Freitag, 16. November 2018

Philologen und Systematiker, II.

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Wahr ist aber auch, dass sich im universitären Alltag philologischer Fleiß oft wie ein Nebel über das philosophi-sche Staunen legt und der Stachel, Probleme nicht nur explizieren, sondern womöglich auch lösen zu wollen, gar nicht mehr sticht. Die Wunder, die sich oft im Allerkleinsten verbergen, sind aber auf die Dauer kein Ersatz für den Schwindel, den der Blick ins Weite erregt. Philologie mag der Brennstoff der Philosophie sein, aber ihr Mo- tor ist sie nicht.

Doch das ist eine Innere Angelegenheit der pp. kontinentalen Philosophie. Das ist nicht neu, das wusste ich längst:


Philologen und Systematiker.

Dass die Philologen das philosophische Feld beherrschen, ist für einen wie mich ärgerlich; aber es ist unver- meidlich. Anders als zu Zeiten von Kant und Fichte ist Wissenschaft heute ein Betrieb. Das ist die Folge des Übergreifens wissenschaftlicher Erkenntnisresultate auf das ganze Leben in der industriellen Gesellschaft, und als solche war es nicht nur unvermeidlich, sondern auch begrüßenswert.

Nur in ihrer philologischen Bearbeitungsweise kann die Philosophie eine Erkenntnis- und Arbeitsgemeinschaft sein. Sie können sich untereinander nur über das austauschen, was allen geläufig ist. Nur so gibt es prozessie- renden Zusammenhang. Wenn aber alle Philosophen Systematiker wären, müsste jeder – anders geht’s ja nicht – annehmen, dass er erkannt hat, was keiner vor ihm und keiner neben ihm eingesehen hat. Darauf müsste er bauen. Das Verständigen mit Andern wäre ihm allenfalls ein persönliches – charakterliches, temperamentliches  – Bedürfnis, aber ein sachliches Erfordernis wäre es nicht.

Damit ließe sich ein in Raum und Zeit kontinuierlicher Betrieb nicht unterhalten. In dem Maß, wie die Universi- täten nicht als isolierte Herde, sondern als akademisches Netz zur Stätte des Philosophierens wurden, konnte nur das Philologische ihren Zusammenhalt gewährleisten. Systematiker waren immer Eigenbrötler, je mehr einer beim Philosophieren systematisiert, weil er wissen will, was wahr ist, umso mehr isoliert er sich von allen andern. Dass ihm einer dreinredet, stört ihn und lenkt ihn ab. Er braucht die andern als Spiegel und Resonanz- kisten; weniger als Stichwortgeber und Besserwisser.

Will er die Folge nicht in Kauf nehmen, darf er die Ursache nicht wählen. Und muss schlimmstenfalls seine Wahl rückgängig machen: Noch jeder der Sache verschworene Philosophiestudent dürfte als anmaßlicher Sys- tematiker begonnen haben. Aber mit erfolgreichem Eintritt in den akademischen Betrieb – und anders lässt sich Philosophie nicht zum Beruf machen – bleiben es die wenigsten. Dass sie ihre anfängliche Wahl im Lauf der Zeit tagtäglich ein bisschen revidiert und sich zu Philologen beschieden haben, merken die wenigsten; mit dem Ergebnis, dass hartnäckige Systematiker zu Außenseitern und Störern der Philosophie werden.
 

28. Mai 2015

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