenz, dass letzten Endes gar nichts gilt, ist nur scheinbar radikal, denn lebensprak- tisch läuft sie doch nur darauf hinaus, dass alles nur mehr oder weniger gilt; je nachdem, anything goes.

Wahrer ist der Satz: Nichts gilt ohne Bedingung. Wahr, weil tautologisch, denn Geltung ist die Bedingung - ihrer selbst. Gilt etwas an sich und überhaupt? Es gilt etwas nur für einen, der urteilen will. Urteilen ist der Elementar- akt schlechthin: einem Ding eine Bestimmung zuweisen. Es ist die abstrakteste Form des Handelns. Nur für einen Handelnden gilt etwas, und nur im Akt des Handelns; wozu das Urteil als seine Bedingung gehört. Handeln kann ich nur so oder anders. Es ist bestimmt, indem es bestimmend ist. Es ist die Bedingung von Allem, was gel- ten kann.







Sonntag, 18. Januar 2015

Wissen ist nur im System möglich.


Wissen ist wahr, sofern es System ist. Es ist System, sofern es in einem Grundsatz zusammenhängt - so dass Jedes seinen Platz von allen Andern angewiesen bekommt und seinerseits allen andern ihren Platz anweist; sofern sie nämlich alle aus demselben Grundsatz folgen.*

Zuerst ist aber das reale Wissen dagewesen; jedes für sich. Der Satz bedeutet also in Wahrheit: Das in der Geschichte verstreut angesammelte Wissen wird wahres Wissen, wenn es zu einem System gebildet wird. Das wiederum ist nicht möglich, indem man "die Sammlung vervollständigt" - alle möglichen Wissenssätze ausfindig macht und zusammenstellt -, sondern indem man den jedem wirklichen Wissensakt zu Grunde liegenden "Grund"-Satz herausfindet. 

Wenn sich ein solcher Satz auffinden lässt, kann das Wissen zu einem System gebildet werden, 'in dem jedem Satz sein Platz von allen andern Sätzen angewiesen ist', bevor noch "jeder Satz" ausgesprochen wurde. Lässt sich zeigen, dass der aufgefundene Grund-Satz nicht bloß tatsächlich (summativ; das ginge ja gar nicht!), sondern notwendig allen Wissensakten zugrundeliegt, dann ist das Wissen "wahr" in dem Sinne, dass außer ihm nichts ge- wusst werden kann. Also - wenn es Wissen gibt (Wahrheit gibt), dann innerhalb dieses Systems. Wenn nicht innerhalb dieses Systems, dann überhaupt nicht (wovon man allerdings nichts wissen könnte).

*) Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, SW I, S 57-62, 70ff.

aus e. Notizbuch, 26. 6. 03


Wissen ist entweder richtig - wenn es dazu taugt, die Operation auszuführen, die ich beabsichtige; oder es ist wahr - dann ist es end gültig: Es gilt unter allen möglichen Bedingungen. Was falsch und unwahr ist, gilt nicht als Wissen, sondern als Irrtum oder Lüge. 

Richtige Sätze gelten so lange, bis die Operationen, für die sie taugen sollen, erfolgreich abgeschlossen sind. Alle wahren Sätzen gelten über Raum und Zeit hinaus. Ihnen muss eines gemeinsam sein, das sie gelten macht; und in diesem Einen hängen sie miteinander zusammen. - Das ist ein Prämisse, die jeder, der sich auf eine vernünftige Erörterung einlässt, tatsächlich macht, und sei es stillschweigend oder gar unter der Behauptung, that anything goes.
JE


Sonntag, 27. April 2014

Nix gilt.


umkehrung

Im landläufigen  Diskurs der Postmoderne ist analytische Sprachphilosophie – “die Bedeutung der Wörter ist ihre Verwendung im Sprachspiel” - eine Verbindung eingegangen mit dem zeitgemäßen Konstruktivismus: “Sind ja doch alles nur Konstrukte…”

Die Quintessenz: Nix gilt und Anything goes.

Und wenn man sich die Welt ansieht, wie sie ist, haben sie nicht einmal Unrecht. Einen immanenten Sinn wird man aus der Welt nicht herausdestillieren. Aber man wird einen Sinn hinein’konstruieren’ müssen. Und das tun die Postmodernen ja auch. Indem sie nämlich Sätze sagen, die allgemeine Geltung beanspruchen: 1)  “die Bedeutung der Wörter ist ihre Verwendung im Sprachspiel” – und  2) “Sind ja doch alles nur Konstrukte…”

Recht haben sie: “Es gibt” keine allgemeinen Geltungen.

Unrecht haben sie: Es muss allgemeine Geltung geben, wenn… sinnvolle Sätze möglich sein sollen. Die Sätze Nix gilt und Wahrheit gibt es nicht erheben Anspruch auf Wahrheit und Geltung. Es sei denn, sie verzichteten darauf, für sinnvoll gehalten zu werden.

So würde es wieder stimmen.

•April 19, 2009

Dienstag, 5. März 2019

A und O.


Eine Intelligenz, die so handelt, wie es in der Wissenschaftslehre dargestellt ist, soll vernünftig heißen. 

Zur westlichen Großmacht stieg die Vernunft im siebzehnten Jahrhundert, genau: nach dem Ende des Dreißig- jährigen Krieges auf. Sie sollte an die Stelle der Glaubensbekenntnisse treten, die Europa in Zwietracht und Verheerung geführt hatten. 

Zu uneingeschränkter Herrschaft wollte die französische Revolution sie bringen: Im November 1793 wurde in Notre Dame de Paris statt der christliche Kulte die Fête de la Raison gefeiert. Doch dem Wohlfahrtsausschuss grauste vor ihrer atheistischen Tendenz und setzte ihr im Juni 1794 die Fête le l'Être Suprème entgegen - die Ver- nunft nicht länger als handelndes Subjekt, sondern als Attribut der Gottheit. 

Da hatte in Deutschland die Vernunftkritik bereits begonnen: die Reflexion der Vernunft auf sich selbst, die Frage nach ihrer Reichweite und ihren Bedingungen. Kant war beim Apriori als einem Vorauszusetzenden steckengeblieben. Die Wissenschaftslehre führt auch dieses auf den Voraussetzenden selbst zurück: das tätige Ich. Doch leider ist die Wissenschaftslehre ihrerseits im Atheismusstreit steckengeblieben. Aber der hat sich erübrigt und nichts hindert uns, sie wieder aufzunehmen.

27. 11. 17 


Es gebe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten, lautet eine zeitgenössische Plattitüde. 

Die Wissenschaftslehre sagt, eine andere Wahrheit als die Verunft selber könne es - 'für ein endliches Be- wusstsein' - nicht geben. 

Der Schlaumeier sagt, es gebe keine Vernunft, sondern nur Vernünfte. Anything goes. Wenn dem so wäre, könnte keiner mit keinem aus Gründen argumentieren, denn welche Gründe zugrunde zu legen sind, obliegt der Willkür und dem Zufall. Sie könnten nicht diskutieren, sondern nur säuseln oder schreien oder singen. 

Der bloße Umstand, dass einer einen andern mit Argumenten zu überzeugen versucht, beruht, ob er es zugibt oder nicht, auf der Voraussetzung, dass es Gründe - oder doch wenigstens einen - gibt, die der eine dem andern nicht bestreiten kann.

Wenn es so ist, müssten sie - oder er, der allen anderen zu Grunde liegt - sich in allem, was wir zu wissen mei- nen, auffinden lassen.

Die Wissenschaftslehre behauptet, diesen einen Grund freigelegt zu haben. Jeder Satz, der sich aussprechen lässt, folgt dem Schema ich prädiziere, dass... Ob mir oder meinem Gegenüber das im Moment des Sprechens klar ist, spielt keine Rolle. Jeder Dritte, der uns zuhört, wird es aber so wahrnehmen, und ich werde es ihm hernach nicht bestreiten können. Alles, was wir wissen, beruht darauf, dass Einer sich das Vermögen des Ur- teilens zugeschrieben hat: Ein Ich hat ipso facto sich gesetzt. Davon ist jeder, der mit mir streiten mag, ausge- gangen.

Wer immer meint, es gäbe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten, und es gäbe keine Vernunft, sondern nur Vernünfte, müsste mit mir bis an diesen Punkt zurückkehren; dann sehen wir weiter.


Donnerstag, 27. August 2015

I. „Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18,38)


Was ist Wahrheit, fragt Pontius Pilatus, und will sagen: Es ist ja alles relativ… Klang es bei ihm philoso- phisch-resigniert, so machte die Postmoderne, die wir in diesen Tagen hinter uns lassen, eine Tugend aus der Not: “Anything goes…”, krähte sie selbstgefällig-vergnügt: “…Hauptsache, es funktioniert!” 

Darin sind sich Analytische Philosophie, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, die seit Jahr und Tag konkurrierend das geistige Feld beherrschen, einig: Die Frage nach der Wahrheit ist “metaphysisch”, was so viel bedeutet wie: unstatthaft; denn sie sei so gefasst, dass darauf immer nur eine dogmatische Antwort möglich sei, nämlich eine, die aus Glaubenssätzen stammt und nicht aus vernünftigem Argument.

Am Anfang der Moderne – die die Postmoderne doch zu überbieten trachtete – stand, wie gesagt, die Romantik. Was das Wahre sei, war den Romantikern so ungewiss geworden, dass sie gelegentlich zu der Auffassung neigten, das Ungewisse sei selber das Wahre. Der Rationalismus und die “Aufklärung” des 17. und 18. Jahrhunderts hatte an die Stelle der geoffenbarten Wahrheiten der voraus gegangenen Dunklen Jahrhunderte die stolze Selbstgewissheit der Vernunft gesetzt. Aber die war durch Immanuel Kants Drei Kritiken gehörig ins Wanken geraten. Die Romantik war in Jena aus der unmittelbaren Anregung durch die ‘Wissenschafsftlehre’Johann Gottlieb Fichtes entstanden. Der verstand sich als der Radikalisierer und Vollender von Kants kritischer bzw. ‘Transzendental’-Philosophie.

Zu der Zeit tummelten sich auf den öffentlichen Plätzen – wie heut im Zeichen der Postmoderne – jene, die meinten, die Wahrheit gebe es gar nicht, allenfalls Wahrheiten…, und sich dabei furchtbar schlau vorkamen. Aber das ist nur eine Ausflucht. Wenn diese ‘vereinzelten’ Wahrheiten wahr sein sollen, dann sind die es unbedingt. Wenn sie nur bedingt wahr sind, dann ist dasjenige, was sie bedingt, unbedingt wahr – oder Alles ist nicht wahr. 

