Freitag, 17. August 2018
Von der Intuition und dem Wesen der Ursache.
24. 9. 37
... Russell sagte, man müsse, ehe man etwas als Ursache durch wiederholte Erfahrung erkenne, etwas durch Intuition als Ursache erkennen.
18. 10. 37
Was wissen wir denn von der Intuition? Welchen Begriff haben wir von ihr? Sie soll wohl eine Art Sehen sein, ein Erkennen auf einen Blick; mehr wüsste ich nicht. - "Also weißt Du ja doch, was eine Intuition ist!" - Etwa so, wie ich weiß, was es heißt, "einen Körper mit einem Blick von allen Seiten zugleich sehen". Ich will nicht sagen, daß man diesen Ausdruck nicht auf irgend einen Vorgang, aus irgend einem guten Grund, verwenden kann - aber weiß ich darum, was er bedeutet? -
'Die Ursache intuitiv erkennen heißt: die Ursache irgendwie, wissen (sie auf eine andere Weise erfahren, als die gewöhnliche). - Es weiß sie nun Einer - aber was nutzt das, - wenn sich sein Wissen nicht bewährt? Nämlich, in der gewöhnlichen Weise, mit der Zeit bewährt. Aber dann ist er ja in keinem andern Fall, als der, der die Ursa- che auf irgend eine Weise richtig erraten hat. Das heißt: - wir haben ja keinen Begriff von diesem besondern We- sen der Ursache. Wir können uns ja vorstellen, Einer sage mit dem Zeichen der Inspiration, er wisse nun die Ursache; aber das hindert nicht, daß wir nun prüfen, ob er das Rechte weiß.
Das Wissen intessiert uns nur im Spiel.
(Es ist, wie wenn jemand behauptet, er besitze die Kenntnis der anatomie des Menshen durch Intuition; und wir sagen: "Wir zweifeln nicht daran; aber wenn Du Arzt werden willst, mußt Du alle Prüfungen ablegen, wie jeder Andere.")
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aus: Ludwig Wittgenstein, "Ursache und Wirkung. Intuitives Erfassen"
in: ders., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a. M., 1989, S. 101; 113f.
Nota. - Es ist niederschmetternd, was für ein dürftiger Denker zur Geistesgröße des 20. Jahrhunderts aufsteigen konnte. Dass eine ganze Generation von Philosophiestudenten eines ganzen Kontinents, die auch meint, aus der Geschichte der abendländischen Philosophie nichts gelernt haben zu müssen, ihn zu ihrem Kronzeugen aufruft, hat er bei Gott redlich verdient.
Intuitio ist - kennen Sie sowas? - Lateinisch und heißt nichts anderes als Anschauung. Darunter kann man - wie Kant - das sinnlich Gefühlte verstehen, oder - wie Fichte - das, was am Gefühl mir etwas bedeutet. Nur: "auf eine andere Weise erfahren, als die gewöhnliche" - das bedeutet es auf jeden Fall nicht, denn Anschauung ist die 'ge- wöhnliche Art', Erfahrung zu machen. Wie aus der Anschauung Erfahrung, nämlich ein Erfahrungsbegriff wird, hat die Transzendentalphilosophie zu ihrem ersten Thema gemacht. In Wien hätte man das wissen müssen, in Cambridge musste man es nicht.
"Wir haben keinen Begriff von diesem besondern Wesen der Ursache" - in Wien musste man wissen, dass an der Frage nach dem 'Wesen der Ursache' die Transzendentalphilosophei entstanden war und dass, wer immer sich fortan mit dieser Frage beschäftigen will, den Schicksalen der Transzendentalphilosophie nachzupüren hat. In Cambridge durfte man sich mit dem Wesen der Ursache befassen, ohne irgendwas gelernt zu haben. Da klang Russells Einfall mit der Intuition nachgerade avantgardistisch.
JE
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