Sonntag, 17. März 2019

Platon und Aristoteles (für Naturwissenschaftler)

Plato und Aristoteles, aus Raffael, Die Schule von Athen
aus spektrum.de, 10. März 2019

Platon und Aristoteles

Von Josef Honerkamp 

Wollte ich eine Abhandlung über die Vorsokratiker schreiben, müsste ich nun in diesem Blogbeitrag auf die so genannten Pluralisten und Atomisten wie Anaxagoras, Empedokles, Leukipp und Demokrit eingehen. Aber ich will hier nicht einen Abriss der Philosophie der Vorsokratiker geben. Das ist anderswo häufig genug geschehen, und sicherlich nach einem viel eingehenderen Studium der Literatur der vergangenen Jahrtausende, als ich es vorweisen kann. Mich interessieren im Wesentlichen die Gedanken der Vorsokra- tiker, in denen man die Vorboten der Denkweise der modernen Physik, Mathematik und Logik entdecken kann.

Da sind es ohne Zweifel die drei Grundgedanken, die von der Schule von Milet, von den Pythagoreern und von Xenophanes so treffend und schon so früh in der Geistesgeschichte geäußert worden sind: In der Natur gibt es so etwas wie einen Kausalzusammenhang, die Regelmäßigkeiten in der Natur kann man in der Sprache der Mathematik formulieren, und zum Wissen kann man erlangen, indem man „suchend das Bessere“ findet. Ein letztgültiges Wissen kann es aber nicht geben.

Auch die ersten tastenden Schritte der Vorsokratiker in Richtung grundlegender Begriffe wie z.B. der „Bewegung“ sind bemerkenswert. Die lange Geschichte der Klärung dieses Begriffes im Laufe der Jahr- tausende zeigt deutlich, welche Mühen es macht, aus dem Dunkel der ersten Überlegungen nach und nach zu einer klaren Vorstellung zu gelangen, mit der man verlässlich argumentieren kann.

Wenn ich nun die Entwicklung des „Logos“ in der Geschichte der Philosophie weiterverfolge, werde ich noch selektiver vorgehen. Ich werde mich auf die Höhepunkte konzentrieren, also auf die Werke, in denen wesentliche Fortschritte erzielt worden sind. Natürlich erkennt man diese oft erst, indem man vom heutigen Stand aus zurückblickt. Es werden solche Entwicklungen in Logik, Mathematik und Physik im Vorder- grund stehen, die für den heutigen Stand in methodischer Hinsicht wie im Hinblick auf die Bildung von Begriffen bedeutsam geworden sind.

Beginnt man nun also die Entwicklung in der Zeit nach den Vorsokratikern zu betrachten, muss man zunächst auf die drei Großen der griechischen Philosophie zu sprechen kommen: Sokrates (-469 bis -399), Platon (-428 bis -348) und Aristoteles (-384 bis -322). Wie schon im ersten Blogbeitrag erwähnt, führte Sokrates ein neues Thema in die Philosophie ein: Die Ethik. Aber nicht nur dieses neue Thema sorgte für eine neue Ära in der Philosophie. Diese war ja inzwischen in Athen, der Hauptstadt der Griechen, ange- kommen; Anaxagoras aus Kleizomenai (ionien) war im Jahr  -462 nach Athen übergesiedelt und hatte dort die Gedanken der Milesier und anderer Vorsokratiker bekannt gemacht.

Dort, wo mehr Menschen zusammenkommen können, ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich Menschen mit gleichen Interessen treffen und sich darüber austauschen. Neben Lehrer-Schüler-Verhältnis- sen können nun auch Gemeinschaften entstehen, in denen auf gleicher „Augenhöhe“ diskutiert werden kann. Die Dialektik kam in Mode. Schon Zenon von Elea war ihr großer Freund gewesen, Aristoteles hatte ihn später gar als deren Erfinder gerühmt (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 361, Nr.4). Die attische Demo- kratie blühte, es war eine frühe Art einer Demokratie, in der das „Staatsvolk“ die Herrschaft ausübte, wobei das Staatsvolk aus den männlichen Vollbürgern der Stadt Athen bestand, die das 30. Lebensjahr vollendet hatten. Diese Vollbürger konnten sich auch Dingen zuwenden können, die nicht direkt zum täglichen Leben notwendig waren; für solche Arbeiten gab es genügend Sklaven, Frauen oder Zugezogene. Insbesondere in politischen Versammlungen und vor Gericht war Beredsamkeit und die Kunst der Dialektik gefragt, d.h. die richtigen Gründe für Meinungen zu finden und solche auszubreiten, die bei Zuhörern Beifall finden konn- ten.  Sophisten lehrten gegen Geld diese Kunst zu beherrschen, sogar in Diskussionen den Gegner geschickt in einen Widerspruch verwickeln zu können.

Über Sokrates wissen wir einiges von Diogenes Laertius (Laertius, 2015, pp. 67-90), insbesondere soll er gesagt haben: „er wisse nichts, außer eben dies, dass er nichts wisse” (DL 83). Und „das Gute sei zwar nichts Geringes, fange aber mit Kleinem an” (DL 83). Wir kennen aber keine Schriften von ihm.  Platon legt ihm jedoch in seinen Werken viel in den Mund. Diese Werke stellen stets Dialoge dar, die Sokrates mit verschiedensten Gesprächspartnern führt und in denen es immer um die Klärung eines Begriffes oder einer Frage geht.

Platon

Nach dem Tod des Sokrates hielt sich Platon in seinen Lehr- und Wanderjahren zunächst bei einem Anhänger der Philosophie des Parmenides auf, reiste „nach Kyrene zum Mathematiker Theodoros und von da nach Italien zu den Pythagoreern Philolaos und Eurytos; von da nach Ägypten zu den Propheten“ (Laertius, 2015, p. 141). So hat er verschiedenste Eindrücke gesammelt und diese zu einem grandiosen mythischen Gedankengebäude verbunden, das bis heute wirkmächtig ist und weiterhin viele Menschen inspiriert.

Er muss ein großer Erzähler gewesen sein. In seinen Werken schilderte er in Form eines Dialogs die Bemühung um Begriffe und Antworten auf die Frage nach richtigem Handeln oder einem guten Leben. Wer diese literarische Form als erster gewählt hat, ist umstritten. „Man hört wohl, Zenon, der Eleate, habe als erster Dialoge geschrieben, Aristoteles aber nennt als solchen […] den Alexamos aus Styra […]. Ich dagegen meine, dass Platon sich durch seine strenge Behandlung und Ausbildung […] den Anspruch gesichert habe auf den ersten Platz […]. Der Dialog ist „eine sich in Frage und Antwort abspielende Aus- führung eines philosophischen oder politischen Themas“, die Dialektik aber „ist die Unterredungskunst, durch die wir etwas nichtig oder als richtig erweisen aufgrund des Frage- und Antwortverfahrens der Unterredner.“(alle Zitate: (Laertius, 2015, p. 159)). 

Zu den Werken Platons sagt Diogenes Laertius: „In den Bereich der Physik gehört der Timaios, in das der Logik der Politikos, Kratylos, Parmenides und Sophistes“ (Laertius, 2015, p. 160). 

Wenn er, wie im Timaios auf die Vorstellungen der Vorsokratiker über den Kosmos zu sprechen kam, tat er dies in mythischer Form oder knüpfte an Pythagoras an und sah die Welt aufgebaut aus geometrischen Formen. Unter Logik verstand man damals noch vorwiegend die Arbeit an Begriffen, d.h. die Aufdeckung der Beziehungen verwandter Begriffe zu einander, z.B. ihre Einordnung als Ober- bzw. Unterbegriffe. Von einer solchen Begriffseinteilung, „Dihairesis“ genannt, erwartete man sich eine klarere Definition. Man sah aber schon, dass eine Definition oft Definitionen wiederum der Bestimmungsstücke erforderte, somit auch in einen infiniten Regress führen konnte.

Aristoteles wuchs in der Akademie mit dieser Methode auf. Somit standen in seiner Logik, die er bald entwickeln sollte, auch die Begriffe im Zentrum. Diese wurde also eine so genannte Begriffslogik.  Die moderne Logik dagegen ist eine Aussagenlogik. Im nächsten Blogbeitrag werde ich den Unterschied genau herausarbeiten.

Für eine Beweisführung benutzte Platon hauptsächlich die Induktion, also den Schluss von Speziellen auf das Allgemeine, „der durch einige wahre Fälle die gleiche Wahrheit für andere Fälle in angemessener Weise erschließt“, so heißt es bei Laertius (Laertius, 2015, p. 161). Lange hat man diesen Schluss als „angemessen“ gehalten, erst David Hume hat betont, dass dieser Schluss nicht zwingend, also nicht immer „angemessen“ ist. In der modernen Logik findet dieser Schluss denn auch keinen Platz. 