Um die Frage, was das Wahre ist, kommen wir also nicht herum. Und halten wir gleiche eines fest, um das wir auch nicht herum kommen: dass das Wahre zunächst einmal als Frage “ist”.


 

*  Ein intellektuelles Gefühl.


Wahrheit ist keine Sache, sondern ein Verhältnis. Nämlich zwischen einem, der etwas weiß, und demjenigen,was er weiß. Das Wort sagt etwas über die Qualität dieses Verhältnisses aus: nicht, dass es ‘ist’, sondern dass es gilt. Etwas ‘gilt’ freilich nur für irgendwen. Und auch nicht an und für sich, sondern erst wenn und insofern er etwas tun will oder soll. Es mag auch nur ein rein gedankliches Tun sein: vorstellen und über Vorstellungen urteilen. 

Ob etwas ‘gültig’ und also “wahr” ist, wird sich erweisen im und durch den Vollzug dieser Handlung. Wenn also etwa das betroffene Urteil ‘richtig’ ist, und das heißt: zu weitergehendem Urteilen taugt. Hier passt ein ‘Fragment’ des Urromantikers Friedrich Schlegel: “Logik ist eine praktische Wissenschaft.”

Bis hierhin ist das eine rein pragmatische Bestimmung: Wahrheit erweist sich jeweils vor ihren Zwecken, sie ist eine Zweckmäßigkeit. Wahrheit ist nicht Etwas, das “ist”, sondern das, was sein soll. Das ist aber erst der Anfang. Richtig ernst wird es erst wenn nach den Zwecken selbst gefragt wird: wozu ‘Wahrheit’ taugen soll. “Gibt es” einen absoluten Zweck?

Darüber will ich gerne weiter diskutieren. Aber in einem Beitrag ist es natürlich nicht abzumachen. Es wird eine ganze Reihe nötig werden… Und mehr als einmal werden der Autor und seine Leser im Lauf der Auseinandersetzung das ungute Gefühl haben: Aber an der Stelle waren wir doch schon mal! Drehn wir uns im Kreis?

Ja, wir sind wieder am selben Punkt; aber diesmal ein paar Etage höher: Es ist wie eine Wendeltreppe.


wendeltreppe3


Mittwoch, 22. April 2015

Zählen und messen und werten und schätzen.

S. Hofschlaeger, pixelio.de

"[Dieser Gedanke ... setzt als selbstverständlich voraus, daß Qualität und Quantität Grundeigen- schaften der wirklichen Naturvorgänge sind. Das ist aber eine durchaus oberflächliche Anschau- ung.] In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwischen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zunächst nicht anders als den zwischen rot und blau.** 
Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnissen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen." 
Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932)*

Erst die Arbeitsgesellschaft hat Messen und Kombinieren so in den Vordergrund treten lassen, daß der eigentlich-poietische 'Anteil' des Geistes - der eigentlich sein Grund ist - als ein uneigentliches Residuum in den Hintergrund tritt. Vollends mit dem Beginn der industriellen Kultur, wo Fragen nach dem "Wesen" (quale) im Zuge der 'Entmythologisierung' und 'Entzauberung der Welt' als "metaphysisch" direkt abgewiesen werden. Das postmoderne "Anything goes" ist nur der Punkt auf dem i. Es ist überhaupt nicht "post". Es verweist die Frage nach den Qualitäten endgültig unter die Spielereien; freilich - wenn sie "funktionieren", why not?

Dieses "Residuum" wird 'bestimmt' (ex negativo: als das uneigentlich-Überschüssige) als "das ästhetische Erleben".

Daher die Unmöglichkeit, das Ästhetische positiv zu "definieren": Es ist eben nicht "positiv", sondern negativ bestimmt: als Ausschluß von dem, was für die Welt der Arbeit "nicht nötig" ist. Im Laufe der Entfaltung der Arbeitsteilung und galoppierend seit der Industrialisierung wurde das immer mehr. 

Nota. - Die Bereitschaft, Bedeutungen zu erfinden über das unbedingt Nötige hinaus - Abenteuer, Spiel, Risiko - ist stammesgeschichtlich auf der männlichen Seite der Gattung stärker ausgeprägt; weshalb der Umstand, daß allein diejenige Gattung, wo das Männliche einen relativ autonomen 'Stand' erworben hat, diejenige war, die den Sprung in die Welt gewagt hat. Und weshalb die 'ästhe- tischen' Tendenzen bis auf den heutigen Tag im männlichen Teil stärker ausgeprägt sind als im weiblichen. (Sollte sich das künftig ändern, tant mieux.) 

*) neu Ffm. 1988, S. 155

aus e. Notizbuch, 14. 7. 2005
  
**) Ob ich reichlich zu essen habe oder nicht genug, ist der Qualitätsunterschied von satt und hungrig.

Montag, 30. Juni 2014

Zählen und messen und werten und schätzen.


S. Hofschlaeger, pixelio.de

"[Dieser Gedanke ... setzt als selbstverständlich voraus, daß Qualität und Quantität Grundeigenschaften der wirklichen Naturvorgänge sind. Das ist aber eine durchaus oberflächliche Anschauung.] In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwischen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zunächst nicht anders als den zwischen rot und blau. Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnissen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen." Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932)*, **

Erst die Arbeitsgesellschaft hat Messen und Kombinieren so in den Vordergrund treten lassen, daß der eigentlich-poietische 'Anteil' des Geistes - der eigentlich sein Grund ist - als ein uneigentliches Residuum in den Hintergrund tritt. Vollends mit dem Beginn der industriellen Kultur, wo Fragen nach dem "Wesen" (quale) im Zuge der 'Entmythologisierung' und 'Entzauberung der Welt' als "metaphysisch" direkt abgewiesen werden. Das postmoderne "Anything goes" ist nur der Punkt auf dem i. Es ist überhaupt nicht "post". Es verweist die Frage nach den Qualitäten endgültig unter die Spielereien; freilich - wenn sie "funktionieren", why not?

Dieses "Residuum" wird 'bestimmt' (ex negativo: als das uneigentlich-Überschüssige) als "das ästhetische Erleben".

Daher die Unmöglichkeit, das Ästhetische positiv zu "definieren": Es ist eben nicht "positiv", sondern negativ bestimmt: als Ausschluß von dem, was für die Welt der Arbeit "nicht nötig" ist. Im Laufe der Entfaltung der Arbeitsteilung und galoppierend seit der Industrialisierung wurde das immer mehr. 

Nota. Die Bereitschaft, Bedeutungen zu erfinden über das unbedingt Nötige hinaus - Abenteuer, Spiel, Risiko - ist stammesgeschichtlich auf der männlichen Seite der Gattung stärker ausgeprägt; weshalb der Umstand, daß allein diejenige Gattung, wo das Männliche einen relativ autonomen 'Stand' erworben hat, diejenige war, die den Sprung in die Welt gewagt hat. Und weshalb die 'ästhetischen' Tendenzen bis auf den heutigen Tag im männlichen Teil stärker ausgeprägt sind als im weiblichen. (Sollte sich das künftig ändern, tant mieux.) 

*) neu Ffm. 1988, S. 155

aus e. Notizbuch,14. 7. 2005
 
**) Ob ich reichlich zu essen habe oder nicht genug, ist der Qualitätsunterschied von satt und hungrig.

 

Mittwoch, 17. April 2019

Vernunft, dogmatisch oder kritisch.

Osmar Schindler

"Ich meine, vernünftig zu denken, wenn ein Anderer, dem ich vor-denke, gar nicht anders kann, als mir nach-zu-denken und mir beizustimmen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, ich lasse es drauf ankommen; das wäre die pragmatische, die 'findende', die problematische Version. Oder ich nehme eine prä-etablierte Überein- stimmung an, die eine andere Möglichkeit gar nicht offen lässt und einen wirklichen Andern gar nicht braucht; das ist die dogmatische Version..."

Fichte hat zwischen der pragmatisch-problematischen Auffassung, wonach die Vernunft sich aktual ergibt im wirklichen Verkehr vernunftbegabter Menschen - und insofern im besten Fall als proiectum aufzufassen ist -, und der dogmatischen Auffassung eines apriorischen Programms, das sich mittels vernünftig wirkender Individuen selbst verwirklicht, lange geschwankt; wobei in den früheren, sürmischen Jahren die Neigung zur aktualistisch-problematischen Version zu überwiegen scheint. Es war erst Jacobis Eingreifen in den Atheismusstreit, das ihn bewogen hat, sich schließlich für die dogmatische Variante zu entscheiden.

Von einer an sich seienden Vernunft vor der Zeit und vor ihrem "Erscheinen" in der Endlichkeit kann man nichts weiter wissen, nicht, wo sie herkommt, noch, worauf sie hinauswill. Da kann man nur glauben. An eine problematische Verunft, die auch scheitern mag, kann man nicht glauben, sondern man müsste sich ihrer jeden Tag neu vergewissern: Man muss wissen. Nämlich wo sie herkommt und worauf sie hinausläuft.

Her kommt sie aus der Fähigkeit der Menschen, wertend zu urteilen; das ist ihr ästhetisches Vermögen. Hinaus läuft sie auf eine ewig prozessierende Verständigung der Menschen über ihre gemeinsamen, nämlich öffentlichen Angelegenheiten; überall da, bis wohin die Notwendigkeiten reichen und ab wo frei gewählt werden kann: Von da an kann man fröhlich streiten.


19. 5. 2014


Vernunft und Dogma, das ist doch ein Widerspruch! Glauben ist das Gegenteil von Wissen, und Vernunft und Wissen sind Wechselbegriffe.

Und doch verfährt jedes aktuelle vernünftige Argument dogmatisch. Es setzt Vernunft als tiefsten Grund und als ultimativen Maßstab als gegeben voraus.


Sie muss deshalb nicht, wie Kant es nennt, dogmatist isch sein - indem sie sich als unhintergehbar und unbe- gründbar ausgäbe. Das zu zeigen, hielt Kant für seine Lebensaufgabe.

Aber der dogmatische Rationalismus hat seine Kritik überstanden, er entsteht mit dem Alltagsgebrauch der Vernunft jederzeit neu, die Kritik führt einen Stellungskrieg oder sie geht unter. 

Heute ist sie wiedermal weitgehend untergegangen und Vernunft gilt als Denken mit Bügelfalte. Wer in einer philosophischen Diskussion ernstlich mit der Vernunft operierte, bekäme nicht einmal Widerspruch, sondern spöttische Blicke und spitze Bemerkungen.

