Sonntag, 3. März 2019

Kann die Vernunft sich rechtfertigen?

Escher

Unter Vernunft vestehen wir - unausgesprochen, denn das ist seine Bedingung - unser System geprüfter und im geistigen Verkehr bewährter Begriffe. Es ist ein System in processu und nur darum sind wir bereit, es als System anzunehmen: Begriffe, die ihren Dienst nicht mehr tun, werden ausgemustert oder als zu vieldeutig einstweilen auf die Reservebank verwiesen (aber wir haben ein gutes Gedächtnis, und mancher Begriff, der verworfen wur- de, kommt gelegentlich wieder zu Ehren). Und: Es kommen allezeit neue hinzu.

So aber nehmen wir das System als gegeben an - so selbstverständlich, dass die Frage Woher? und Wozu? seit gut einem Jahrhundert als 'metaphysisch' schon gar nicht mehr statthaft ist. Ist es vom Himmel gefallen, hat es sich autopoietisch ex nihilo selbst kreiert? Hat es sich aus bloßer Erfahrung angesammelt?

Das wäre völlig gleichgültig, wenn seine Geltung heute nur pragmatisch gerechtfertigt ist. Tut es den Dienst, den man ihm vernünftiger Weise unterstellen darf?

Die Frage lässt sich nicht erörtern, wenn wir die Begriffe, aus denen es besteht, zu seiner Überprüfung auf das System selber anwenden. Es könnte immer nur antworten Ick bün all do. Wir müssen vielmehr eine Vorausset- zung aufsuchen, unter der allein die Begriffe zu dem werden konnten, was sie (uns heute) sind.

Die Wissenschaftslehre behauptet, die allgemeine Prämisse aufgefunden zu haben, auf der alle unsere Begriffe in letzter Instanz beruhen, auf die sie alle letzendlich zurückzuführen sind, und vor der sie sich alle praktisch bewäh- ren müssen. Sie heißt: Vernünftig ist der Mensch, wenn und insofern er sich ursprünglich als wollend vorstellt. Lässt sie sich überprüfen? Historisch, empirich, faktisch nicht; nur pragmatisch: Lässt sich unter dieser Voraussetzung das Leben vernünftig führen?


Das wäre ein Zirkelschluss?

Nun ja. Aber es ist ein zirkulärer Rückschluss, und das ist, worum es uns zu tun war: Hat Vernunft einen Grund? Quod erat demonstrandum: Ihr Grund ist ihr Zweck.


19. 12. 17


Die rationale Fiktion

Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles sei eine geschlossene Sphäre,  deren Umfang lückenlos von Begriffen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen.
 

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbegrenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unterscheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie wenigstens zu vergleichen wären.

Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaft- lichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.

ca. 2009



Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig verhalten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei. 

Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikte, der nur auf Messer Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kopfe ist, können wir unser alltägliches Ungefähr riskieren.*

Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teilchen, die zugleich Bedeutungs-Partikel darstellen, und insgesamt einen Sinn hat, der unabhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir und in unserer Alltagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphilosophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.

Wozu ist das gut? Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlossen.

"Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Metaphysik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestimmung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die theore- tische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.

Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstver- trauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal lediglich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."

*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osnabrück der Westfäli- sche Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als glaubwürdiger Bürge die Vernunft nachrücken. 

23. 1. 19


Anwendung



Der gesunde Menschenverstand ist die pragmatische Gebrauchsform der Vernunft. Sie ist überall an ihrem Platz, wo es um Fragen geht, die aus der Erfahrung zu beantworten sind. Im täglichen Leben geht es um Ungefähres, und die Erfahrungen, die es haben kann, sind ebenso ungefähr. Darum werden im Alltag Fragen gar nicht gelöst, sondern konsensuell unschädlich gemacht; das reicht in den meisten Fällen, äußersten Falls versucht man es noch- mal.

Um in Genua oder sonstwo eine Brücke zu bauen, reicht kein Ungefähr. Technische Fragen müssen gelöst wer- den. Dafür haben wir die Wissenschaft. Die nimmt es, anders als der Alltagsverstand, ganz genau. Darum ist ihr grundlegendes Verfahren das Experiment - was sie vor Irrtümern nicht schützt: Tatsachen können auch mal übersehen werden. 

Doch grundsätzlich steht auch die exakteste Wissenschaft im Modus des gesunden Menschenverstands. Das hindert sie nicht am abstrakten Theoretisieren. Wo praktische Versuche nicht machbar sind wie im gesellschafts- wissenschaftlichen Bereich, entwirft sie Modelle, wo begriffliche Extrapolationen die empirischen Daten ersetzen müssen, und denkt sich an und mit ihnen das Faktische, das ihr unmittelbar nicht zugänglich ist. So aber auch in der Theoretischen Physik. Was in der Wirklichkeit nicht anschau- und folglich nicht messbar ist, wird zusammen mit bekannten reellen Daten in eine mathematische Formel gebracht, mit der sich rechnen lässt. Die so neu ge- wonnenen Daten lassen sich wenn nicht direkt, dann mittelbar experimentell überprüfen - und sei es nur, dass das Modell den Rechnungen standhält. So ist es möglich, dass wir uns Dinge denken, die wir uns doch nicht vorstellen können.

Denn unterste Grundlage bleiben ja die experimentell gesicherten reellen Daten.

Die grundsätzlichen Fragen der Menschheit - Wie sollen wir unsere Welt einrichten? - sind nicht experimentell zu klä- ren. Da reicht es nicht, zu erproben, wie was funktioniert; es kommt darauf an, Zwecke zu setzen. Modellrechnun- gen mögen erst recht notwendig werden, und die konkreten Daten, die in sie eingehen, müssen erst recht gesi- chert sein. Das bleibt Sache der realen Wissenschaft und ihres gesunden Menschenverstands. Aber die Frage, welches Modell man will und welche Gefahren man zugunsten welcher Möglichkeiten einzugehen bereit ist, ist eine Frage der Vernunft im strengen Sinn. Da gilt kein Ungefähr und kein Konsens, das wird man entscheiden müssen.

*

Muss sich aber die Vernunft rechtfertigen - etwa um ihrer selbst willen?
Dazu ist sie gar nicht da. Mich soll sie rechtfertigen, dafür habe ich sie zur Welt gebracht.











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