Freitag, 1. März 2019

Die Vorsokratiker: Eleaten.

Elea, röm. Velia
aus spektrum.de, 25. Februar 2019

Die Vorsokratiker: 
Xenophanes und Parmenides

Von Josef Honerkamp 

Suche nach dem „Einen“ führte die Philosophen der Schule von Milet und die Pythagoreer zu verschiede- nen Prinzipien und Grundaussagen. Die speziellen Antworten, die sie jeweils gaben, sind für uns heute nicht so wichtig. Viel interessanter ist es, dass sie sich vom mythologischen Denken einen Schritt weit entfernten und begannen, Begründungen für ihre Aussagen zu formulieren. Autoritäten mussten nicht respektiert werden, Zweifel waren erlaubt. Noch interessanter ist aber, dass sie bei diesem Bemühen schon auf einige Problemfelder stießen, die sich als grundlegend für zukünftige Wissenschaften erweisen sollten. Diese Felder können mit den Begriffen „Unendlichkeit“ und „Bewegung“ bezeichnet werden. 

Die „Eleaten“, jene Philosophen des 6. Und 5. Jahrhunderts v. Chr., die in einer griechischen Siedlung Elea an der Westküste Süditaliens lebten, sollten ein drittes Problemfeld einer solchen Bedeutsamkeit ins Bewusstsein heben. Es war die Frage: Wie können wir verlässliches Wissen erlangen?

Damit stehen schon in einer so frühen Zeit unserer Geistesgeschichte drei fundamentale Fragen zur Diskussion. Und jede dieser Fragen bzw. Problemfelder standen für ein Gebiet der damaligen Philosophie: Die „Unendlichkeit“ für die Mathematik, die „Bewegung“ für die Physik und die Frage nach dem verlässlichen Wissen für das, was wir heute Εpistemologie oder Erkenntnistheorie nennen. Wir kennen es inzwischen: Wenn man große Aufgaben angeht, treten auch andere große Aufgaben in den Blickpunkt. Und wenn auch die ursprüngliche Aufgabe nicht bewältigt werden kann, ergeben sich meistens fruchtbare Einsichten bei der Behandlung der Folgeprobleme. Im technologischen Bereich nennt man heute so etwas „spin-off“. Ich werde im Verlauf der späteren Blogbeiträge diese fundamentalen Fragen immer im Blick behalten.

Wer waren nun die Eleaten und wie haben diese die Frage nach einem verlässlichen Wissen beantwortet? Ihre bedeutendsten Vertreter waren Xenophanes (ca. – 570 bis ca. -470), Parmenides (um -515 bis um -455) und Zenon von Elea (-490 bis um -430).  Schauen wir uns an, welche Möglichkeiten der Erkenntnis sie sahen und wie dabei auch wieder der Begriff der Bewegung in den Fokus rückte sowie im Schlepptau davon der Begriff der Unendlichkeit.


Xenophanes

Xenophanes war zunächst wohl Rhapsode, also jemand, der Epen Hesiods und Homers rezitierte, aber auch Elegien oder Spottgedichte schätzte und vortrug. In Elea hat er sich erst nach einem langen Leben niedergelassen, in dem er manch fremde Kultur kennen gelernt hatte.
 

Zur Frage nach den Möglichkeiten einer Erkenntnis nimmt Xenophanes eine ganz neue Sicht ein. In einem Fragment (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 229, Nr.32) heißt es: 

Die Götter haben den Menschen durchaus nicht gleich am Anfang alles enthüllt, sondern im Laufe der Zeit suchen und finden sie Besseres hinzu.

Das ist nun frappierend aktuell. Hier wird schon 2.500 Jahre vor unserer Zeit die Erkenntnis der modernen Wissenschaftstheorie formuliert, dass das Wissen in einer Art Evolution wächst. In der Entwicklung der modernen Physik sehen wir das besonders deutlich: Die Theorien werden der immer größer werdenden Anzahl von Beobachtungen und experimentellen Ergebnissen angepasst. Der Gültigkeitsbereich einer Theorie wird dadurch immer größer; sie wird dadurch immer „besser“. Eine Theorie, der ein solcher Anpassungsprozess nicht genügend gut gelingt, wird höchstens ein Thema der Geschichte der Physik. Am Beispiel der Bewegung werden wir bald deutlich sehen, wie im Laufe der Entwicklung der Physik solche besseren Theorien jeweils aussehen.