Zentrales Thema Platons aber war die Seele des Menschen und wie sich diese in Sprache, Ethik, Kunst und Politik ausdrücken kann. Dabei schmückt er vorhandene Mythen aus, gestaltet sie um oder erfindet ganz neue Geschichten (siehe Wikipedia: Platonischer Mythos). 

Die Platonische Akademie 

Für die Entwicklung des „Logos“ gibt das alles nicht viel her. Interessant ist aber in diesem Zusammen- hang, dass er die Ausbildung auch in den analytischen Fächern sehr förderte, wohl motiviert durch den Eindruck, den pythagoreische Mathematiker auf ihn gemacht haben. Er war nämlich nicht nur ein großer Erzähler, sondern auch ein guter Organisator und Gestalter. So gründete er eine Schule, in der junge Leute in Philosophie und Wissenschaft unterrichtet werden sollten. Dafür erwarb er, vermutlich im Jahre -387, ein Grundstück bei einem Hain, den man Akademeia nannte, weil man ihn dem Heros Akademos geweiht hatte.  Neben Metaphysik, Ethik, Dialektik und Seelenlehre studierte man dort Physik und insbesondere Mathematik, die bald zur Grundausbildung eines jeden Schülers eines Philosophen gehörte. Die Akademie blieb, mit Unterbrechungen, über viele Jahrhunderte bestehen, sie wurde erst um 530 geschlossen. 

Die Platonische Akademie wurde zum Vorbild: Seit Augustinus (354 bis 430) und Martianus Capella, einem römischen Enzyklopädisten aus dem 5. oder 6. Jahrhundert, hatte sich für die Schulen der Spätantike ein Kanon von sieben Fächern eingebürgert. Diesen unterteilte man in ein Trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik bzw. Logik) und ein Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musiktheorie). Man nannte diese Fächer die sieben freien Künste, weil sie eines „freien Menschen würdig“ seien, und „frei“ war ein Mann, wenn er frei war von der Notwendigkeit eines Broterwerbes. 

Im Mittelalter galt dieses Studium der freien Künste als Vorbereitung für wissenschaftliches Studium in Theologie, Jurisprudenz und Medizin. In den Universitäten wurden die freien Künste bald im Rahmen einer eigenen Fakultät, der Artistenfakultät (Facultas Artium) gelehrt. Die „Liberal Arts“, die wir aus den USA z.B. als „undergraduate studies“ kennen und die heutzutage mitunter auch z.B. in Deutschland eingeführt werden, versuchen diese Tradition fortzusetzen. Allerdings steht hier die Dialektik eher im Vordergrund als irgendeine der mathematischen Disziplinen. 

Aristoteles 

Bei Aristoteles, einem Schüler von Platon, fiel die strenge Ausbildung in der Platonischen Akademie auf besonders fruchtbaren Boden. Im Jahr -384 in Stageira (Chaldidike) in eine gebildete und begüterte Familie hinein geboren, wurde er im Jahre -367 mit 17 Jahren nach Athen in die Akademie Platons geschickt. Der Mathematiker Eudoxos von Knidos (ca. -395 bis ca. -350) spielte damals dort eine wichtige Rolle. 

Aristoteles liebte einerseits die Auseinandersetzung und Diskussion mit Andersdenkenden. Andererseits zeigte er – wie bei Menschen, an denen eine mathematische Ausbildung nicht spurlos vorbeigeht – eine Neigung zum systematischen Arbeiten und zum Sammeln der Lehrmeinungen früherer Philosophen wie Pythagoras oder Demokrit (Schupp, I 256).

Aristoteles wurde so ein großer Systematiker, aufmerksam auf Methodisches in einer Gedankenführung und wachsam für Zusammenhänge. Er war der Erste dieser Art, und er sollte damit auch eine ganz neue Art von Philosophie begründen, die nicht mehr eine Poiesis, eine „Herstellung“ von Lehrmeinungen in poeti- scher Manier ist. Stattdessen stehen Analyse und Methode im Vordergrund, Begründungen werden verlangt und auf Schlüssigkeit abgeklopft.

Es ist wohl plausibel, dass man den Drang zu Solchem verspürt, wenn man einen großen Korpus von Lehr- meinungen vor dem geistigen Auge hat und sich irgendwann fragt, wieso die jeweiligen Philosophen ihre Ansichten so fest vertreten können. Man muss aber auch in einer stimulierenden Umgebung leben und, vor allem, auch das Talent zu solch einem Neuanfang mitbringen. So ging Aristoteles in der Akademie bald eigene Wege. Nach Diogenes Laertius soll Platon dazu gesagt haben: „Aristoteles hat gegen mich ausgeschlagen, wie es junge Füllen gegen die eigene Mutter tun“ (Laertius, 2015, p. 225).

