Dienstag, 2. Oktober 2018

Sprechen ist handeln um des Handelns willen.


Begriffe und Bilder

Ich schicke voraus, was an späteren Stellen weiter ausgeführt wird, dass diese Stufen: Begriff, Urteil und Schluß der herkömmlichen Logik nachbenannt sind und mit der psychologischen Entstehung dessen, was wir so nen- nen, gar nichts zu tun haben, dass dem Begriffe fast immer ein Urteil, dem Urteile fast immer ein Schluß vor- ausgeht und dass aus diesem Verhältnisse übrigens die Wertlosigkeit der Logik deutlich wird. 

Ich schicke voraus, dass unsere sogenannten Vorstellungen, welche wir durch Begriffe oder Worte auszudrük- ken glauben, erst durch unsere Bemühung, Begriffen oder Worten ein Objekt unterzuschieben, in unser Be- wußtsein hinein kommen. Fast alle diese Vorstellungen sind bei normaler Geistestätigkeit freilich Erinnerun- gen, aber nicht irgendwie wahrnehmbare, wenn auch noch so abgeblaßte Erinnerungsbilder, sondern einzig und allein Tätigkeiten unseres Gedächtnisses (vgl. auch Bd. I. S. 454). 

Wäre dem nicht so, wäre die Erinnerung nur ein Erinnerungsbild, welches durch Wort oder Begriff hervorge- rufen wird, so hätte die Sprache gar keine solche Bedeutung für den Menschen, so könnte das Tier ohne Spra- che ebenso gut denken wie der Mensch. Denn es läge gar kein Hindernis vor, dass z. B. die Geruchsempfin- dungen dem Hunde ebenso Vorstellungen brächten wie die Worte dem Menschen und dass der Hund so all- mählich dazu käme, sich mit Hilfe seines Geruches zur Wissenschaft zu erheben wie der Mensch mit Hilfe der Lautsprache. 

Dagegen jedoch sträubt sich unsere Überzeugung vom inneren Leben oder von der Psychologie des Hundes. Wir können es uns nicht anders vorstellen, als dass beim Hunde die gegenwärtigen Gerüche bloß Ideenasso- ziationen knüpfen und dass bei der flüchtigen und mangelhaften — ich möchte sagen — Artikulation der Ge- ruchsempfindungen auch die Ideenassoziationen der Artikulation, der weiteren Brauchbarkeit entbehren. Hört der Mensch ein ihm wohlbekanntes Wort, so steigt nur in Ausnahmsfällen ein Bild vor ihm auf, was dann fast pathologisch als Sinnestäuschung aufgefaßt werden kann; in normalen Verhältnissen wird nur eine Kette oder ein Gewebe, ein Netz oder noch richtiger eine kleine Welt, ein Mikrokosmos von Ideenassoziationen angeregt, fast ohne Beteiligung der Sinnesorgane, fast ganz ohne Bewußtsein, und zu diesem Mikrokosmos (der nicht eindimensional wie eine Kette, der nicht zweidimensional wie ein Gewebe oder ein Netz, sondern dreidimen- sional oder, in Hinsicht auf die Zeit, vierdimensional wie eine Welt ist) gehören auch unzählige Ergebnisse von Schlüssen und Urteilen. die also dem Gebrauche des Begriffes vorausgehen, wie sie einst der Entstehung des Begriffes vorausgegangen sind.
 

Was wir für Vorstellungen halten, wenn wir beim Aussprechen oder Hören eines Wortes mitunter das Bedürf- nis nach einem Halt in der Wirklichkeitswelt fühlen, das ist fast immer nur eine Exemplifikation, die absicht- liche innere Aufmerksamkeit auf irgend ein Beispiel. So wenn wir uns vergewissern wollen, ob wir uns bei den sogenannten konkreten Worten wie Tier, Säugetier, Raubtier, Hund, Pudel wirklich etwas denken können. Es ist psychologisch interessant zu beobachten, wie wir in solchen Fällen immer zu dem nächstliegenden Beispiele greifen. Seitdem die Gelehrten Bücher- und Schreibtischmenschen geworden sind, wird man z. B. fast jedesmal, wenn ein Psychologe den Begriff Ding mit einer Vorstellung belegen will, Tisch, Feder und dergleichen erwähnt finden. Das Beispielmäßige der Vorstellung ergibt sich noch schärfer bei abstrakten Begriffen wie Mut, bei Be- ziehungsbegriffen wie aber und selbst bei Verben wie kämpfen. Ich halte es nicht für unmöglich, dass ein flüchtig vorgestelltes Beispiel für aber, für Mut und für kämpfen die gleichen Elemente aufweist: zwei, die einander gegen- überstehen.
 

Es liegen also den Begriffen oder Worten wohl Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen zugrunde, nicht aber Vorstellungen oder Erinnerungsbilder. Die Verwirrung in der psychologischen Terminologie ist da freilich eine vollständige. Man hat Vorstellungen und Wahrnehmungen zu nahe aneinander gebracht und war darum immer geneigt, das Denken oder Sprechen auf Vorstellungen aufzubauen. Anderseits sind doch wieder nur die Sinnesempfindungen die unmittelbaren Elemente der Begriffe; denn beim Übergange von Sinnesempfindun- gen zu menschlichen Wahrnehmungen dürften doch in der Entwickelung der Organismen unzählige sprach- ähnliche Urteilsdifferentiale mitgewirkt haben. Wir halten uns vorläufig daran, dass nicht die Vorstellung es ist, welche dem Worte oder Begriffe zugrunde liegen muß, dass vielmehr das Wort oder der Begriff es ist, was eine Vorstellung hervorrufen kann. 
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aus Fritz Mauthner Sprache und Logik, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3. Band (1913)



Nota. -  Mauthner hat insofern Recht, als 'die Substanz' des faktischen Denkens nicht die lebendige Vorstellung ist, sondern die im Gedächtnis abgelegte Vorstellung. Die ist es, die Fichte Begriff nennt. Die Definitionen und Ge- brauchsregeln für den vernünftigen Verkehr gehören nicht in die Transzendentalphilosophie. Aber sie sind der Gegenstand von Mauthners Sprachkritik. Sprache ist für ihn - Gedächtnis. Real ist, was im Gedächtnis vor- kommt. 

Doch Worte sind für ihn nur Zeichen für "Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen". Dann stünden sie - wie im wirklichen Raum - isoliert und beziehungslos neben einander. Das tun sie in ihrer Wirklichkeit, und das sind gesprochene Sätze, nicht. Es sind nicht erst Wörter da, dann werden daraus Sätze gebildet; sondern die Wörter sind da, um aus ihnen Sätze zu bilden. Im Satz sind Nomina durch ein Verb zu einander in eine Bezie- hung gesetzt, nämlich in Abhängigkeit. Die Abhängigkeit besteht darin, dass das Verb von einem Nomen auf ein Nomen einen Sinn projiziert. Sinnesempfingungen und Wahrnehmungen mögen reichen, um ein Nomen zu kennzeichnen. Im Verb, im Handeln ist Bedeutung. Das eine tut etwas mit dem andern, und heraus kommt etwas Neues. Das synthetisierende Handeln bedeutet das Neue, nämlich so, als ob es ihr Zweck gewesen wäre. 

Zweck, Absicht, Wollen - das sind alles Dinge, die Mauthner nicht aus 'Sinnesempfindungen und Wahrneh- mungen' aufbauen kann. Das sind Dinge, die ein Handelnder sich vorstellen muss, wenn Handeln überhaupt möglich sein soll. Und weil sprechen selber handeln ist, müssen sie 'da' sein, bevor wir in unserer Erinnerung nach Objekten suchen, die wir unsern Wörtern unterschieben können.

*

Es macht sich ja nicht jeder seine Wörter selber. Sprache entsteht nur um der Verständigung Mehrerer willen. Worüber müssen sich Leute verständigen, die von vorherein als Handelnde in die Welt getreten sind? Über ihre empfindbaren und wahrnehmbaren Eigenschaften? Darüber, ob sie duften und schön anzusehen sind, offen- bar nicht; das kann ich gut und gern für mich behalten, und will ich meinen Nächsten daran teilhaben lassen, würden ah! und oh! reichen. Ob sie nahrhaft und gut verdaulich sind und überdies gut schmecken, darüber muss ich mich mit meinem Nächsten verständigen -  wenn ich will, dass er mir bei ihrer Beschaffung hilft. Um des Han- delns willen, nicht um ihm eine möglichst umfassenden Beschreibung meiner Sinnesempfindungen und Wahrneh- mungen zu geben.

Und daraus erhellt auch, warum der Hund keine Sprache hat. Er braucht sie nicht, weil ihm alles, was er zum Zusammenleben im Rudel braucht, genetisch angestammt ist. Verständigen müssten sie sich allenfalls darüber, wer der Boss sein soll. Ohne Sprache geht das freilich nicht, aber auch das haben sie nicht nötig. In der freien Natur haben sie es seit Urzeiten mit den Zähnen ausgefochten, und seit sie sich domestizieren ließen, ist es ohnehin der erstbeste Zweibeiner.
JE







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