Vernunft, die sich mit ihrem Alltagsgeschäft begnügt - und dazu gehört die Wissenschaft toto coelo -, ist nur halb. Sie stößt überall an Grenzen, die sie nicht überschreiten darf, und wirkt trocken und prosaisch. Wer "wei- tergehen" will, lässt sie hinter sich - anything goes - und öffnet Obskurantismus und Schwindel aller Art Tür und Tor.

Vernunft kommt erst zu sich, wenn sie sich ihrer Voraussetzungen annimmt. Und prompt findet sie, dass... sie keine hat als den freien Willen zu sich selbst. Ihre Begründung liegt nicht hinter ihr, sondern hat sie sich jederzeit voraus zu setzen: dass Wahrheit sein soll; und Schritt für Schritt neu zu setzen. Ihre Mühen sind keine Grenzen, sondern zu nehmende Hürden.



 



Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Dienstag, 29. Januar 2019

Wahrheit und Systematik.


Wissen ist wahr, sofern es System ist. Es ist System, sofern es in einem Grundsatz zusammenhängt - so dass Jedes seinen Platz von allen Andern angewiesen bekommt und seinerseits allen andern ihren Platz anweist; sofern sie nämlich alle aus demselben Grundsatz folgen.*

Zuerst ist aber das reale Wissen dagewesen; jedes für sich. Der Satz bedeutet also in Wahrheit: Das in der Ge- schichte verstreut angesammelte Wissen wird wahres Wissen, wenn es zu einem System gebildet wird. Das wieder- um ist nicht möglich, indem man "die Sammlung vervollständigt" - alle möglichen Wissenssätze ausfindig macht und zusammenstellt -, sondern indem man den jedem wirklichen Wissensakt zu Grunde liegenden "Grund"-Satz herausfindet. 

Wenn sich ein solcher Satz auffinden lässt, kann das Wissen zu einem System gebildet werden, 'in dem jedem Satz sein Platz von allen andern Sätzen angewiesen ist', bevor noch "jeder Satz" ausgesprochen wurde. Lässt sich zeigen, dass der aufgefundene Grund-Satz nicht bloß tatsächlich (summativ; das ginge ja gar nicht!), sondern notwendig allen Wissensakten zugrundeliegt, dann ist das Wissen "wahr" in dem Sinne, dass außer ihm nichts ge- wusst werden kann. Also - wenn es Wissen gibt (Wahrheit gibt), dann innerhalb dieses Systems. Wenn nicht innerhalb dieses Systems, dann überhaupt nicht (wovon man allerdings nichts wissen könnte).

*) Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, SW I, S 57-62, 70ff.

aus e. Notizbuch, 26. 6. 03


Wissen ist entweder richtig - wenn es dazu taugt, die Operation auszuführen, die ich beabsichtige; oder es ist wahr - dann ist es end gültig: Es gilt unter allen möglichen Bedingungen. Was falsch und unwahr ist, gilt nicht als Wissen, sondern als Irrtum oder Lüge. 

Richtige Sätze gelten so lange, bis die Operationen, für die sie taugen sollen, erfolgreich abgeschlossen sind. Alle wahren Sätzen gelten über Raum und Zeit hinaus. Ihnen muss eines gemeinsam sein, das sie gelten macht; und in diesem Einen hängen sie miteinander zusammen. - Das ist ein Prämisse, die jeder, der sich auf eine ver- nünftige Erörterung einlässt, tatsächlich macht, und sei es stillschweigend oder gar unter der Behauptung, that anything goes.
JE

18. 1. 15


Sie hängen untereinander zusammen dadurch, dass sie alle auf demselben Weg zustandegekommen sind: dem, den wir vernünftig nennen. Es ist dieser Zusammenahng, der sie zum System stimmt. Seine Gültigkeit ist nicht erwiesen durch seine Bewährung an bewältigten Aufgaben. Die könnte unser Zutrauen veranlassen, doch alles, was wirklich ist, ist eo ipso zufällig - nämlich so, dass es unter andern Bedingungen auch anders hätte ausfallen können. Eine Erfahrungsvernunft ist nicht besser als ein Konsens am Biertisch.

Vernunft beruht nicht in ihrer Zweckmäßig keit. Das würde man Verstand nennen, oder Kalkül. Vernunft be- ruht auf... ach was: agiert aus ihrer Zweckhaftig keit. Sie ist nicht Erfüllung von Zwecken, sondern ihr Entwerfen. Sie ist ein immer wieder neu zu deckender Scheck auf die Zukunft. Und wohl ist es wahr, dass vernünftig immer nur ein Einzelner - einer, der Ich sagen kann - ist; aber er ist es immer nur zu dem Teil, mit dem er Anteil an der Reihe vernünftiger Wesen, kurz: Anteil an der Vernunft hat. Die aber besteht nur, entsteht nur in dem Entwerfen ge- meinsamer Zwecke; stets auf dieselbe Weise.
JE

Samstag, 30. November 2013

Zählen und messen und werten und schätzen.


S. Hofschlaeger, pixelio.de

..."Dieser Gedanke ... setzt als selbstverständlich voraus, daß Qualität und Quantität Grundeigenschaften der wirklichen Naturvorgänge sind. Das ist aber eine durchaus oberflächliche Anschauung. In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwischen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zunächst nicht anders als den zwischen rot und blau. Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnissen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen." 
Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932)*, **

Erst die Arbeitsgesellschaft hat Messen und Kombinieren so in den Vordergrund treten lassen, daß der eigentlich-poietische 'Anteil' des Geistes - der eigentlich sein Grund ist - als ein uneigentliches Residuum in den Hintergrund tritt. Vollends mit dem Beginn der industriellen Kultur, wo Fragen nach dem "Wesen" (quale) im Zuge der 'Entmythologisierung' und 'Entzauberung der Welt' als "metaphysisch" direkt abgewiesen werden. Das postmoderne "Anything goes" ist nur der Punkt auf dem i. Es ist überhaupt nicht "post". Es verweist die Frage nach den Qualitäten endgültig unter die Spielereien; freilich - wenn sie "funktionieren", why not?

Dieses "Residuum" wird 'bestimmt' (ex negativo: als das uneigentlich-Überschüssige) als "das ästhetische Erleben".

Daher die Unmöglichkeit, das Ästhetische positiv zu "definieren": Es ist eben nicht "positiv", sondern negativ bestimmt: als Ausschluß von dem, was für die Welt der Arbeit "nicht nötig" ist. Im Laufe der Entfaltung der Arbeitsteilung und galoppierend seit der Industrialisierung wurde das immer mehr.

Nota. Die Bereitschaft, Bedeutungen zu erfinden über das unbedingt Nötige hinaus - Abenteuer, Spiel, Risiko - ist stammesgeschichtlich auf der männlichen Seite der Gattung stärker ausgeprägt; weshalb der Umstand, daß allein diejenige Gattung, wo das Männliche einen relativ autonomen 'Stand' erworben hat, diejenige war, die den Sprung in die Welt gewagt hat. Und weshalb die 'ästhetischen' Tendenzen bis auf den heutigen Tag im männlichen Teil stärker ausgeprägt sind als im weiblichen. (Sollte sich das künftig ändern, tant mieux.)

*) neu Ffm. 1988, S. 155

aus e. Notizbuch,14. 7. 2005
  
**) Ob ich reichlich zu essen habe oder nicht genug, ist der Qualitätsunterschied von satt und hungrig.

Dienstag, 31. Dezember 2013

I. „Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18,38)


Was ist Wahrheit, fragt Pontius Pilatus, und will sagen: Es ist ja alles relativ… Klang es bei ihm philosophisch-resigniert, so machte die Postmoderne, die wir in diesen Tagen hinter unslassen, eine Tugend aus der Not: “Anything goes…”, krähte sie selbstgefällig-vergnügt: “…Hauptsache, es funktioniert!” 

Darin sind sich Analytische Philosophie, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, die seit Jahr und Tag konkurrierend das geistige Feld beherrschen, einig: Die Frage nach der Wahrheit ist “metaphysisch”, was so viel bedeutet wie: unstatthaft; denn sie sei so gefasst, dass darauf immer nur eine dogmatische Antwort möglich sei, nämlich eine, die aus Glaubenssätzen stammt und nicht aus vernünftigem Argument.

Am Anfang der Moderne – die die Postmoderne doch zu überbieten trachtete – stand, wie gesagt, die Romantik. Was das Wahre sei, war den Romantikern so ungewiss geworden, dass sie gelegentlich zu der Auffassung neigten, das Ungewisse sei selber das Wahre. Der Rationalismus und die “Aufklärung” des 17. und 18. Jahrhunderts hatte an die Stelle der geoffenbarten Wahrheiten der voraus gegangenen Dunklen Jahrhunderte die stolze Selbstgewissheit der Vernunft gesetzt. Aber die war durch Immanuel Kants Drei Kritiken gehörig ins Wanken geraten. Die Romantik war in Jena aus der unmittelbaren Anregung durch die ‘Wissenschafsftlehre’ Johann Gottlieb Fichtes entstanden. Der verstand sich als der Radikalisierer und Vollender von Kants kritischer bzw. ‘Transzendental’-Philosophie.

Zu der Zeit tummelten sich auf den öffentlichen Plätzen – wie heut im Zeichen der Postmoderne – jene, die meinten, die Wahrheit gebe es gar nicht, allenfalls Wahrheiten…, und sich dabei furchtbar schlau vorkamen. Aber das ist nur eine Ausflucht. Wenn diese ‘vereinzelten’ Wahrheiten wahr sein sollen, dann sind die es unbedingt. Wenn sie nur bedingt wahr sind, dann ist dasjenige, was sie bedingt, unbedingt wahr – oder Alles ist nicht wahr. 

Um die Frage, was das Wahre ist, kommen wir also nicht herum. Und halten wir gleiche eines fest, um das wir auch nicht herum kommen: dass das Wahre zunächst einmal als Frage “ist”.

 

*  Ein intellektuelles Gefühl.


Wahrheit ist keine Sache, sondern ein Verhältnis. Nämlich zwischen einem, der etwas weiß, und demjenigen, was er weiß. Das Wort sagt etwas über die Qualität dieses Verhältnisses aus: nicht, dass es ‘ist’, sondern dass es gilt. Etwas ‘gilt’ freilich nur für irgendwen. Und auch nicht an und für sich, sondern erst wenn und insofern er etwas tun will oder soll. Es mag auch nur ein rein gedankliches Tun sein: vorstellen und über Vorstellungen urteilen. 

Ob etwas ‘gültig’ und also “wahr” ist, wird sich erweisen im und durch den Vollzug dieser Handlung. Wenn also etwa das betroffene Urteil ‘richtig’ ist, und das heißt: zu weitergehendem Urteilen taugt. Hier passt ein ‘Fragment’ des Urromantikers Friedrich Schlegel: “Logik ist eine praktische Wissenschaft.”

Bis hierhin ist das eine rein pragmatische Bestimmung: Wahrheit erweist sich jeweils vor ihren Zwecken, sie ist eine Zweckmäßigkeit. Wahrheit ist nicht Etwas, das “ist”, sondern das, was sein soll. Das ist aber erst der Anfang. Richtig ernst wird es erst wenn nach den Zwecken selbst gefragt wird: wozu ‘Wahrheit’ taugen soll. “Gibt es” einen absoluten Zweck?

Darüber will ich gerne weiter diskutieren. Aber in einem Beitrag ist es natürlich nicht abzumachen. Es wird eine ganze Reihe nötig werden… Und mehr als einmal werden der Autor und seine Leser im Lauf der Auseinandersetzung das ungute Gefühl haben: Aber an der Stelle waren wir doch schon mal! Drehn wir uns im Kreis?

Ja, wir sind wieder am selben Punkt; aber diesmal ein paar Etage höher: Es ist wie eine Wendeltreppe.


wendeltreppe3

 

Donnerstag, 4. August 2016

Zählen und messen und werten und schätzen.


S. Hofschlaeger, pixelio.de

..."Dieser Gedanke ... setzt als selbstverständlich voraus, daß Qualität und Quantität Grundeigen-schaften der wirklichen Naturvorgänge sind. Das ist aber eine durchaus oberflächliche Anschau-ung. In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwi-schen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zu-nächst nicht anders als den zwischen rot und blau. Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnis-sen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen." 

Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932)*, **

Erst die Arbeitsgesellschaft hat Messen und Kombinieren so in den Vordergrund treten lassen, daß der eigentlich-poietische 'Anteil' des Geistes - der eigentlich sein Grund ist - als ein uneigentliches Residuum in den Hintergrund tritt. Vollends mit dem Beginn der industriellen Kultur, wo Fragen nach dem "Wesen" (quale) im Zuge der 'Entmythologisierung' und 'Entzauberung der Welt' als "metaphysisch" direkt abgewiesen werden. Das postmoderne "Anything goes" ist nur der Punkt auf dem i. Es ist überhaupt nicht "post". Es verweist die Frage nach den Qualitäten endgültig unter die Spielereien; freilich - wenn sie "funktionieren", why not?

Dieses "Residuum" wird 'bestimmt' (ex negativo: als das uneigentlich-Überschüssige) als "das ästhetische Erleben".

Daher die Unmöglichkeit, das Ästhetische positiv zu "definieren": Es ist eben nicht "positiv", sondern negativ bestimmt: als Ausschluß von dem, was für die Welt der Arbeit "nicht nötig" ist. Im Laufe der Entfaltung der Arbeitsteilung und galoppierend seit der Industrialisierung wurde das immer mehr.

Nota. Die Bereitschaft, Bedeutungen zu erfinden über das unbedingt Nötige hinaus - Abenteuer, Spiel, Risiko - ist stammesgeschichtlich auf der männlichen Seite der Gattung stärker ausgeprägt; weshalb der Umstand, daß allein diejenige Gattung, wo das Männliche einen relativ autonomen 'Stand' erworben hat, diejenige war, die den Sprung in die Welt gewagt hat. Und weshalb die 'ästhetischen' Tendenzen bis auf den heutigen Tag im männlichen Teil stärker ausgeprägt sind als im weiblichen. (Sollte sich das künftig ändern, tant mieux.)

*) neu Ffm. 1988, S. 155

aus e. Notizbuch,14. 7. 2005
  
**) Ob ich reichlich zu essen habe oder nicht genug, ist der Qualitätsunterschied von satt und hungrig. 



Dienstag, 19. August 2014

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man nicht schweigen


Édouard Drouaut                                                                                                                aus Geschmackssachen

Es gibt 'Gehalte' des Erlebens, die - jedenfalls innerhalb derselben Kultur - einem jeden bekannt sind und über die er darum mit jedem andern sprechen kann, sofern sie sich über deren Benennung einigen. Sofern sie sie also gemeinsam 'bezeichnen' können; ohne daß nur einer von ihnen imstande wäre, den exakten Ort anzugeben, den sie im beweglichen System ("Sprachspiel") all der andern 'gültigen' Namen einnehmen - weil sie anscheinend gar nicht darinnen liegen, sondern irgendwo an seiner Grenze. Das sind, mit einem altertümlichen Wort zu reden, Existenzialien, die dem je individuellen Leben gewissermaßen als vorausgesetzt begegnen ("Urphänomene", nach Goethe); wie z. B. Liebe, Leidenschaft, Freiheit, Sinn, Verzweiflung, Schönheit, Glück, Ehre und Anstand. (Übrigens auch Komik und... Wissen.) Ein jeder für sich 'weiß, was gemeint ist'; nur sobald er es einem andern erklären soll, dann geht es ihm wie Augustinus mit der Zeit: Er kann es nicht sagen. Und je kritischer der Geist, der im öffentlichen Diskurs waltet, umso mehr neigen die 'existenziellen' Begriffe dazu, aus dem aktiven Wortschatz ganz zu schwinden. 

Daß sie sich seit drei Jahrtausenden - seit das Definieren begonnen hat - der Definition widersetzen, zeigt an, daß sie zur Exposition in diskursiver Wissenschaft nicht taugen. Sie können allenfalls in Bildern gezeigt und in Mythen erzählt werden, denn sie sind uns nie positiv gegeben, sondern immer als Problem. Wir 'haben' sie nicht, sondern wir 'meinen' sie nur. Das ist dann auch eine Form von Wissen (oder 'Gewärtigkeit'), aber eben nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Die Kunst "erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist", steht bei Th. Adorno. Sie ist nicht das Leben, und sie 'dient' ihm auch nicht wie die Wissenschaften. Sondern sie stellt es dar - als sein Anderes, an dem es 'sich selbst erkennt'. Ob nämlich ihre Verheißung nur eine Täuschung ist, sei selber ein Rätsel, fügte Adorno hinzu. Sie ist eine Lüge, nach Picasso, an der die Wahrheit deutlich wird. Das immerhin hat die Kunst mit der Wissenschaft gemein: daß sie das Andere des Lebens ist. "Wissenschaft ist Kunst, aber Kunst ist nicht Wissenschaft", fand der ungarische Musiker Sándor Végh. Und wenn das Leben 'bestimmt' werden sollte (was es aber nicht nötig hat), so wäre es nur zu bestimmen als das Andere dieses Anderen.

Bislang: Das Leben ist Arbeit: bestimmt als Bestimmen. Aneignung der Welt, Ökonomie, Begreifen. Ist nun die Arbeitsgesellschaft am Ende? Je weniger 'bestimmt' die Welt nun ist, umso weniger erscheint der irreduzible Rest als unbestimmt! Umso weniger rätselhaft erscheint die Welt - nämlich was "an ihrer Grenze liegt". Weniger rätselhaft - weniger 'ästhetisch'? Ein Zeitalter der Neuen Anästhetik? (Schwätzer W. Welsch)

 

Oder auch: Was dem "System" zu Grunde liegt, kommt im System nicht vor. Von "darinnen" kann man sich seiner nur so eben noch "erinnern" (anámnesis), eigentlich: eräußern. Und zwar nicht so, als ob es einmal 'da' gewesen wäre und dann verloren ging, sondern wie wenn es wohl präsent, aber doch nicht gegeben ist. "Es" hat dich mehr, als du "es" hast; méthexis. Es ist das, worauf alles Andere deutet; sozusagen "die Bedeutung selbst", vulgo Sinn des Lebens - worum es nämlich "allem Wissen zu tun ist", welcher Modalität es auch sei. Da es den Begriffen zu Grunde liegt, kann es unter dieselben nicht gefaßt werden. Man kann es nur in Bildern "sehen lassen" oder Geschichten davon erzählen. Das ist auch ein 'Wissen von...', aber ein anschauliches.
 

Daß der Alltag, alias Werktag und materieller Verkehr der Menschen, in der "postindustriellen" ("Medien"-) Gesellschaft "remythisiert", also neu "verzaubert" würde - glaubt das jemand im Ernst? Nein, der Alltag schrumpft, nimmt weniger Platz ein im Leben, er wird weniger. Und mit ihm schrumpft die Erwachsenheit der Menschen. Wogegen der Sinn des Lebens bedeutender wird, nämlich unmittelbarer bedeutend. Das tägliche Leben wird unalltäglicher. Nicht, daß die Figuren, in denen vom Sinn des Lebens erzählt wird, unästhetischer würden. Nur wird ihre anschauliche Gegebenheitsweise nicht mehr in aggressivem Gegensatz stehen zum diskursiven Verstand; weil der jetzt weiß, wo er hin gehört und wohin nicht.
 

[Pädagogik ist Kunst und nicht Wissenschaft. Sie ist eine ästhetische Praxis und wo sie glückt, rechtfertigt sie sich aktual - hier und jetzt und anschaulich. Dabei ist sie nicht "das Leben". Denn das, was sie in ihren Bildern zeigt und in ihren Mythen erzählt, ist nicht das Leben selbst, sondern - sein Anderes; ein Rätsel, an dem es kenntlich wird. Dies Rätsel hat die Pädagogik den Menschen zu vergewärtigen, solange sie in dem Alter sind, wo sie dafür noch Muße haben und das Rätsel noch lockt. Denn hinterher ist es zu spät.]
 

Der Grund des Lebens ist problematisch: eine (unendliche) Aufgabe - nämlich eine, die sich dadurch "auszeichnet", daß sie nie gelöst ist; "bestimmbar" nur als Rätsel. - Geführt werden kann das Leben immer nur "so, als ob" das Rätsel allbereits gelöst sei. Von diesem Als-ob gibt die Kunst uns ein Bild: "Schönheit". Die moderne Kunst, als 'die zu ihrer Bestimmung gelangte', zeigt zugleich, daß ihre Lösungen Schein sind. Je positiver das Zeitalter, umso problematischer ("subversiv", "kritisch") seine Kunst: 19. Jahrhundert! Mit der Romantik kommt "das Schöne" in Verruf – als etwas, das die Kunst zu entlarven habe. - Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint - mit der "Postmoderne" - die Kunst diesen ihren positiven Widerpart verloren zu haben: Weder "Das Rätsel ist gelöst", noch wird die "schöne" Lösung denunziert; sondern: J'm'en fous, anything goes! Es gibt gar keine Rätsel für die, denen eh' alles wurscht ist. - Daß nicht alles wurscht ist, kann mittlerweile nur die Kunst zeigen. Oder auch, das Leben läßt sich nur ästhetisch rechtfertigen.