Donnerstag, 7. März 2019

Ursache und Zweck der Vernunft.


Dass das, was ist, ist, haben wir nicht selbstgemacht. Es ist schlechterdings da, wieso und wozu kann uns vor der Hand gleichgültig sein. Denn das, was es ist, haben wir allerdings selber bestimmt und bestimmen es un- entwegt neu: was es für uns sein soll, was man daraus machen kann, als was es uns gilt. Das ist ein praktische Frage.

Einem isolierten Individuum hat sie sich in der Geschichte nie gestellt. Defoes Robinson hatte den Zweckbegriff aus der Zivilisation mitgebracht, und wenn er gelegentlich einem Ding, das er noch nicht kannte, einen neuen Zweck anerfunden hat, so hatte er die Idee, Dinge an ihren Zwecken zu erkennen, doch nicht selber erfinden müssen.


Die Menschen und ihre Vorläufer in der Gattungsgeschichte konnten nicht leben, ohne zusammenzuleben. Dinge fanden sie nicht als Einzelne vor, sondern gemeinsam. Die Frage nach ihren Zwecken stellte sich nicht jedem allein, sondern allen zusammen. Oder auch: Als geltend bewährt haben sich diejenigen Zwecke, die sie teilten, die andern gingen wieder verloren. So entstanden Begriffe von den Dingen.


Richtig ist wohl, dass die Zwecke, die unsere Vorläufer erfanden, sich hauptsächlich aufs nackte Überleben bezogen haben dürften - auf ihren Erhaltungswert für die Individuen in ihren Lebensgesgemeinschaften. Materielle Zwecke teilen sich regelmäßiger mit, ideelle Zwecke bleiben länger individuell. Aber das ist ein gradueller Unterschied, der mit der Höhe der Kultur abnimmt; im Prinzip ist ein Zweck ein Zweck.


Historisch ist es zwar eine bedeutsame Frage, wie immaterielle und daher fernerliegende Zwecke für Homo sapiens eine so viel mächtigere Kraft gewinnen konnten als in allen andern Gattungen. Aber dass es so ist, ist ein Faktum, das aller Anthropologie richtungweisend zugrundeliegt. Denn umstritten sind die Zwecke nur, wenn und weil sie geteilt werden sollen. 

Es ist diese historische Gegebenheit, die wir seit gut drei Jahrhunderten als Vernunft bezeichnen. Sie aktu- alisiert sich alltäglich im Streit.

30. 8. 17 

Auch dies ist nicht transzendental und im Konjunktiv gesprochen, sondern realistisch im Indikativ. Dass die Vernunft in der Welt ist, dass alle Vernünftigen darin übereinkommen, dass sie allenthalben zu gelten hat und dass die Vernünftigen den Meinungskampf überall da beherrschen, wo er öffentlich stattfindet, ist das Faktum, von dem die Transzendentalphilosophie ausgeht. Nicht nur ausgeht: ist das Faktum, das sie verstehen will; das Faktum, auf das sie hinausläuft.

Das wirkliche Aufkommen der Vernunft im Laufe der Geschichte kann wohl mit den Instrumenten der Ver- nunft - Begriff und logische Schlussregeln - beschrieben werden. Aber da sie sich selber voraussetzen, können sie nicht sichtbar machen, was an dem beschriebenen Geschehen das Vernüftige gewesen sein soll: Es ist ein Petitio principii, durch die nichts verständlicher wird.

Verstehen, 'wie die Vernunft zur Welt gekommen ist', will der Transzendentalphilosoph ja, um einen Maßstab zu finden, nach dem er beurteilen kann, ob dieses oder jenes vernünftig ist. Er will nicht aus Neugier entdecken, wo die Vernunft herkam, sondern er will wissen, wie sie begründet ist. Dass sie begründet ist, muss er aus heuri- stischen Gründen voraussetzen, sonst hätte er ja nichts, wonach er suchen kann. So wird er von der Vernunft ein Modell entwerfen. Mit dem ist es wie mit allen Modellen: Sie bestehen, wenn sie in Bewegung die Leistungen er- bringen, die von ihnen erwartet werden. Vorausgesetzt ist die Leistung, aufgesucht werden die Bedingungen, unter denen sie möglich ist. Leistet das Modell, was es soll, so wird es selber Kriterium der Vernünftigkeit: Was nicht ins Modell passt, ist aus dem Verkehr vernünftiger Wesen auszuscheiden.

Die Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik. Hat sie ihre Arbeit besorgt, kann sie sich der wirklichen Ge- schichte davon zuwenden, wie die Vernunft nach und nach die Köpfe von immer mehr Menschen erfasst hat, und kann beurteilen, ob ihr Anspruch auf Weltherrschaft realistisch ist. Dieser zweite Arbeitsgang heißt An- thropologie.

 6. 6. 18

Aktualisieren und Fortschreiben der Vernunftkritik ist nicht nur möglich, sondern dringend geboten. Die gegen- wärtige Philosophie ist festgefahren in dem unfruchbaren und ausweglosen Gegensatz zwischen der sprachana- lytisch-'systematischen' Partei und den historisierenden 'Kontinentalen'. Den Gegensatz überwinden, indem sie ihn gegenstandslos werden lässt, kann allein die Transzendentalphilosophie.

Sie will nicht nur Begriffe bestimmen, sondern das Bestimmen selber durchsichtig machen. Da hat sie noch einiges zu erledigen und Philosophen mit dem historischem Blick sind reichlich bedient. Sie will aber zu ihrer eigenen Bestimmung gelangen: der Begründung einer kritischen Anthropologie. Da haben die mit dem syste- matischen Verlangen zu tun bis ans Ende ihrer Tage.



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