Xenophanes formuliert also einen Weg zum Wissen, in dem die Menschen suchen, und dabei etwas „Besseres“ finden, ganz im Gegensatz zum mythologischen Denken, „welches nichts sucht, immer apodiktisch spricht und beansprucht, einfach wahr zu sein“ (Schupp, 2003a, p. 87).

Von der Möglichkeit, einmal in einem endgültigen Besitz der Wahrheit zu sein, ist aber nicht die Rede. Im Gegenteil – heißt es doch nach Sextus Empiricus (160 bis 210) bei Xenophanes (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 231, Nr.39):
 

Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat hinsichtlich der Götter und aller Dinge, die ich erkläre. Denn sogar, wenn es einem im außerordentlichen Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er sich deshalb trotzdem nicht bewusst sein: Bei allen Dingen gibt es nur Annahme. 

Der Satz „Bei allen Dingen gibt es nur Annahme“ nimmt sogar schon voraus, dass all unser verlässliches Wissen über die Welt aller Dinge, selbst wenn es in Form physikalischer Theorien vorliegt, letztlich auf bestimmten Grundgedanken, Prinzipien bzw. Grundgleichungen beruht.

Xenophanes nennt unsere Erkenntnisse deshalb nur „Meinungen“, wobei dieser Begriff nicht eine Beliebigkeit bedeuten soll, sondern die Vorstellung, dass unsere Erkenntnisse immer noch durch eine bessere Meinung überboten werden können. Die Meinung könne aber, da sie jeweils schon so gut wie möglich begründet sei, als „wahrheitsähnlich“ gelten. An die Möglichkeit einer Offenbarung einer endgültigen Wahrheit, wie später Parmenides sie annimmt, glaubt Xenophanes nicht.

Man kann Xenophanes somit als ersten dezidierten metaphysischen Agnostiker bezeichnen. Über einen Gott und die Welt als Ganzes kann man nichts Endgültiges sagen. Die Thesen der ionischen Philosophen mögen ihn wohl zu steil erschienen sein, zu sehr abgehoben von der Empirie, welche er für bedeutsamer hielt als die Ausschmückung von Mythen.

So setzte er der Vorstellung der Griechen, dass sich in einem Regenbogen die Göttin Iris zeigt, eine natürliche Erklärung entgegen: „Was sie Iris nennen, auch das ist eine Wolke, und zwar eine, die purpurn, hellrot und gelbgrün aussieht (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 223, Nr. 21) . Auch sonst baute er mehr auf den gesunden Menschenverstand: „Denn alles ist aus Erde, und alles endet als Erde“ (ebda. Nr.4) und „Das Meer ist Quelle des Wassers, Quelle des Windes“ (ebda. Nr. 23a).

Xenophanes entdeckte auch, dass jede Kultur ihre Götter nach ihrem Bilde formten: „Die Äthiopier behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig“ (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 227, Nr. 28) und „Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden, wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen“ (ebda. Nr. 30).  Er setzt dagegen einen „einzigen Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken“ (ebda. Nr. 35).

Hier sehen wir auch in dem antiken Griechenland die Vorstellung eines einzigen Gottes auftauchen. Ob wir hier eine eigene Wurzel eines Monotheismus vor uns haben, ist wohl schwer zu entscheiden. In anderen Fragmenten lesen wir dennoch, wie er auch von „Göttern“ redet. Die Entwicklung des Monotheismus in den frühzeitlichen Religionen ist ein höchst spannendes Thema, dem wir uns hier aber nicht nähern wollen. Uns interessiert hier eher, wie Xenophanes sich den einzigen Gott vorstellt (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 231, Nr. 37) : 


Immer bleibt er am selben Orte, ohne irgendwelche Bewegung. 

Der einzige Gott zeichnet also einen Ort aus und repräsentiert die absolute Ruhe. Auch Anaximander hatte schon von einer absoluten Ruhe gesprochen, aber es war die Erde, die im Zentrum der Welt in vollkommener Ruhe stand.  Hier ist es also der einzige Gott.

