Elea, röm. Velia
aus spektrum.de, 25. Februar 2019
Die Vorsokratiker:
Xenophanes und Parmenides
Von Josef Honerkamp
Suche nach dem „Einen“ führte die Philosophen der Schule von Milet und
die Pythagoreer zu verschiede- nen Prinzipien und Grundaussagen. Die
speziellen Antworten, die sie jeweils gaben, sind für uns heute nicht so
wichtig. Viel interessanter ist es, dass sie sich vom mythologischen
Denken einen Schritt weit entfernten und begannen, Begründungen für ihre
Aussagen zu formulieren. Autoritäten mussten nicht respektiert werden,
Zweifel waren erlaubt. Noch interessanter ist aber, dass sie bei diesem
Bemühen schon auf einige Problemfelder stießen, die sich als grundlegend
für zukünftige Wissenschaften erweisen sollten. Diese Felder können mit
den Begriffen „Unendlichkeit“ und „Bewegung“ bezeichnet werden.
Die
„Eleaten“, jene Philosophen des 6. Und 5. Jahrhunderts v. Chr., die in
einer griechischen Siedlung Elea an der Westküste Süditaliens lebten,
sollten ein drittes Problemfeld einer solchen Bedeutsamkeit ins
Bewusstsein heben. Es war die Frage: Wie können wir verlässliches Wissen
erlangen?
Damit stehen schon in einer so frühen Zeit unserer
Geistesgeschichte drei fundamentale Fragen zur Diskussion. Und jede
dieser Fragen bzw. Problemfelder standen für ein Gebiet der damaligen
Philosophie: Die „Unendlichkeit“ für die Mathematik, die „Bewegung“ für
die Physik und die Frage nach dem verlässlichen Wissen für das, was wir
heute Εpistemologie oder Erkenntnistheorie nennen. Wir kennen es
inzwischen: Wenn man große Aufgaben angeht, treten auch andere große
Aufgaben in den Blickpunkt. Und wenn auch die ursprüngliche Aufgabe
nicht bewältigt werden kann, ergeben sich meistens fruchtbare Einsichten
bei der Behandlung der Folgeprobleme. Im technologischen Bereich nennt
man heute so etwas „spin-off“. Ich werde im Verlauf der späteren
Blogbeiträge diese fundamentalen Fragen immer im Blick behalten.
Wer
waren nun die Eleaten und wie haben diese die Frage nach einem
verlässlichen Wissen beantwortet? Ihre bedeutendsten Vertreter waren
Xenophanes (ca. – 570 bis ca. -470), Parmenides (um -515 bis um -455)
und Zenon von Elea (-490 bis um -430). Schauen wir uns an, welche
Möglichkeiten der Erkenntnis sie sahen und wie dabei auch wieder der
Begriff der Bewegung in den Fokus rückte sowie im Schlepptau davon der
Begriff der Unendlichkeit.
Xenophanes
Xenophanes
war zunächst wohl Rhapsode, also jemand, der Epen Hesiods und Homers
rezitierte, aber auch Elegien oder Spottgedichte schätzte und vortrug.
In Elea hat er sich erst nach einem langen Leben niedergelassen, in dem
er manch fremde Kultur kennen gelernt hatte.
Zur
Frage nach den Möglichkeiten einer Erkenntnis nimmt Xenophanes eine
ganz neue Sicht ein. In einem Fragment (Mansfeld & Primavesi, 2011,
pp. 229, Nr.32) heißt es:
Die Götter haben den Menschen
durchaus nicht gleich am Anfang alles enthüllt, sondern im Laufe der
Zeit suchen und finden sie Besseres hinzu.
Das
ist nun frappierend aktuell. Hier wird schon 2.500 Jahre vor unserer
Zeit die Erkenntnis der modernen Wissenschaftstheorie formuliert, dass
das Wissen in einer Art Evolution wächst. In der Entwicklung der
modernen Physik sehen wir das besonders deutlich: Die Theorien werden
der immer größer werdenden Anzahl von Beobachtungen und experimentellen
Ergebnissen angepasst. Der Gültigkeitsbereich einer Theorie wird dadurch
immer größer; sie wird dadurch immer „besser“. Eine Theorie, der ein
solcher Anpassungsprozess nicht genügend gut gelingt, wird höchstens ein
Thema der Geschichte der Physik. Am Beispiel der Bewegung werden wir
bald deutlich sehen, wie im Laufe der Entwicklung der Physik solche
besseren Theorien jeweils aussehen.
Xenophanes formuliert also
einen Weg zum Wissen, in dem die Menschen suchen, und dabei etwas
„Besseres“ finden, ganz im Gegensatz zum mythologischen Denken, „welches
nichts sucht, immer apodiktisch spricht und beansprucht, einfach wahr
zu sein“ (Schupp, 2003a, p. 87).
Von der Möglichkeit, einmal in
einem endgültigen Besitz der Wahrheit zu sein, ist aber nicht die Rede.
Im Gegenteil – heißt es doch nach Sextus Empiricus (160 bis 210) bei
Xenophanes (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 231, Nr.39):
Klares
hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es
gesehen hat hinsichtlich der Götter und aller Dinge, die ich erkläre.
Denn sogar, wenn es einem im außerordentlichen Maße gelungen wäre,
Vollkommenes zu sagen, würde er sich deshalb trotzdem nicht bewusst
sein: Bei allen Dingen gibt es nur Annahme.
Der Satz „Bei
allen Dingen gibt es nur Annahme“ nimmt sogar schon voraus, dass all
unser verlässliches Wissen über die Welt aller Dinge, selbst wenn es in
Form physikalischer Theorien vorliegt, letztlich auf bestimmten
Grundgedanken, Prinzipien bzw. Grundgleichungen beruht.
Xenophanes
nennt unsere Erkenntnisse deshalb nur „Meinungen“, wobei dieser Begriff
nicht eine Beliebigkeit bedeuten soll, sondern die Vorstellung, dass
unsere Erkenntnisse immer noch durch eine bessere Meinung überboten
werden können. Die Meinung könne aber, da sie jeweils schon so gut wie
möglich begründet sei, als „wahrheitsähnlich“ gelten. An die Möglichkeit
einer Offenbarung einer endgültigen Wahrheit, wie später Parmenides sie
annimmt, glaubt Xenophanes nicht.
Man kann Xenophanes somit
als ersten dezidierten metaphysischen Agnostiker bezeichnen. Über einen
Gott und die Welt als Ganzes kann man nichts Endgültiges sagen. Die
Thesen der ionischen Philosophen mögen ihn wohl zu steil erschienen
sein, zu sehr abgehoben von der Empirie, welche er für bedeutsamer hielt
als die Ausschmückung von Mythen.
So setzte er der Vorstellung
der Griechen, dass sich in einem Regenbogen die Göttin Iris zeigt, eine
natürliche Erklärung entgegen: „Was sie Iris nennen, auch das ist eine
Wolke, und zwar eine, die purpurn, hellrot und gelbgrün aussieht
(Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 223, Nr. 21) . Auch sonst baute er
mehr auf den gesunden Menschenverstand: „Denn alles ist aus Erde, und
alles endet als Erde“ (ebda. Nr.4) und „Das Meer ist Quelle des Wassers,
Quelle des Windes“ (ebda. Nr. 23a).
Xenophanes entdeckte auch,
dass jede Kultur ihre Götter nach ihrem Bilde formten: „Die Äthiopier
behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker,
blauäugig und rothaarig“ (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 227, Nr.
28) und „Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder
malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden, wie die Menschen, so
würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten
malen“ (ebda. Nr. 30). Er setzt dagegen einen „einzigen Gott, unter
Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen
ähnlich noch an Gedanken“ (ebda. Nr. 35).
Hier sehen wir auch in
dem antiken Griechenland die Vorstellung eines einzigen Gottes
auftauchen. Ob wir hier eine eigene Wurzel eines Monotheismus vor uns
haben, ist wohl schwer zu entscheiden. In anderen Fragmenten lesen wir
dennoch, wie er auch von „Göttern“ redet. Die Entwicklung des
Monotheismus in den frühzeitlichen Religionen ist ein höchst spannendes
Thema, dem wir uns hier aber nicht nähern wollen. Uns interessiert hier
eher, wie Xenophanes sich den einzigen Gott vorstellt (Mansfeld &
Primavesi, 2011, pp. 231, Nr. 37) :
Immer bleibt er am selben Orte, ohne irgendwelche Bewegung.
Der
einzige Gott zeichnet also einen Ort aus und repräsentiert die absolute
Ruhe. Auch Anaximander hatte schon von einer absoluten Ruhe gesprochen,
aber es war die Erde, die im Zentrum der Welt in vollkommener Ruhe
stand. Hier ist es also der einzige Gott.
Parmenides
Parmenides
aus Elea wird von manchen als Schüler des Xenophanes angesehen, auf
jeden Fall aber soll er dessen Werke gekannt haben. Er gilt wohl als der
prominenteste Philosoph aus der Zeit vor Sokrates. Von seiner Schrift Über die Natur
(Περι φύσεωζ = Peri Physeos) sind relativ viele Fragmente erhalten.
Seine Reden gelten aber allen als „dunkel“. Das hat ihm eine besondere
Prominenz unter den Vorsokratikern eingebracht, denn sein Werk lädt zu
verschiedensten Deutungen ein. So hat es auch viel Diskussion um die
rechte Interpretation der Fragmente gegeben.
Ich will mich nicht
daran beteiligen. Zum einen müsste man wohl tief in die Sprache der
damaligen Zeit eingedrungen sein, zum anderen scheint es mir auch nicht
so wichtig zu sein, die Gedanken eines Denkers möglichst genau zu
kennen. Viel interessanter ist es, zu wissen, welche neuen Gedanken ein
Denker mit welchen Motiven in die Diskussion eingebracht hat und wie
bedeutsam diese für die Behandlung wichtiger Fragen sind. Parmenides
geht es in erster Linie auch um die Frage, wie man Wissen erlangen kann,
und sein Verdienst besteht zumindest darin, dass er im Hinblick auf
diese Frage eine Alternative ganz deutlich macht. Er spricht von zwei
höchst unterschiedlichen Wegen der Erkenntnis.
Der erste Weg
kommt einer Offenbarung gleich. Auf diesem Weg wird einem das Wissen um
das Seiende geschenkt. Für Parmenides ist es eine Göttin, die einen
Menschen aufgrund einer „Fügung“ zu einer absoluten Gewissheit über das
Seiende führt. Er kleidet diese Gedanken in die Geschichte einer Reise
zur Göttin Dike. In einem Fragment lesen wir (Mansfeld & Primavesi,
2011, pp. 321, Nr.4):
Vertrauensvoll also empfing mich die
Göttin, […] und sprach die folgenden Worte: „Junger Mann, […]. Es ist ja
kein böses Geschick, das dich fortgeleitet hat über diesen Weg, um ans
Ziel zu gelangen […], sondern göttliche Fügung und Recht. So gehört es
sich, dass du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der
wohlgerundeten Wahrheit, ….
Zur wohlgerundeten Wahrheit
gehören dann die Aussagen über das „Sein“: Dieses ist zeitlos, es gibt
kein Entstehen und Vergehen. Es ist „weil ungeboren auch unvergänglich“,
es ist „im Jetzt zusammen vorhanden als Ganzes, Eines,
Zusammenhängendes“. Es ist auch ein unteilbar Kontinuierliches, denn “…
teilbar ist es nicht, weil es ganz gleichartig ist. Und es gibt nicht
etwa hier oder da ein stärkeres Sein, dass seinen Zusammenhang hindern
könnte, noch ein geringeres. […] Darum ist es ganz zusammenhängend, denn
Seiendes stößt dicht an Seiendes.“ Und:
Als ein selbes und
im selben verharrend und auf sich selbst befindet es sich und verbleibt
in dieser Weise fest am selben Ort. (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp.
327, Nr.11).
Hier begegnet uns wieder der Topos „absolute
Ruhe“, also keine Bewegung, keine Veränderung des Ortes. Das
Außergewöhnliche, das unvergängliche und Umfassende musste wohl auch
eine Bewegung haben, die gegenüber anderen Bewegungen ausgezeichnet ist.
Eine solche Bewegung konnte nach damaligem Weltbild nur die Ruhe sein.
Auch heute noch scheint uns Menschen das oft so zu sein. Dass die
Bewegung aber keine Eigenschaft ist, sondern eine zweistellige Relation,
also eine Bewegung in Relation zu einem anderen Objekt, ist uns im
täglichen Leben nicht immer bewusst. Diese unbewusste und irrtümliche
Annahme, dass es eine absolute Ruhe gibt, sollte Zenon von Elea seine
sogenannten Bewegungsparadoxien ermöglichen, mit denen wir uns im
nächsten Blogbeitrag beschäftigen wollen.
Betrachten wir aber
zunächst noch weiterhin diesen ersten Weg des Parmenides zum wahren
Wissen. Während uns nach Xenophanes das Wissen über das „Vollkommene“,
über die „Götter und alle Dinge“ verwehrt ist, kann nach Parmenides der
Mensch dieses Wissen nur erlangen, wenn es ihm offenbart wird.
Dies
ist nun Wasser auf die Mühlen des mythischen Denkens. Hier wird eine
unerschütterliche Wahrheit versprochen. Es gibt keine Verunsicherung
durch mögliche Kritik und ständige Veränderung des Wissens, wie es bei
den Milesiern und den Pythagoreern der Fall war.
Nun wird jeder
Mensch wohl nie ganz ohne eine mythische Komponente in seinem Weltbild
auskommen, auch mag er fest zu seinen Überzeugungen solcher Art stehen.
Ein Mensch aber, der glaubt, dass ihm persönlich die tiefsten
Geheimnisse der Welt als verlässliches Wissen offenbart werden, erliegt
leicht der Gefahr, dass er dieses Wissen auch als verbindlich für alle
anderen Menschen ansieht. Dabei muss es nicht immer eine Göttin oder ein
Gott sein, man kann auch ein starkes Gefühl der Evidenz seiner
Vorstellungen empfinden, diese für eine tiefe unerschütterliche Wahrheit
halten.
Nun weiß man allerdings, dass verschiedene Menschen
auch sehr unterschiedliche Offenbarungen und Evidenzgefühle erleben
können. Wenn zu einer unerschütterlichen Überzeugung noch Macht und
Mission hinzukommen, können sich sogar schon aus einer einzigen Quelle
einer Offenbarung nach und nach verschiedene Glaubensgemeinschaften
entwickeln, welche die Gesellschaft spalten. Intoleranz, Verachtung,
Unterdrückung und Vernichtung Andersdenkender war in der Tat oft die
Folge. Gewalt wurde ausgeübt, in jeder Form.
Was ist nun bei Parmenides der zweite Weg zur Erkenntnis? Laut obigem Fragment soll der junge Mann andererseits auch erfahren:
die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verlässlichkeit innewohnt.
Der
zweite Weg sei also der Weg der üblichen Sterblichen, die nur zu
„Meinungen“ gelangen können. Gemessen an der Fülle des Seienden ist
dieses Wissen nach Parmenides aber höchstens wahrheitsähnlich und
unsicher. Hier scheint der Einfluss von Xenophanes durch: Wir
Sterblichen haben Erkenntnisse, die man angesichts eines Wissens über
das Seiende nur als „Meinungen“ angesehen kann. Wir finden nämlich nur
„Namen“ für das, was wir erforschen:
Darum ist alles Name,
was die Sterblichen angesetzt haben, im Vertrauen darauf, es sei wahr.
Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort wechseln und die
leuchtende Farbe ändern. (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 329, Nr.
11).
Einem Etwas einen „Namen“ geben, heißt noch nicht,
dieses zu erkennen: So ist nach Parmenides das Seiende in Wirklichkeit
unbeweglich. Wir aber sehen Bewegungen. Das sind aber nur „Namen“, sie
scheinen nur zu existieren. Auf uns allein gestellt, können wir nur
Wahngedanken entwickeln, die nicht verlässlich sein können. Diese These
hat natürlich starke Beachtung gefunden, da sie den Reiz des
Außerordentlichen, Antiintuitiven hat.
Beide Wege zur Erkenntnis
wurden in den der folgenden Jahrtausenden beschritten. Im Bemühen, sich
einen Reim auf die Welt zu machen, in der wir leben, haben die Denker
sich, mehr oder weniger bewusst, auf die eine oder andere Seite
geschlagen, mit zum Teil dramatischen Folgen für das Zusammenleben der
Menschen und die weitere Entwicklung der Menschheit.
Im Hinblick
auf die Verlässlichkeit des erlangten Wissens stehen die Gedanken des
Parmenides über die beiden Wegen der Erkenntnis in einem krassen
Gegensatz zu dem, was sich im Laufe der Zeit gezeigt hat. Die
„Meinungen“ über die Natur erwiesen sich als höchst verlässlich, weil
deren Grundlagen direkt von der Natur erfragt wurden – durch
Beobachtungen und Experimente. Die Tatsache, dass wir dieses Wissen in
Form einer Entwicklung technischer Geräte ausnutzen können, zeugt davon.
Ganz anders aber steht es um die Offenbarungen. Hier kann von
Verlässlichkeit keine Rede sein.
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