Vernunft kann nur herrschen, wo Öffentlichkeit ist. Sie ist das allgemeinste Verständigungsmittel. Ohne sie kann es keine Gesellschaft geben, die auf dem Verkehr aller mit allen beruht.
Mit andern Worten, Vernunft ist der ausgezeichnete Charakter von Unserer Welt. Ihr sinnfälligster Ausdruck ist die Wissenschaft, in der die bürgerliche Gesellschaft ihr oberstes Maß erkennt.
Hat also Vernunft in Meiner Welt nichts zu suchen?
Das Unterscheidungsmerkmal ist, auf welchem Weg typischerweise Entscheidungen zustande kommen: durch Übereinkunft oder durch Vernunfturteil. Vernunft fragt nach Gründen, das Vernunfturteil beruht auf dem prozessierenden Ausscheiden des Falschen: desjenigen, dessen Gründe der öffentlichen Kritik auf die Dauer nicht standgehalten haben. So entsteht Wissen, gesammelt und konzentriert in der öffentliche Instanz 'Wissen-schaft'. Deren Modus ist die unendliche Revision alles einmal Gegebenen. Ihre Richtsprüche gelten immer 'einstweilen endgültig'; nämlich solange, bis sie durch Gründe widerlegt (oder auch nur erübrigt) werden. Ihre Schlüsse erscheinen im gegebenen Moment als notwendig.
So ist es in Unserer Welt. Ihr Platz ist Öffentlickeit. Da gehören Alle zu, ob es ihnen recht ist oder nicht.
Was zu Meiner Welt gehört, entscheidet sich nicht durch geprüftes Wissen, sondern durch geteiltes Erleben. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, beruhen typischerweise nicht auf Gründen, die der Kritik unterzo-gen wurden, sondern auf Motiven, die Beifall gefunden haben; Leidenschaften, Neigungen, momentane Lau-nen. Man findet sich zusammen auf einem gemeinsamen Boden von Werturteilen, und die sind im Kern ästhe-tisch – doch über das Ästhetische lässt sich nicht vernünfteln.
Es zählt hier nicht, was Alle wissen und einsehen können, sondern das, was Einige meinen. Urteile entstehen nicht auf dem Wege kritischer Reduktion, sondern durch Kumulation und Anlagerung. Sie sind willkürlich und zu-fällig. Sie gelten immer ganz und gar, aber nur im Augenblick, doch der kann ewig dauern: willkürlich und zu-fällig. Es mögen auch immer Vernunftgründe zu ihnen beigetragen haben; aber nicht, weil sie begründet wa-ren, sondern weil sie Beifall gefunden haben. Denn was stört, kommt unter den Teppich, und wenn es noch so vernünftig wäre. Es bleibt alles privat, wem es nicht gefällt, der kann ja gehen.
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In den achtziger Jahren trat in Deutschland eine Partei auf, die die Konsensfindung anstelle von Mehrheitsbe-schlüssen zum politischen Prinzip machte. Politisch heißt öffentlich par excellence, Einvernehmen ist die typische Entscheidungsfindung im Privatbereich. Aufgelöst wurde der Widerspruch durch die Losung Das Private ist poli-tisch, doch praktisch lief es auf die Privatisierung des Politischen hinaus.
Das müssen Sie sich so vorstellen: Wenn alles 'ausdiskutiert' werden muss, bis keine Meinungsunterschiede mehr übrigbleiben, dann dauern Sitzungen bis in die Nacht; die, die am nächsten Tag früh aus den Federn müssen, gehen abends zwischen zehn und elf, wer zäh ist oder lange schlafen kann, bleibt bis nach Mitternacht, und wegen eintretender Müdigkeit werden die Meinungsverschiedenheiten immer kleiner. Es behalten diejeni-gen das letzte Wort, die am längsten ausharren. So kommen "konsensuell" Beschlüsse zustande, die willkürli-cher und zufälliger sind, als es ein Mehrheitsvotum je sein könnte.
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Das konnte nicht lange dauern, schon gar nicht, seit die Grünen hier und da in Regierungen einrückten. So ab-surd es war – ganz aus der Luft gegriffen war die Grundidee nicht. Denn tatsächlich konstituiert das Politische in gewissem Sinn ein Zwischenreich zwischen Unserer Welt und der Meinen. Es bleibt das Öffentliche par excel-lence, davon ist nichts zurückzunehmen. Aber der Modus der Entscheidungsfindung ist in der Politik nicht der der Wissenschaft. Der Politiker kann nicht warten, bis im stetigen Prozess kritischer Reduktion einmal ein Punkt erreicht ist, wo man sagen kann: Das ist 'einstweilen endgültig'. Politische Entscheidungen müssen fallen, wenn sie fällig sind, ob ausdiskutiert oder noch ganz in der Schwebe.
Anders als im wissenschaftlichen Bereich gelten sie ganz und gar, nicht unter Vorbehalt; und anders als im privaten, sind sie terminiert: bis zur nächsten Wegbiegung. Sie sind nicht notwendig, sondern zufällig. Es werden nicht Gründe bis zu ihrer Erschöpfung geprüft, sondern Meinungen gesammelt; Motive, Werturteile, Ästhetisches. Doch wenn die Revision auch nicht permanent ist wie in der Wissenschaft, ist sie in 'vernünftig' organisierten Gemeinwesen immerhin periodisch.
Denn dieser Unterschied zum Privaten, diese Verbindung zu Vernunft, Wissen und Wissenschaft bleibt unbe-schadet: Alle Akteure, idealiter auch die privaten Wahlberechtigten, erkennen und messen einander als einem höheren Zweck und allgemeingültigen Gründen verpflichtet. Anders als in Meiner Welt gilt auch im Politischen der Hinblick auf ein Absolutes, und darum gehört es zu Unserer Welt.
16. 2. 16
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