Le Corbusier
Lieber Leser, 'mein System',
von dem ich immer wieder rede und von dem Sie vielleicht doch noch
nicht viel erkennen konnten, nimmt langsam Gestalt an; weniger
literarisch als sachlich. Das Ästhetische
schimmert immer öfter aus dem Strom der Wörter hervor, und nicht bloß
als thematischer roter Faden oder als Hinter- grundrauschen, das alle
andern Töne einfärbt, sondern als das Bindemittel zwischen der Anthropologie auf der empirischen und der Transzendentalphilosophie auf der theoretischen Seite.
Das klingt nun ebenso eitel wie trivial; wenn man nämlich von dem Ästhetischen einen trivialen Begriff hat. Ich fasse aber das Ästhetische (wie Fichte an Schiller schrieb) so weit,
wie Sie es sich nicht einmal träumen lassen. So weit und so scharf, wie
ich ergänzend hinzufüge, und dann ist es nicht mehr trivial.
*
Auf den ersten Blick ist es freilich das Thema der Vernunft, durch das die Anthropologie mit der Transzenden- talphilosophie zusammenhängt; als das specificum humanum hier und als Medium und Gegenstand dort: Selbst- reflexion der Intelligenz.
Die Intelligenz selber zeichnet das
Humane schon lange nicht mehr aus. Je länger die Ethologen observieren,
um so weiter wird das Feld der tierischen Intelligenz. Angefangen hat
es mit dem Werkzeuggebrauch der Schimpansen, inzwischen sind wir bei
absichtlicher Täuschung und Perspektivenwechsel bei den Rabenvögeln, und
wer weiß, was noch kommt.
Es ist wohl wahr, tierische
Intelligenz manifestiert sich immer punktuell und momentan, nur bei der
Familie Homo ist ihr Gebrauch habituell und ubiquitär. Wäre das kein
Unterschied? Es wäre keiner, der sich bestim- men lässt. Denn dazu
müsstest du eine Grenze ziehen. Doch auf welchen Punkt du immer reflektierst, der Übergang ist fließend.
Qualitativ dagegen ist dieser
Unterschied: Im Tierreich steht aller Intelligenzgebrauch im Dienste der
Selbst- oder der Arterhaltung, auch da, wo er nicht genetisch,
sondern kulturell vererbt wirbt. Allein Homo sapiens bemüht - und je
länger seine Geschichte auf Erden dauert, umso wissentlicher - Zwecke,
die abseits der Erhal- tungsfunktion liegen: Verum, bonum, pulchrum.
Das ist es, was den Menschen vor
andern Lebewesen auszeichnet: Er kann nicht nur wahr-, sondern auch
wert- nehmen. Und recht eigentlich muss er wertnehmen, so dass Max Scheler sagen konnte: Wertnehmen kommt vor wahrnehmen, es ist seine Bedingung.
Das ist ein Satz, der der
Anthropologie ebenso angehört wie der Transzendentalphilosophie, die das
Praktische vor und über das Theoretische stellt. Wertnehmen ist das
Wahrnehmen von Qualitäten, und so nennen wir Eigen- schaften, die
schlechterdings - "ohne Interesse" - von einem Urteil des Beifallens
oder der Missbilligung beglei- tet sind. Und eben das ist das Ästhetische.
Was morphologisch der aufrechte
Gang für die Hominisation bedeutete, bedeutet für die geistige
Hominisation die Entwicklung seines ästhetischen Vermögens. Es ist der Stoff der Vernunft.
*
So weit die Anthropologie.
Vernunft nennen wir nun diejenige
Intelligenz, die nicht nur die Wirkzusammenhänge der Dinge in Hinblick
auf unsere Zwecke beurteilt, sondern die Zwecke selbst. Eine
Intelligenz, die sich als einem Maß unterworfen vorstellt. Vernünftig nennen wir ein Handeln, das seine Zwecke als einer obersten Instanz, als einem Zweck der Zwecke verantwortlich erachtet. Dies genetisch herzuleiten aus dem idealen Ursprung der Vernunft selbst, je- ner Tathandlung, in der sich das Ich als frei setzt, ist wiederum Sache der Transzendentalphilosophie. Die Fik- tion eines obersten Zwecks - verum, bonum, pulchrum
- ist eine ästhetische Idee. Sie ist nicht bedingt, sondern durch
Freiheit möglich. Und recht besehen, ist am äußersten Ende der Vernunft nur sie noch durch Freiheit möglich.
*
Das sind die beiden Pole, zwischen denen "mein System" verläuft.*
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*) Wie es verläuft, sehen Sie, wenn Sie meinen Links folgen.
27. 6. 14
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