Tatsächlich liegt das Mysterium der Vernunft in der Urteilskraft. Im Urteil richte ich über die Gültigkeit der Gründe (Werte...); aber Grund des Urteils ist eben... die Gültigkeit. "Geltung" ist ein Paradox: 'Ich' stellt sich über die Geltung, macht sich zu ihrem Maßstab, indem es Geltungen vergleicht. Andererseits muss es die Geltungen als unabhängig von ihm denken: "Entweder gibt es gar keinen Wert, oder es gibt einen notwendigen Wert."*
Das Ich 'macht' sich seine Gründe selber, aber so, als ob sie absolut wären. Mit andern Worten, die "absolute" Geltung ist immer nur eine Behauptung
*) Fr. Schlegel, in Materialen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Ffm. 1977, S. 198
aus e. Notizbuch, 11. 7. 03
Ist das bloß paradox oder ist es absurd? Der allerletzte Rechtsgrund jeglicher Geltung ist ja gar kein Urteil, in dem Gründe erwogen und eine Wahl getroffen wird, sondern lediglich ein Gefühl - wenn auch das Gefühl der Gewissheit. Oder, mit andern Worten, das Gefühl eines Denkzwangs, das Gefühl, "gar nicht anders zu können". Doch so unwiderruflich es sich auch ankündigt - subjektiv bliebe es auch dann noch, wenn alle wirklichen Sub- jekte es faktisch teilen würden (wovon man bloß nicht wissen kann).
Das ist allerdings absurd, nämlich vom Standpunkt der in sich gegründeten Vernunft aus betrachtet: Es dreht sich im Kreis, doch was im Kreis "begriffen" liegen soll, liegt ganz im Dunkeln.
Der Standpunkt der in sich gegründeten Vernunft ist das, was Fichte als das gemeine Bewusstsein bezeichnet und dessen Grund und Herkunft die Wissenschaftlehre darlegen soll. Grund und Herkunft der Vernunft setzt sie weder dogmatisch voraus, noch postuliert sie sie prophetisch, sondern sucht sie in den wirklichen Handlungen der Vernunft auf. Was sie gefunden hat, erwies sich als ein Akt der Freiheit, der als ein solcher 'im Dunkeln liegt' und nicht begriffen, sondern - sofern man es will - nur angeschaut werden kann. Und was sieht man? "Ja; anders wäre es nicht möglich."
Wenn ich zuunterst den (bedingten) Denkzwang voraussetze, werde ich auch nach oben hinaus immer wieder auf den Denkzwang stoßen.
Warum? Die Wissenschaftslehre ist streng immanent und geht über ihre Prämissen nirgends hinaus.
2. 7. 18
Auch in dem Punkt bin ich inzwischen etwas klüger. Richtig ist: Im Urteilen kommt sich der Mensch durchaus nicht so vor, als würde er aus freien Stücken unter vielen Möglichkeiten auswählen. Vielmehr hat er den Ein- druck, als sei das Urteil höheren Orts schon längst gefällt gewesen und er selbst gebe es nur noch kund. Das ist der Denkzwang, dem jeder Vernüftige unterliegt. Und nur, wer ihn fühlt, ist ein Vernünftiger.
Dass die Urteilsgründe 'an sich' schon vorgelegen hätten, bevor er ans Urteilen überhaupt dachte, kann ihm nur vorläufig als Einsicht genügen. Denn es hätte doch irgendwie von irgendeinem Ersten Urteilenden so gefügt wer- den müssen! Die Idee von einer Urintelligenz, die alle überhaupt möglichen Urteil im Voraus schon gefällt hätte, ist so unanschaulich - wo und in welchen Medium?! -, dass der Vernünftige sie sich schnell aus dem Kopf schlägt und vorzieht, gar nichts Genaueres darüber wissen zu wollen. Das ist der Grund, warum die Vernunft seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Vokabular der Philosophen verschwunden ist.
Die Transzendentalphilosophie kann hier Abhilfe schaffen. Denn wenn sich das Ich als "sich-selbst vorausge- setzt" vorfindet, ist das oder derjenige, den er vorfindet, durchaus nicht er als die lebendige Intelligenz, die aktuell etwas vorstellt, sondern der abstrakte, raum- und zeitlose Vernünftige "in uns allen", als den er sich bei dieser Ge- legenheit vorstellt. Dass er sich zu den Vernünftigen zählt, setzt voraus, dass er die Vernüftigkeit der Gemein- schaft, zu der er gezählt werden will, für sich als bindend anerkannt hat.
Es ist eine Voraussetzung, die nie gegeben ist, sondern immer wieder neu gemacht werden muss.
2. 11. 18
Es hat keinen Sinn, von Geltung zu reden, als ob "es" sie "gäbe". Dieses oder Jenes gilt jetzt und für diesen einen oder jenen andern beabsichtigten Akt. Die Abstraktionen des reflektierenden Verstandes sind nichts Wirkliches, sie haben nur ideale Bedeutung für den (unvermeidlichen) Fall, dass ich erneut 'ein Urteil fällen', oder besser: ur- teilen muss.
So wie das Ich ("das Bewusstsein") sich als sich selbst vorausgesetzt auffassen muss, fasst es sich als einen Urteilenden 'sich vorausgesetzt' auf. Dieses bedeutet jenes. Urteilen ist bestimmen, und bestimmen ist der Charakter meiner Tätigkeit. Unterscheidungen trifft erst die von höherer Warte zusehende Reflexion. Etwas gilt immer nur actu. Konservierte Geltung ist der Begriff, aber der ruht. Wenn ich das nächste Mal urteile, müsste - könnte - ich ihn akt ivieren.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen