Mittwoch, 30. Januar 2019
Die rationale Fiktion, II.
Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles – sei eine geschlossene Sphäre, deren Umfang lückenlos von Begriffen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen.
In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber unbegrenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unterscheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie wenigstens zu vergleichen wären.
Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaft- lichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.
ca. 2009
Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig verhalten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei.
Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikte, der nur auf Messer Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kop- fe ist, können wir unser alltägliches Ungefähr riskieren.*
Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teilchen, die zugleich Bedeutungs-Partikel darstel- len, und insgesamt einen Sinn hat, der unabhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir und in unserer Alltagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphilosophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.
Wozu ist das gut? Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlossen.
"Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Metaphysik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestimmung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die theore- tische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.
Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstver- trauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal lediglich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."
*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osnabrück der Westfäli- sche Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als glaubwürdiger Bürge die Vernunft nachrücken.
JE
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