Sonntag, 10. März 2019

Inwiefern das Ästhetische zum spezifisch Menschlichen wird.


'Der Mensch hat mit seinem Ausbruch in eine fremde Welt die Vorbestimmtheit alles ihm Erscheinenden ver- loren: Ihm "erscheint" auch das, was für Stoffwechsel und Fortpflanzung ... ohne Bedeutung ist. Er muss Dinge selbst-bestimmen. Zuerst, ob sie für Stoffwechsel und Fortpflanzung 'in Frage kommen'. Von ihm fordert jede Erscheinung ein Urteil. Das ist die Grundbedingung des Existierens in einer Welt. Das Urteilen ist: im Wahrneh- men ipso actu entscheiden zwischen Beifall und Missbilligung.' 

So habe ich [seinerzeit] aus einem Notizheft zitiert und auf den ursprünglich ästhetischen Charakter des Urtei- lens hingewiesen: 'Beifall und Missbilligung erfolgen nämlich einstweilen versuchsweise: 'Ob es was taugt?' - 'Mal sehen, zu was.''

*

Ich hole aus.

'Beifall und Missbilligung' - damit kennzeichnet der Fichte-Schüler Herbart, der früh mit der Transzendental- philosophie gebrochen hat, um zu den Eleaten (und eigentlich auch Leibniz) zurückzukehren, die Besonderheit der ästhetischen Urteilensweise. - Wie ein Kantianer unterscheidet er das Wissen nicht nach seinen Gegenständen, sondern nach der Art und Weise, wie es zustandekommt. Und zwar unterscheidet er Metaphysik und Ästhetik. Metaphysisch ist alles Wissen, das durch das An- und Verknüpfen von Vorstellungen zustandekommt; also das ganze Feld des diskursiven Denkens. Ästhetisch nennt er jene Vorstellungen, die notwendig unmittelbar mit einem Gefühl des Beifalls oder der Missbilligung begleitet sind. Ästhetische Vorstellungen im Bereich der Wil- lensakte nennt er ethisch, Ethik ist ein Teilbereich der Ästhetik. - Dass er Fichte-Schüler war, ist kaum zu über- hören, wenn er es selber auch nicht wahrhaben wollte.


Zurück zum Ur-Sprung der Menschwerdung. Der Mensch, der die Selbstverständlichkeiten seiner Urwald- nische hinter sich gelassen hatte, musste fragen. Die Frage 'Ist es dies?' 'Ist es das?' kommt nie zu einem Ende, wo alles neu ist; wäre aber nur möglich, wenn die Erinnerungen an die verlassene Umwelt bestimmt wären, aber gerade das waren sie nicht - sondern selbstverständlich. 'Kann ich es essen, kann ich es trinken' - so wie noch heute der Franzo- se fragt - ist eine enge Fragestellung, aber 'Dient es meiner Selbst- und Arterhaltung?' konnte er noch nicht fra- gen, doch selbst auf die Frage nach der Genießbarkeit gab es nur eine Antwort: Du musst es versuchen. 

Die Versuchung ist es, die Beifall oder Missbilligung heischt, nicht das Ding. Die Frage, ob man's wagen soll, lässt sich aus Begriffen (noch) nicht entscheiden, sie muss intuitiv gefunden werden, in der Anschauung selbst. Es ist ein - ästhetisches Urteil.



Das ist Anthropologie, nicht Transzendentalphilosophie. Aber sie steht unter der Aufsicht der Transzendental- philosophie. Sie hat nicht zu beweisen - aus welchen Dokumenten denn ? -, weshalb dieses so und nicht anders kommen musste. Sondern sie muss ausschauen, ob Bedingungen gegeben sind, an die sie sinnvoll ihre Fragen stellen kann. Die Fragen kommen woher? Aus dem, was uns phänomenal als 'das Menschliche' vorliegt. Die Bedingun- gen, das ist das Wenige (das aber immer mehr wird), was uns die Paläontologie versichern kann.

Wir haben gedacht, das spezifisch Menschliche, das uns phänomenal vorliegt, sei die Intelligenz. Von der wissen wir inzwischen, dass sie reichlich auch überall im Tierreich schon vorkommt, unsere Vorsprünge sind überall nur graduell. Auch dass Versuchungen an uns treten, ist nichts Spezifisches. Das wird Tieren auch passieren, und da zeigt sich, dass schon bei ihnen persönliche Lebenserfahrung ein Rolle spielt. Ansonsten sind Versuchungen für das Tier wie eine Lotterie.

Aber der Mensch will spielen. Er sucht die Versuchung, er bleibt sein Leben lang neugierig wie sonst nur die Kinder, er steht allezeit vor der Frage, ob ihn das Abenteuer lockt oder die Gefahr ihn schreckt. Früher war er Jäger. In der Arbeitsgesellschaft konnte er das nicht bleiben, darum hat sie den Phänotypus des Künstlers her- vorgebracht. So kam das ästhetische Vermögen zu seinem vorläufigen Bestimmungspunkt.

Das ist die Frage und die Antwort.


1. 12. 14 

*

Noch einmal, kühl und trocken: Das spezifisch Menschliche ist zunächst, dass Homo sapiens seine Umweltbezo- genheit verloren hat und damit sein angestammtes Bedeutungsgefüge. Diesen Mangel musste er kompensieren: indem er sich die Fähigkeit zum Bestimmen des Vorgefundenen selbst anerfand. Wie? Wer weiß, geschehen ist es jedenfalls, und nicht nur unsere nächsten Verwandten, sondern auch viele andere Tiere haben eine Menge von Fähigkeiten, über die sie nur deshalb nicht verfügen, weil die Not sie nicht zu ihrer Ausbildung zwang.

Letzteres war anders bei unsern Vorfahren. Sie haben sich im vaganten Leben zwischen wechselnden Savannen- nischen unter Bedingungen gesetzt, wo nicht nur improvisiertes Verhalten, sondern insbesonders die Verständi- gung in der wandernden Gruppe überlebenswichtig wurden.

So wurden beide Errungenschaften nicht nur bewahrt, sondern gepflegt und ausgbaut; kultiviert.

'Kulturen' sind inzwischen auch bei anderen Tieren beobachtet worden; doch sie stagnieren. Die der Menschen stagnierten nicht, denn sie waren aus einer Nische in eine offene Welt aufgebrochen, in der Neuerfindungen sys- temisch angelegt sind. Das eigentlich Revolutionäre daran: Was gut und was schlecht ist, mussten sie von nun an selber beurteilen. Die Populationen, die diese Fähigkeiten entwickelten, haben überlebt; die andern sind wohl aus- gestorben.

Der entscheidende Wendepunkt war die Erfindung des Ackerbaus und die erneute Sesshaftigkeit. Es entstand die Arbeitsgesellschaft, und mit ihr die große Differenzierung des anfänglich in sich ununterschiedenden wertenden Vermögens: Zehntausend Jahre lang wurden seither Fähigkeiten privilegiert, die sich auf das Verhältnis von Zwecken und Mitteln bezogen. Die Zwecke selbst waren noch nicht bestimmbar, dazu reichten die Mittel des gedanklichen Austauschs und selbst der materiellen Kooperation noch nicht aus: Die Zwecke 'ergaben sich von selbst' aus dem blinden Lauf der Dinge - Auslese und Anpassung, so wie "in der Natur".

So war das bis heute. Denn indem diejenigen Fähigkeiten in den Vordergrund rückten, die - wie bei den Tieren - auf Selbst- und Arterhaltung zielen, wurden die andern, zweckfreien Urteilsvermögen zur Luxusbetätigung der müßigen, weil herrschenden Klassen. Dem Rest der Welt mussten sie vorkommen wie nutzlose Verschwendung. Das Ästhetische ist seiterher das schlechterdings Nebensächliche. Dabei ist es die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, die über Nutz und Vorteil hinausgehen. 

Das Problem, gemeinsame Zwecke in Freiheit zu setzen, ist freilich noch nicht gelöst.




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen