Montag, 27. August 2018

Denkgesetze.

 
Denkgesetze

Der Logiker kann zur Begründung seiner Wissenschaft schließlich nichts anderes tun als auf die Notwendigkeit hinweisen, mit der wir unsere Schlüsse ziehen.
 

Dieses subjektive Gefühl der Evidenz würde aber ganz falsch gedeutet, wollte man daraus für die logischen Regeln und unser Denken objektive Verknüpfung von Grund und Folge ableiten. Auch der Stein muß fallen, respektive schwer sein. Könnte er rechnen wie wir, er könnte seine "Fallgesetze" entdecken. Wir denkenden Menschen begehen oft den Fehler zu meinen oder wenigstens zu sagen, der Stein falle nach diesen Gesetzen, das heißt doch wohl, der Fall sei die Folge der Gesetze. Aber die Gesetze sind doch nur das Spätere, die For- mel. Als Gehirn denken wir das Spätere, die Formel, als Körper tun wir das Frühere. Wir fallen und sind schwer.
 

So wenig aber als die Fallgesetze jemals Einfluß genommen haben auf den Fall eines Körpers, so wenig be- kümmern unsere Denkgesetze das Denken. Nur wenn es einen Gott gäbe und wir könnten uns ihn so schul- meisterlich denken, dass er erst die Fallgesetze nicht entdeckt, sondern erfunden und danach das Sonnen- und Sternensystem gebaut hätte, nur dann wäre das Fallgesetz oder die Gravitation der Grund des Falls oder der Planetenbahnen. Und so wären die logischen Gesetze der Grund unseres Denkens, wenn wir sie erfunden hätten, anstatt sie zu entdecken. So schulmeisterlich ist aber nicht einmal der Mensch gewesen.
 

Gerade aus den geschulten Köpfen ist der Glaube an den Wert der Logik am schwersten herauszubringen. Ein verhältnismäßig vorurteilsfreier Mann wie Friedrich Paulsen kann gelegentlich da, wo er die Unhaltbarkeit des Atomismus aus der Tiefe des Gemüts heraus darlegen will, den ketzerischen Satz niederschreiben: "Die Zeit dürfte überhaupt vorüber sein, wo man glaubte, mit logischen Demonstrationen die Notwendigkeit dieses oder jenes Weltbegriffs ausmachen zu können" (Einl. i. d. Philosophie 3214). 

Wo es sich aber nicht um einen Weltbegriff (?) handelt, sondern um eine Kleinigkeit wie den Begriff der Seelen- substanz, da stellt Paulsen eine Behauptung auf, die eigentlich verdiente, in eine tote Sprache übersetzt zu wer- den (Einl. i. d. Philosophie 375): "Man kann zwei Arten von Denknotwendigkeit unterscheiden: die echte oder logische und die falsche oder psychologische." Die unechte oder psychologische Notwendigkeit entspringe aus der Gewöhnung. Wenn Paulsen uns nur sagen wollte, woraus die echte oder logische Notwendigkeit entspringt. "Was wir oft oder immer sehen, hören, denken, erscheint uns zuletzt als notwendig, sein Gegenteil als unmög- lich." Ganz richtig; nur dass diese vortreffliche Erklärung der Denknotwendigkeit auf alles logische Schließen paßt, welches für uns ja nie etwas Anderes ist als das rückwärtsgehende Aufdröseln eines durch Induktion ge- wonnenen Begriffs, nichts als Anwendung einer angewöhnten Klassifikation. Alles Schließen, alle sogenannte Denknotwendigkeit ist psychologische Tätigkeit; die rein logischen Akte wären eben psychisch ohne Psyche.
 

Es ist eine bekannte Beobachtung, und ich habe sie zu Zeiten nervöser Überreizung oft und stark an mir selbst wahrgenommen, dass in der gleichen Angelegenheit vor Tisch ein trauriger, nach Tisch ein befriedigender Aus- gang für wahrscheinlich oder sicher gehalten wird. Nun besteht die Denktätigkeit einer solchen Annahme aus Vorstellen und Schließen. Wir stellen uns bei gut genährtem Körper die günstigeren Tatsachen vor, das heißt wir erinnern uns leichter, das heißt bequemer und lieber an die günstigen Schlußglieder als an die ungünstigen. Wer das für materialistisch hielte, der übersähe, wie ich gerade alle Logik unter die Psychologie bringe. Wenn anders Kritik der Sprache die einzig mögliche Erkenntnistheorie ist und dann auch die einzig mögliche Psycho- logie.
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aus Fritz Mauthner Sprache und Logik, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3. Band (1913)



Nota. - "Wenn wir sie erfunden hätten, statt sie zu entdecken": Wir haben sie entdeckt, nämlich uns zu Bewusst- sein gebrcht und kodifiziert, nachdem wir sie erfunden hatten - nämlich in langer Denk- und Redepraxis ent- wickelt und ausgebildet

"Alles Schließen, alle sogenannte Denknotwendigkeit ist psychologische Tätigkeit. ...wie ich gerade alle Logik unter die Psychologie bringe": Als Mauthner schrieb, hatte die Psychoanalyse ihr verheerendes Wirken auf die westliche Bildung gerade erst begonnen, und jeder seiner Leser verstand unter Psychologie noch selbstver- ständlich Denk- und allenfalls Wahrnehmungspsychologie, welches empirische und möglichst exakte Diszipli- nen sind. Als solche könnten sie die Denkgesetze allerdings nur beschreiben und vielleicht von ihrer Entste- hung berichten. Und sie könnten wohl auch evolutionär den Umkreis ihrer praktischen Gültigkeit beschreiben. Aber sie begründen, nämlich, was für die Logik wohl wünschenswert wäre, sie logisch konstruieren oder her- leiten, könnten sie nicht. Denn sie sind ja eben empirisch. Wie wahr etwas ist, könnten sie nicht erkennen.

In diesem entscheidenden Punkt hat Mauthner gegen Wittgenstein Recht: Logik ist Denk gesetz, und das heißt: Form einer Tätigkeit. Offenbar lässt sich die Form erst an der Tätigkeit feststellen, nicht umgekehrt. Wie soll man sich das vorstellen: Die Menschen hätten gedacht und hätten nach und nach in die unvordenklichen Gleise der Logik hineingefunden? Sie haben gedacht und nach und nach eine Spur hinterlassen, in die, das ist wahr, folgende Generationen immer wieder hineinfinden. 

Richtiger ist Mauthners Zugang. In welchem Sinne er 'wahrer' ist, muss er nicht mit Wittgenstein ausmachen, sondern mit der Wissenschaftslehre.
JE

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