In der Liste der Schriften des Aristoteles führt Laertius 146 Titel auf und spricht von insgesamt 445 270 Zeilen. Die Arbeiten zur Logik sind nach ihm „aufs schärfste gekennzeichnet als Werkzeug für alle Teil- gebiete.“ Diese Schriften sind später in einer Sammlung von sechs Büchern mit dem Titel „Organon“ (gr. ὄργανον = Werkzeug) zusammengefasst worden. 

Das Organon 

Die Titel der sechs Bücher der Sammlung Organon heißen:
 

1. Die Kategorien,
2. Über die Deutung (peri hermeneias),
3. Die Lehre vom logischen Schluss (analytika protera, erste Analyse),
4. die Lehre vom Beweis (analytika hystera, zweite Analyse), 
5. die Topik und
6. die Sophistischen Widerlegungen
 

Besonders bedeutsam für die Entwicklung des logischen Denkens sind die Bücher 3,4 und 5, also die Lehren vom logischen Schluss und vom Beweis sowie die Topik. Hier wird also die sogenannte Aristote- lische Logik entwickelt. Diese ist also die Frucht einer Zeit, in der die Dialektik einen hohen Rang in der Gesellschaft einnahm. Auch bei Diskussionen über grundsätzlichere Fragen wie die nach einem guten Leben oder einer „vernünftigen“ Moral kam es bald mehr auf die Kraft der Argumente an statt auf autori- täre Setzungen, und schließlich konnte es nicht ausbleiben, dass man direkt darüber nachdachte, welche Argumentationsformen denn nun solche Kraft besitzen, dass sie unanfechtbar sind, d.h. von jedem Verständigen akzeptiert werden müssen.

Die neue Ära der Philosophie mit ihrem Schwerpunkt auf der Dialektik hat also keinesfalls die Idee des Logos in den Hintergrund treten lassen oder seine Verbreitung behindert. Im Gegenteil, die Dialektik war genau das Gebiet, auf dem sich diese Idee sich als besonders nützliches und wertvolles Werkzeug für das Denken zeigen konnte. Die Idee konkretisierte sich in der Aristotelischen Logik, die eine Vorlage für eine Wissenschaft werden sollte, welche heute im Rahmen der künstlichen Intelligenz eine bedeutsame Rolle spielt. Im nächsten Blogbeitrag werde ich auf die Aristotelische Logik explizit eingehen. 

Aristoteles und das System der Wissenschaften
 
Die Begabung des Aristoteles zu analytischem Denken und zum systematischen Arbeiten sowie seine Leidenschaft zum Sammeln der Lehrmeinungen früherer Philosophen zeigte noch andere Früchte. Er stellt eine Systematik aller damals bekannten Wissenschaften auf. Er unterteilt die Wissenschaften in praktische wie die Ethik, in poietische (herstellende) Wissenschaften wie Medizin oder Handwerk und schließlich in theoretische Wissenschaften. Bei Letzteren unterscheidet er Mathematik, Naturforschung und „erste Philo- sophie“, zu der er Theologie, Ontologie und die Logik zählte. Die Theologie bestand damals im Wesentli- chen in einem Studium der unveränderlichen „göttlichen“ Sterne.


Diese Einteilung des Aristoteles ist gewissermaßen der erste „Kassensturz“ des Wissens einer Zeit und subsumiert alles, was Wissen schafft, unter Wissenschaft. Vermutlich zählte er die theoretischen Wissen- schaften Mathematik und Naturforschung auch zur Philosophie, wenn auch nicht zur „ersten“.
Etwa 500 Jahre später schreibt Diogenes von Laertius:
 

Was die Teile der Philosophie angeht, so unterscheidet man drei: Physik, Ethik und Dialektik.“ (Laertius, 2015, p. 10), wobei hier Dialektik auch für die Lehre von den Denkprinzipien, also für Logik und allgemei- ner für Erkenntnistheorie steht. Damit war also die Ethik in die Philosophie eingewandert, die Mathematik ausgeschieden. Einen Denker wie Pythagoras, der Mathematik betrieb aber auch eine bestimmte Weltan- schauung mit religiöser Inbrunst vertrat, konnte es nicht mehr geben. Bedeutende Mathematiker der Antike, wie z.B. Euklid von Alexandria oder Archimedes von Syrakus, erscheinen nicht in dem Werk von Diogenes Laertius über Leben und Meinungen berühmter Philosophen – mit Ausnahme von Eudoxos von Knidos, der eine Zeit lang Mitglied der Akademie Platons war. Aber auch die Physik sollte aus der Philo- sophie auswandern, wenn auch erst etwa 2.000 Jahre später, als Galileo Galilei die Aristotelische Theorie der Bewegung überwand. Indem er demonstrierte, wie man Regelmäßigkeiten in der Natur in der Sprache der Mathematik beschreiben kann, entdeckte er eine „neue Wissenschaft“.  Die Naturforschung wurde zu einer modernen Physik. Mit den Folgen dieser Entdeckung werden wir uns noch ausgiebig beschäftigen. 

Schließlich wanderte Ende des 19. Jahrhunderts auch die Logik in Form der mathematischen Logik aus der Philosophie aus. Sie ist nun ein Teilgebiet der Mathematik und der Informatik. In heutiger Zeit beobachtet man sogar, wie die Erkenntnistheorie zu einem Gebiet der Kognitionswissenschaft wird, die sich nicht nur mit unserer Fähigkeit zu Denken beschäftigt, sondern mit allen bewussten und unbewussten Vorgängen in unserem Gehirn wie z.B. wahrnehmen, lernen oder erinnern.

Die Kosmologie, Thema der Vorsokratiker und erstes Thema der Philosophie überhaupt, ist heute ein Ge- biet der modernen Physik. Eine Geschichte der Kosmologie von den Vorsokratikern bis Hawking wäre hoch interessant: Die „Frage nach dem Ganzen“ ist im mythischen Denken entstanden und in dieser Form noch in allen Religionen präsent, und die Vorsokratiker begannen ja schon physikalische Gründe für ihre Vorstellungen zu suchen. Aber erst seit etwa 100 Jahren gibt es eine physikalische Kosmologie, in der streng der Logos regiert. Diese Kosmologie ist eine Rekonstruktion der Geschichte des Universums unter konsequenter Berücksichtigung physikalischer Theorien. Über die Entwicklung des Kosmos konnte man ja erst überzeugend erzählen, nachdem man die Phänomene der Natur auf der Basis verlässlicher Theorien verstanden hatte. Denn dieses Wissen stellte erst die nötigen Leitlinien für eine Geschichte des Universums dar, die nicht mehr eine mythische, sondern eine logische sein will. 


Nota. - Über den positiven Gehalt der Lehren von Plato und Aristoteles erfahren wir nichts. Das liegt am Darstellungsprinzip des Verfassers: Er berichtet von dem, was bei den antiken Autoren bis heute für Na- turwissenschaftler von Bedeutung ist; und das ist bei Plato fast nichts und bei Aristoteles im Wesentlichen die Logik. Dass metaphysische Spekulationen und ontologische Flausen noch immer das Denken manchen Naturwissenschaftlers heimsuchen, würde in eine kritische Darstellung gehören, die jedoch nicht in der Absicht des Verfassers liegt. Das wäre aber ein größerer Beitrag zur Bildung junger Naturwissenschaftler, als das Aufsammeln positiver Resultate, die sie ja doch schon im Rahmen ihrer naturwissenschaftlichen Fächer kennengelernt haben, und deren Rückführung auf antike Quellen. 

Denn das Wesentliche der Philosophie sind nicht ihre positiven Resultate, die eng an ihre Zeit gebunden sind, sonderen die großen umfassenden Weltsichten, in die sie eingefügt und aus denen sie entstanden waren.

Der Mangel tritt bereits im Bericht über die Vorsokratiker auf. Man erkennt ihn schon am Anfang an einem spektakulär Abwesenden: Heraklit. Man zählt ihn zu den ionischen Naturphilosophen, obwohl er über die Natur nicht spekuliert, weshalb Josef Honerkampt ihn übergeht. Erhalten sind von ihm rund 60 Fragmen- te, die nicht in Zusammenhang miteinander stehen und von denen viele nur als Satzbruchstücke überliefert sind. Er heißt noch heut Der Dunkle, denn was er im Einzelnen gemeint haben mag, ist ganz der Phantasie der Leser anheimgegeben. Doch der Kern seiner Weltansicht ist formuliert in jenem Satz, durch den er unsterblich ist: Alles fließt. Das einzig Wirkliche ist die flüchtige Erscheinung, das einzig Dauernde der Wechsel, es gibt nichts als das ewige Werden. Darin sieht er allerdings den logos walten, aber was er darunter verstanden hat, ist in den Fragmenten nicht einmal angedeutet (er scheint allerdings etwas mit dem Feuer zu tun zu haben).

Heraklit war ein Zeitgenosse des Xenophanes von Elea. Der mag von ihm nichts gewusst haben, aber sein Nachfolger Parmenides, der eigentliche Stifter der eleatischen Schule, müsste, obwohl am andern Ende der griechischen Welt angesiedelt, immerhin vom Grundmotiv seiner Lehre gehört haben. Jedenfalls liest sich fast jedes seiner viel reicher überlieferten Fragmente wie eine direkte Antwort auf Heraklit. Was ist, ist, Punktum. Was erscheint, scheint nur. Das wahre Sein ist der Anschauung verschlossen und nur dem Denken zugänglich. 

Zwischen diesen Polen oszilliert das abendländische Denken seither, und man kann die Geschichte der Philosophie auffassen als das unerschöpfliche Bemühen, Heraklit mit den Eleaten unter einen Hut zu bringen.

Zu allererst kann man Plato so auffassen und von den Zeitgenossen wurde er so aufgefasst, und sie haben ihm nachgesagt, in seiner Jugend sei er Herakliteer gewesen - was unser Autor nicht erwähnt. Und wirklich kann man das, was nach fast zweieinhalb Jahrtausenden noch immer als der harte Kern des Platonismus angesehen wird, die Ideenlehre, kaum anders lesen als den Versuch, Sein und Werden miteinander dialek- tisch zu vermitteln. Wobei in der Überlieferung das Schwergewicht eindeutig beim substanziellen Sein gelegen hat uind das Werden nur als Akzidens erscheint.

Und da wir schonmal so weit sind, noch ein paar Worte zu Aristoteles. Fast so wirksam wie Plato mit seinen Ideen, war jener mit seinen Entelechien, wenn auch mehr in der Vorstellung als im Begriff. Danach bestünde die Welt aus lauter Einzeldingen, Individuen, dem, was der Platoniker als Werden und Schein geringschätzte. Ein jedes Individuum ist mit seiner eigenen Bestimmung - telos, das Ziel, auf das es hinwill - ausgestattet, so dass an der Erscheinung des Werdens durchaus ein Wahres, Seiendes anschaulich wird. 

Während das christliche Denken des ersten Jahrtausend völlig von Plato und den Neuplatoniker beherrscht war, brachte die Wiederentdeckung des Aristoteles durch die Scholastiker den ersten großen Umsturz des abendlichen Geistes: Im Nominalismus feierte das Individuum triumphierend Wiederauferstehung, zum erstenmal wurde die Philosophie nicht nur untergründig und irgenwie "an sich", sondern ausdrücklich und polemisch kritisch, denn die von Plato vergöttlichten Begriffe wurden aus einmal zu bloßen Sammelnamen für einander ähnliche Dinge, von Menschen erdacht und nur für ihre Zwecke da. 

Ohne dies keine Renaissance und keine Neuzeit und keine Kopernikanische Wende.

Das Problem, vor dem Ariostoteles haltgemacht hatte: nämlich wie unter all diesen durcheinanderlaufenden Einzelzwecken am Ende ein zusammenhängender Kosmos zustande kommen konnte, war für die kirchen- gläubigen Scholastiker a priori gelöst. Man muss die Welt "nur" selber als eine Entelechie auffassen. Aber was sich dabei denken ließe, hätte Aristoteles nicht sagen können. Die christliche Lösung, der selbsterzeug- te Schöpfergott, stand ihm nicht zu Gebot. Sokrates war wegen Leugnung der griechischen Götter zm Tode verurteil worden. Und so kam schon zu Lebzeiten des Aristoteles das Gerücht auf, dieser habe neben der exoterischen Lehre, die er seinen Schülern öffentlich vorgetragen hat, seinen Auserwählten noch eine gehei- me esotetische Lehre mitgeteilt.

Alles hat seine Zeit. Mit Galileo, der Platos Ideen in die mathematische Auffassung von den Naturgesetzen umgeformt hat, ging die Scholastik unter. Leibniz hat dann allerdings in seinen Monaden die aristotelischen Entelechien zu neuem Leben erweckt und mit der prästabilierten Harmonie auch den Schöpfergott zu neuen Ehren bringen wollen; was aber nach dem 30jährigen Krieg ein aussichtsloses Unterfangen war.
JE





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