Parmenides


Parmenides aus Elea wird von manchen als Schüler des Xenophanes angesehen, auf jeden Fall aber soll er dessen Werke gekannt haben. Er gilt wohl als der prominenteste Philosoph aus der Zeit vor Sokrates. Von seiner Schrift Über die Natur (Περι φύσεωζ = Peri Physeos) sind relativ viele Fragmente erhalten. Seine Reden gelten aber allen als „dunkel“. Das hat ihm eine besondere Prominenz unter den Vorsokratikern eingebracht, denn sein Werk lädt zu verschiedensten Deutungen ein. So hat es auch viel Diskussion um die rechte Interpretation der Fragmente gegeben.

Ich will mich nicht daran beteiligen. Zum einen müsste man wohl tief in die Sprache der damaligen Zeit eingedrungen sein, zum anderen scheint es mir auch nicht so wichtig zu sein, die Gedanken eines Denkers möglichst genau zu kennen. Viel interessanter ist es, zu wissen, welche neuen Gedanken ein Denker mit welchen Motiven in die Diskussion eingebracht hat und wie bedeutsam diese für die Behandlung wichtiger Fragen sind. Parmenides geht es in erster Linie auch um die Frage, wie man Wissen erlangen kann, und sein Verdienst besteht zumindest darin, dass er im Hinblick auf diese Frage eine Alternative ganz deutlich macht. Er spricht von zwei höchst unterschiedlichen Wegen der Erkenntnis.

Der erste Weg kommt einer Offenbarung gleich. Auf diesem Weg wird einem das Wissen um das Seiende geschenkt. Für Parmenides ist es eine Göttin, die einen Menschen aufgrund einer „Fügung“ zu einer absoluten Gewissheit über das Seiende führt. Er kleidet diese Gedanken in die Geschichte einer Reise zur Göttin Dike. In einem Fragment lesen wir (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 321, Nr.4): 

Vertrauensvoll also empfing mich die Göttin, […] und sprach die folgenden Worte: „Junger Mann, […]. Es ist ja kein böses Geschick, das dich fortgeleitet hat über diesen Weg, um ans Ziel zu gelangen […], sondern göttliche Fügung und Recht. So gehört es sich, dass du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit, …. 

Zur wohlgerundeten Wahrheit gehören dann die Aussagen über das „Sein“: Dieses ist zeitlos, es gibt kein Entstehen und Vergehen. Es ist „weil ungeboren auch unvergänglich“, es ist „im Jetzt zusammen vorhanden als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes“. Es ist auch ein unteilbar Kontinuierliches, denn “… teilbar ist es nicht, weil es ganz gleichartig ist. Und es gibt nicht etwa hier oder da ein stärkeres Sein, dass seinen Zusammenhang hindern könnte, noch ein geringeres. […] Darum ist es ganz zusammenhängend, denn Seiendes stößt dicht an Seiendes.“ Und: 

Als ein selbes und im selben verharrend und auf sich selbst befindet es sich und verbleibt in dieser Weise fest am selben Ort. (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 327, Nr.11).

Hier begegnet uns wieder der Topos „absolute Ruhe“, also keine Bewegung, keine Veränderung des Ortes. Das Außergewöhnliche, das unvergängliche und Umfassende musste wohl auch eine Bewegung haben, die gegenüber anderen Bewegungen ausgezeichnet ist. Eine solche Bewegung konnte nach damaligem Weltbild nur die Ruhe sein. Auch heute noch scheint uns Menschen das oft so zu sein. Dass die Bewegung aber keine Eigenschaft ist, sondern eine zweistellige Relation, also eine Bewegung in Relation zu einem anderen Objekt, ist uns im täglichen Leben nicht immer bewusst. Diese unbewusste und irrtümliche Annahme, dass es eine absolute Ruhe gibt, sollte Zenon von Elea seine sogenannten Bewegungsparadoxien ermöglichen, mit denen wir uns im nächsten Blogbeitrag beschäftigen wollen.

Betrachten wir aber zunächst noch weiterhin diesen ersten Weg des Parmenides zum wahren Wissen. Während uns nach Xenophanes das Wissen über das „Vollkommene“, über die „Götter und alle Dinge“ verwehrt ist, kann nach Parmenides der Mensch dieses Wissen nur erlangen, wenn es ihm offenbart wird.

Dies ist nun Wasser auf die Mühlen des mythischen Denkens. Hier wird eine unerschütterliche Wahrheit versprochen. Es gibt keine Verunsicherung durch mögliche Kritik und ständige Veränderung des Wissens, wie es bei den Milesiern und den Pythagoreern der Fall war.

Nun wird jeder Mensch wohl nie ganz ohne eine mythische Komponente in seinem Weltbild auskommen, auch mag er fest zu seinen Überzeugungen solcher Art stehen. Ein Mensch aber, der glaubt, dass ihm persönlich die tiefsten Geheimnisse der Welt als verlässliches Wissen offenbart werden, erliegt leicht der Gefahr, dass er dieses Wissen auch als verbindlich für alle anderen Menschen ansieht. Dabei muss es nicht immer eine Göttin oder ein Gott sein, man kann auch ein starkes Gefühl der Evidenz seiner Vorstellungen empfinden, diese für eine tiefe unerschütterliche Wahrheit halten.

Nun weiß man allerdings, dass verschiedene Menschen auch sehr unterschiedliche Offenbarungen und Evidenzgefühle erleben können. Wenn zu einer unerschütterlichen Überzeugung noch Macht und Mission hinzukommen, können sich sogar schon aus einer einzigen Quelle einer Offenbarung nach und nach verschiedene Glaubensgemeinschaften entwickeln, welche die Gesellschaft spalten. Intoleranz, Verachtung, Unterdrückung und Vernichtung Andersdenkender war in der Tat oft die Folge. Gewalt wurde ausgeübt, in jeder Form.

Was ist nun bei Parmenides der zweite Weg zur Erkenntnis? Laut obigem Fragment soll der junge Mann andererseits auch erfahren:
 

die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verlässlichkeit innewohnt.

Der zweite Weg sei also der Weg der üblichen Sterblichen, die nur zu „Meinungen“ gelangen können. Gemessen an der Fülle des Seienden ist dieses Wissen nach Parmenides aber höchstens wahrheitsähnlich und unsicher. Hier scheint der Einfluss von Xenophanes durch: Wir Sterblichen haben Erkenntnisse, die man angesichts eines Wissens über das Seiende nur als „Meinungen“ angesehen kann. Wir finden nämlich nur „Namen“ für das, was wir erforschen:

Darum ist alles Name, was die Sterblichen angesetzt haben, im Vertrauen darauf, es sei wahr. Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort wechseln und die leuchtende Farbe ändern. (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 329, Nr. 11).

Einem Etwas einen „Namen“ geben, heißt noch nicht, dieses zu erkennen: So ist nach Parmenides das Seiende in Wirklichkeit unbeweglich. Wir aber sehen Bewegungen. Das sind aber nur „Namen“, sie scheinen nur zu existieren. Auf uns allein gestellt, können wir nur Wahngedanken entwickeln, die nicht verlässlich sein können. Diese These hat natürlich starke Beachtung gefunden, da sie den Reiz des Außerordentlichen, Antiintuitiven hat.

Beide Wege zur Erkenntnis wurden in den der folgenden Jahrtausenden beschritten. Im Bemühen, sich einen Reim auf die Welt zu machen, in der wir leben, haben die Denker sich, mehr oder weniger bewusst, auf die eine oder andere Seite geschlagen, mit zum Teil dramatischen Folgen für das Zusammenleben der Menschen und die weitere Entwicklung der Menschheit.

Im Hinblick auf die Verlässlichkeit des erlangten Wissens stehen die Gedanken des Parmenides über die beiden Wegen der Erkenntnis in einem krassen Gegensatz zu dem, was sich im Laufe der Zeit gezeigt hat. Die „Meinungen“ über die Natur erwiesen sich als höchst verlässlich, weil deren Grundlagen direkt von der Natur erfragt wurden – durch Beobachtungen und Experimente. Die Tatsache, dass wir dieses Wissen in Form einer Entwicklung technischer Geräte ausnutzen können, zeugt davon. Ganz anders aber steht es um die Offenbarungen. Hier kann von Verlässlichkeit keine Rede sein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen