attisch, ca. 650 v. Chr.
Der Wissensbegriff bei den Griechen
von Julius Baumann
"Man kann in Xenophanes
auch das erste Aufdämmern
kritizistischer Philosophie sehen, denn nach
seinen poetischen
Fragmenten weiß das Gewisse über die Götter und Dinge
kein
Mensch; träfe jemand selbst das vollkommen Richtige in seiner
Behauptung, so weiß er das doch selbst nicht; Meinung (subjektive
Überzeugung) herrscht in allem. Mit anderen Worten: wir haben
immer nur
unsere menschliche Überzeugung von den Dingen, können
der Dinge selbst
(an sich) als Dinge nicht habhaft werden."
Daß
Wissenschaft und Philosophie, wie wir sie verstehen, zuerst bei den
Griechen aufgekommen sind, steht geschichtlich fest. Es kann nur nach
den modernen Ausgrabungen in Griechenland die Frage entstehen, ob die
Griechen nicht in Philosophie Anregung oder Überlieferung vom Orient her
erhalten haben. Daß sie nämlich die Elemente ihrer materiellen
Zivilisation und die Anfänge der Kunsttätigkeit von dorther haben, kann
nicht mehr bezweifelt werden. Und wenn Thales aus
Milet (um 600 v. Chr.), den die Griechen als ihren ersten Philosophen
aufführen, zugleich als Urheber der Geometrie und Astronomie bezeichnet
wird, so hatte er, wie überhaupt die Griechen hierin, wahrscheinlich
Traditionen aus den orientalischen Kulturstaaten, wo praktische Meßkunst
namentlich in Ägypten geübt, Maß und Gewichtssysteme in Babylonien
ausgebildet und astronomische Beobachtungen in Verbindung mit
astrologischen Deutungen lange üblich gewesen waren. Bei den Griechen
wurde nun alles das aus den praktisch-technischen und abergläubischen
Beziehungen mehr losgelöst, die Gegenstände wurden um ihrer selbst
willen untersucht aus bloßer Wißbegierde. In der Philosophie eröffnet Thales
die Reihe der Monisten, wie man jetzt sagt, als könne man gar nicht
anders denken, als daß alles in der Welt Umwandlung eines einzigen
Stoffes sei. Diesen Urstoff, diesen Anfang (Prinzip, Arche), wie man
bald sagte, sah Thales im Wasser, wie man neuestens
gemeint hat, in Überein- stimmung mit babylonischen und ägyptischen
Vorstellungen, die an Überschwemmungsbeobachtungen anknüpften. Früher
noch hat Curtius darauf hingewiesen, daß um Milet viele Versteinerungen in den Gebirgen angetroffen werden.
Schon Aristoteles war, da Thales nichts geschrieben hatte, auf Vermutung angewiesen und hat gemeint, Thales
sei von der Betrachtung der lebenden Wesen auf seine Ansicht gekommen:
die Nahrung von allem und der Same von allem sei feucht, also Bestand
und Entstehung des Lebendigen an Flüssige gebunden. Thales
hat nun, wie es scheint, das Leben auf alles ausgedehnt, mindestens
schrieb er dem Magnetstein eines Seele zu, weil er das Eisen bewege und
es ist nach ihm "alles voller Götter", wohl im Sinn von
Bewegungskräften übermenschlicher Art. Das Einzige, was wir mit
Sicherheit entnehmen können aus diesen zuverlässigsten Berichten über Thales,
ist, daß ihm der Monismus in der Weltauffassung ganz selbstverständlich
erschien, daß ihm Seele und Bewegungskräfte zusammen- hängen und daß es
aus irgendeinem Grund das Wasser war, aus dem alles sich entwickelt habe
und in das alles sich zurückverwandeln könne oder werde.
Bei Anaximander aus Milet, einem jüngeren Zeitgenossen des Thales,
der eine Schrift, noch in sehr dichterischen Ausdrücken, verfaßt hatte,
sieht man schon etwas mehr ins Einzelne seines Weltverständnisses. Ihm
war der Anfang (das Prinzip) das Unbegrenzte, ein körperlich
unbestimmter Stoff, aus dem die Gegensätze von warm, kalt usw.
hervorgehen durch Ausscheidung und der unbegrenzt ist, weil er sich
sonst in der Erzeugung der Dinge erschöpfen würde. Zunächst schied sich
das Warme und Kalte aus, aus beiden entstand das Feuchte, aus beiden
entstand das Feuchte, aus diesem sonderte sich die Erde, die Luft und
der Feuerkreis ab, von dem wir nur Feuerringe (Sterne) sehen, weil die
Luftmassen der Erde gegen die Feuersphäre dringen. Er hatte vele
astronomische Lehren. Die Erde schwebt, von nichts gehalten, ruhend
wegen des gleichen Abstandes von allem, ihre Gestalt sei zylinderförmig
oder einer Säule ähnlich. Unter Einwirkung der Sonne hat sich die Erde
aus dem Flüssigen herausgebildet. Die ersten Tiere sind im Flüssigen
entstanden, "von dornigen Rinden umgeben". Hier kann man kaum zweifeln,
daß die Versteinerungen um Milet ihn auf beides geführt haben. Die
dornigen Rinden sind etwa die Schalen von Seetieren und da diese im
Land gefunden wurden, mußte das Land einst Meer gewesen sein.
Anaximander fährt fort: "mit der Zeit seien die Tiere auf das Trockene gegangen,
die Rinde sei weggebrochen und so hätten sie weiter gelebt. Das steigert
er dahin: auch die Menschen seien zuerst in Fischgestalt geworden; als
sie so weit entwickelt gewesen, daß sie sich selbst helfen konnten,
seien sie an das Land geworfen." Ob hier mythologische Vorstellungen
asiatischer Völker eingewirkt haben, die als Erinnerungen an vergangene
Zeiten genommen wurden, kann gefragt werden; "der Gott Dagon wurde in Fischgestalt gebildet"; aber daß Anaximander
orientalischen Vorstellungs- und Gefühlensweise zugänglich war, beweist
die nur von da aus verständliche Auffassung, die er so ausdrückte:
"woraus die Seienden ihr Entstehen haben, darein findet auch ihr
Vergehen statt nach der Notwendigkeit, denn sie geben Buße und Strafe
für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit." Er nahm aber
unendlich viele Welten an, nacheinander in der Zeit, diese Welten oder
Weltkörper galten ihm als die himmlischen Götter.
Als altgriechisch gilt jetzt der orphische Unsterblichkeits- und
Vergeltungsglaube. In der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts
verbreiteten sich orphische Sekten in griechischen Ländern. Sie hatten
eine bestimmte Lehre. Dionysos-Zagreus, Sohn des Zeus und der Persephone, wird in Stiergestalt von den Titanen zerrissen und verschlungen. Sein gerettetes Herz wird von Zeus verschluckt, um aus ihm den guten Dionysos
hervorzubringen. Aus der Asche der blitzzerschmetterten Titanen
entspringt das Menschengeschlecht. Die Menschen sind eine Mischung von
Titanen und Dionysos. Askese ist Grundbedingung des
frommen Lebens, das Höchste in dieser Asketik ist Enthaltung von
Fleischnahrung. Wir werden später sehen, daß in mancher Philosophie bei
den Griechen etwas von orphischer Gefühlsweise sich einmischt und so der
Neuplatonismus, die letzte Philosophie der Griechen, von lange her
vorbereitet war.
Bei Anaximenes (aus Milet um 500) sieht man die
Methode seines Philosophierens mit voller Klarheit. Er geht aus von
einer Beobachtung, die er dann nach zwei Seiten im Denken fortsetzt.
Hauchen wir mit geschlossenem Mund, so wird die Luft verdichtet und es
entsteht Kälte; hauchen wir mit offenem Mund, so wird die Luft dünn, das
ist das Warme. Noch mehr verdünnt wird die Luft Feuer, noch mehr
verdichtet Wind, Gewölk, Wasser (Regen) und sodann Erde, weiter Steine
und aus diesen Elementen das Übrige. Die Luft war ihm zugleich das
geistige Element, unsere Seele sei Luft (wohl wegen des Atmens). Die
Luft war ihm unendlich, in ewiger Bewegung.
Bei allen drei ältesten griechischen Philosophen können wir uns leicht
hineinversetzen, daß sich ihnen Wasser zu Luft umzuwandeln schien in der
Verdunstung desselben und sich manchmal Luft an der Erde entzündet (in
Solfataren [gashafter Erdhügel in der Nähe von Vulkanen]), so
mochten Licht und Sterne ihnen bloß verdünntere Luft scheinen. Daß
Wasser fest wurde, lag im Eis vor, aber daß es Erde wird, war das nicht
verwunderlich? Und doch ist es erst Ende des 18. Jahrhunderts dem
deutsch-schwedischen Chemiker Scheele gelungen, dieser Umwandlung den
wissenschaftlichen Charakter zu entziehen. Immer hatte man wieder
scheinbar ganz sicher beobachtet, daß aus Wasser, reinem Wasser, erdige
Bestandteil sich niederschlugen. Scheele
beobachtete gleichfalls, daß in einer Glasröhre mit reinem Wasser erdige
Bestandteile sich fanden, aber er wog nun die Glasröhre vor und nach
dem Wasser und da fand sich, daß die Glasröhre um soviel an Gewicht
verloren hatte, als die erdigen Bestandteile wogen. Damit war die
Umwandlung von Wasser in Erde wissenschaftlich aufgegeben.
So selbstverständlich sich dieser älteste Monismus vorkam, so war er nicht die einzige philosophische
Denkweise des 6. Jahrhunderts. In Pythagoras und
den Pythagoreern tritt uns eine durchaus dualistische Auffassung
entgegen, deren Grundgefühl in der späteren griechischen Philosophie
durchaus dualistische Auffassung entgegen, deren Grundgefühl in der
späteren griechischen Philosophie durchaus überwog. Bei den Pythagoreern
lassen wir Seelenwanderung und Dämonenglauben ganz beiseite, sie kamen
ihnen nicht aus ihrer Philosophie, sondern sofern sie zugleich ein
kultischer Verein waren. Pythagoreisch-orphische Mysterien erhielten
sich in Unteritalien und gewannen Verbreitung. Sofern nach Pythagoras
die Mitglieder seines Bundes sich besonders mit Mathematik, Musik und
Gymnastik beschäftigen sollten, ist anzunehmen, daß er der Mathematik
eine versittlichende Wirkung zuschrieb, was auch Pestalozzi tat. In der Mathematik großgenährt, glaubten nach Aristoteles
die Pythagoreer in der Arithmetik viele Ähnlichkeiten mit dem zu
bemerken, was ist und geschieht. Außerdem sahen sie noch die
Eigentümlichkeiten und Verhältnisse der musikalischen Harmonie in den
Zahlen. Daher entstand ihnen die Ansicht: Die Elemente der Zahlen sind
die Elemente der Dinge, das ganze Weltgebäude ist Harmonie und Zahl.
Um
die Dinge kennen zu lernen, mußte man also die Zahlen betrachten. Die
Elemente der Zahl sind das Gerade und Ungerade; das Ungerade ist Grenze
oder Begrenzendes, dagegen das Gerade ist das Unbegrenzte, weil es sich
durch 2 in gleiche Teile zerlegen läßt. Das Eins gehört zu beiden, denn
zum Geraden gesetzt, macht es ungerade, zum Ungeraden gesetzt, macht es
gerade. Das Gerade, auch wenn vom Ungeraden begrenzt, gibt dem Seienden
die Unbegrenztheit. Dem Unbegrenzten gehört das Übel an, dem Begrenzten
das Gute. Auf die Seite des Unbegrenzten stellten manche auch das Viele,
das Dunkel, das Bewegte, das Weibliche, das Linke; auf die Seite der
Grenze das Eins, das Licht, das Ruhende, das Männliche, das Rechts.
Manche bildeten noch weitere Gegensätze
wie unten und oben, vorn und hinten. Die Zahl selbst rechneten sie nur
bis 10; was über 10 war, galt bloß als Wiederholung. Die Zehnzahl ist
vollkommen und faßt alle Beschaffenheiten der Zahlen in sich. Mit der
Vierzahl ist es ähnlich; sie ist die erste Quadratzahl und
zusammengezählt mit den voraufgehenden Zahlen macht sie die Zehnzahl
aus.
Daß sie von dieser Zahlenlehre Anwendung auf die Geometrie machten,
zeigt, daß nach ihnen der Begriff der Linie aus der Zweizahl besteht,
aber auch andere Begriffe definierten sie durch Anschluß an die Zahl.
Die Gerechtigkeit
war ihnen Quadratzahl, weil auf beiden Seiten bei ihr Gleiches steht
oder stehen soll (was einer getan hat, soll er wieder leiden). Die
Hochzeit ist Fünfzahl, denn 5 = 3 + 2 ist die Verbindung der ersten
männlichen mit der ersten weiblichen Zahl.
Mit Benutzung dieser Lehren dachten sie sich die Weltbildung so: Von der
Ureins wurde das Nächste des Unbegrenzten angezogen und durch das Eins
begrenzt. So bildete sich das Weltall als eine Kugel. Das Ureins ist die
Mitte des Weltalls, das Zentralfeuer, die Hestia, die Wache des Zeus.
Das Feuer ist nämlich wertvoller als die Erde, darum gebührt ihm die
geehrte Stelle, die Mitte. Um das Zentralfeuer bewegen sich zehn
Himmelskörper; am fernsten von der Mitte der Fixsternhimmel, dann die
fünf damals bekannten Planeten, weiter Sonne, Mond, Erde. Dies sind
neun. Die Vollkommenheit verlangt aber zehn; es gibt noch eine
Gegenerde, die unserer Erde gegenüber liegt und sich um die Weltmitte,
der Erde folgend, bewegt. Sie wird von uns nicht gesehen, weil der
Erdkörper uns daran hindert und wegen der Gegenerde sehen wir auch das
Zentralfeuer nicht. Die Erde selbst bewegt sich als einer von den
Sternen um die Mitte und bewirkt durch ihre Lage zur Sone Tag und Nacht.
Nach der Erde kommt der Mond, dann die Sonne usw. Sonne Mond und Sterne
bewegen sich mit ungeheurer Geschwindigkeit; dabei entsteht notwendig
ein gewaltiger Ton. Diese Geschwindigkeiten haben infolge der Abstände
die Verhältnisse von Symphonien; daher sind die Töne der im Kreis sich
bewegenden Sterne harmonische (Sphärenharmonie). Wir hören diese Töne
nicht, weil wir sie von Geburt an gewöhnt sind, wie ja auch den
Bewohnern der Schmiede das Hämmern nicht mehr merklich wird.
Der Umkreis der Welt ist wieder Feuer. Jenseits desselben liegt das
Unbegrenzte und der unbegrenzte Hauch. Aus dem Unbegrenzten wird
eingeführt in die Welt ihr Atem, die Zeit und das Leere, welches die
Plätze der einzelnen Dinge immer begrenzt. Einige hielten die Kometen
für einen Planeten, der aber immer nur nach längerer Zeit erscheine.
Die Seele ist Harmonie; nach Einigen waren die Seelen Sonnenstäubchen, welche in der Luft herumfliegen.
Das ist, was man, Aristoteles folgend, als die
Philosophie der Pythagoreer bezeichnen kann. Außer den Beobachtungen
zur Zahlenlehre liegt hier die Ahnung vor, daß die Zahl von maßgebender
Bedeutung in der Welt sei; noch mehr beherrschen sie gewisse Wertgefühle, den Zahlen und den Dingen gegenüber, welche ja nach ihnen aus Zahlen bestehen. Daß nämlich im Sittlichen und in der Natur
das Wertvolle im Maß und in der Begrenzung bestehe, ist bei ihnen aus
der griechischen Volksüberzeugung hervorgegangen ("Nichts zu viel", "Maß
ist das Beste"; die olympischen Götter halten Titanen und Giganten =
unbändige Naturkräfte gebändigt) und ist griechische Überzeugung
geblieben. Daß im Menschen und in der Natur ein Element des Maßlosen
sei, welches von Gott in der Naturordnung gleichsam für überwunden
gehalten werde und im Menschen durch Vernunft und Bildung stets neu zu
überwinden sei, wird sich auch als Überzeugung des Plato und Aristoteles herausstellen. Philosophen, die durch die Wertgefühle
im Hintergrund ihrer Lehren wirken, werden uns bis zur Neuzeit
wiederholt begegnen; die Pythagoreer sind das erste Beispiel dazu.
Alkmäon, ein Arzt aus Kroton, ein jüngerer Zeitgenosse des Pythagoras,
erklärte das Gehirn für den Mittelpunkt der Empfindungen, denn dorthin
führten aus den Sinneswerkzeugen Wege, Gänge. Vom Nicht-Sinnenfälligen
haben nach ihm die Götter allein deutliche Erkenntnis, als Menschen
haben wir bloß Vermutung darüber. Es konnte also in der Nähe der
Pythagoreer und unter Anregung durch sie sehr reelles Wissen aufkommen.
Die erste Anregung zur eleatischen Philosophie ist von Xenophanes
ausgegangen, einem Dichter aus Kleinasien (6. Jahrhundert), der sich im
Alter in Elea in Unteritalien niederließ. Auf ihn geht die Formel
zurück, daß alles Eins sei. Dieses Eine war ihm Gott. Wie er das genau
meint, darüber hatte er sich nicht näher erklärt. Man kann in ihm auch
das erste Aufdämmern kritizistischer Philosophie sehen, denn nach seinen
poetischen Fragmenten weiß das Gewisse über die Götter und Dinge kein
Mensch; träfe jemand selbst das vollkommen Richtige in seiner
Behauptung, so weiß er das doch selbst nicht; Meinung (subjektive
Überzeugung) herrscht in allem. Mit anderen Worten: wir haben immer nur
unsere menschliche Überzeugung von den Dingen, können der Dinge selbst
(an sich) als Dinge nicht habhaft werden. Fries hätte das geradeso ausdrücken können. Skeptiker wollte Xenophanes damit nicht sein; es gibt Forschung und einen Fortschritt,
mit der Zeit erkennen die Menschen durch Forschung die Wahrheit besser.
Einen solchen Fortschritt will er selbst bringen mit der Lehre, daß die
Götter nicht geworden sind, so wenig wie sie sterben. Ein Gott ist der größte; das Beste kann nur eines sein. Dieser eine
Gott sieht ganz (nicht bloß wie wir mit einem Teil von uns), denkt
ganz, hört ganz, unbewegt bleibt er im nämlichen Ort und ohne
Anstrengung schüttelt er alles mit dem Gedanken seines Geistes. Offenbar
ist Xenophanes bestrebt, Gott als Geist zu
bezeichnen und daß die Götter nicht sterben (nach griechischer
Auffassung ihr Hauptmerkmal gegenüber den Menschen als Sterblichen),
führte ihn wohl auf den Gedanken: sie sind Leben in sich, dann entfiel
aber auch die Entstehung der Götter. Diese Entstehung gehörte zu den
Vorstellungen der Menge und der Dichter, die nach Xenophanes ja auch den Göttern alle menschlichen Leidenschaften zuschrieben.
Aus diesen Anregungen heraus hat der Schüler des Xenophanes, Parmenides
aus Elea (um 500), die eigentliche eleatische Philosophie gebildet, die
sich im Gegensatz zur Sinnen- und Volkstradition auf die Vernunft
berief und als obersten Satz proklamierte: das Seiende ist und es ist
unmöglich, daß es nicht ist. An diesem Satz muß man festhalten und
nichts vom Seienden aussagen, was mit dem "ist" nicht stimmt. Daher ist
vom Seienden alles Werden ausgeschlossen, alles Entstehen und Vergehen,
denn Werden schließt stets ein Nichtsein ein, was wird, ist ja noch
nicht, das Seiende
aber ist seiend und in keiner Weise nichtseiend. Weiter sind vom
Seienden alle Arten der Veränderung und Bewegung ausgeschlossen, denn
diese schließen immer ein Werden ein, das Seiende aber ist
nur. Als frei von Werden und Veränderung ist das Seiende unentstanden
und unvergänglich, unbewegt, unteilbar, also ganz auf einmal und ganz
sich ähnlich. Das sind die direkten Bestimmungen, abgeleitet aus dem
Urteil: das Seiende ist. Parmenides argumentiert
aber auch noch indirekt. Entweder ist das Seiende oder es ist nicht. Das
letztere ist unwahr, also gilt jenes. Das Seiende kann aber nicht
entstanden sein, aus Nichtseiendem ist ein Entstehen nicht denkbar,
welche Notwendigkeit hätte es auch früher oder später dazu bringen
sollen? Aus Seiendem aber kann nichts werden, außer ihm selbst. Ein
Wachsen des Seins gibt es nicht; das Seiende ist ganz sich selbst
ähnlich, es ist nicht etwas mehr an ihm Sein oder weniger, entweder ist
das Sein ganz oder gar nicht. Dieses Seiende ist das Volle, die
raumerfüllende Masse; Parmenides vergleicht es einer schön gerundeten Kugel.
So ist das Seiende nach der Vernunft, so ist es in Wahrheit. Wenn
dagegen die Sinne ein Vieles, Veränderliches, Bewegtes etc. zeigen, so
ist das Schein. Gleichwohl behandelt Parmenides diesen Schein wie eine Art Realität
und lehrt darüber: das All besteht aus Licht und Nacht, das Licht
entspricht dem Seienden, die Nacht dem Nichtseienden. Auch Feuer und
Erde soll er die Gegensätze genannt haben. Von den konzentrischen
Kreisen, aus denen das Weltgebäude besteht, sind der äußerste und der
innerste reines Feuer; die mittleren, gemischt aus Feuer und Dunklem,
sind der Sitz der Gottheit, die alles lenkt; als den ersten von allen
Göttern ersann sie den Eros, ihre gewaltige Macht zeigt sie in der
Erzeugung. Im Menschen ist die Beschaffenheit der Glieder dasselbe, was
denkt; je nachdem Licht oder Dunkel überwiegt, ist der Verstand ein
anderer; alles Seiende hat eine Art Erkenntnis; der Tote empfindet noch
das Kalte und das Schweigen.
Man kann des Parmenides Gedanken so mit Xenophanesvermitteln: wie dieser aus dem Nichtsterben der Götter die Folgerung
zog, daß sie Leben in sich seien, also auch nicht entstanden sein
konnten, so faßt Parmenides Sein, das doch von
allen angenommen wird, im prägnanten Sinne und dann ergibt sich ihm nach
formal-logischen Regeln, die er preßt (Sein ist Sein, also nicht
Nichtsein, also nicht Werden, es gibt keinen Grund das Sein entstanden
zu denken früher oder später), seine Ausrechnung. Aber warum hat er, der
doch auch für den Schein eine nähere Auslegung suchte, allerlei
Beobachtungen folgend, warum hat er sich nicht gesagt: wenn es nur ein
Sein gibt, so muß der Schein doch wieder in diesem bestehen. Das erklärt
sich aus dem, was überliefert ist, daß die alten Eleaten wegen ihres
frommen und sittenreinen Wandels sehr geachtet waren. Es ist in ihnen
der Zug, der in Plato und im Neuplatonismus so
stark hervorbrechen wird, ein Zug aus der Buntheit und Bewegtheit der
Sinnenwelt in etwas Ewiges und Unveränderliches. Sobald sie diesem
Gefühl argumentierend Genüge getan hatten, beruhten sie im Gefundenen,
gerade wie wir bei der indischen Vedantaphilosophie etwas Ähnliches
finden werden, nach der es bloß einen Allgeist gibt und alles Einzelne und Nichtgeistige Täuschung ist, die doch nur im Allgeist entstanden sein würde.
Was man dem Parmnenides an Einwürfen entgegenstellte, kann man sich aus dem abnehmen, wie der Schüler desselben, Zenmo aus Elea (im 5. Jahrhundert, aber älter als Sokrates),
seinem Lehrer zur Hilfe beibrachte. Die Welt des Vielen, Bewegten,
Veränderlichen ist die Welt unseres Lebens, ihr gegenüber konnte des parmenides Sein als ein Traumbild erscheinen. Zeno nun getraut sich von der angeblichen Sinneswirklichkeit zu zeigen, daß sie, so genommen wie man sich sinnlich auf sie berufe, mit dem Denken, das man nicht leugnen könne, nicht faßbar zu machen sei:
1. Ein Scheffel Hirse soll nach der Sinneswahrnehmung beim Herabfallen einen Ton hervorbringen, dann müßte aber auch eine Hirse und der tausendste Teil einer Hirse einen Ton hervorbringen.
2. Alles nach den Sinnen Seiende ist in etwas; was in
etwas ist, ist in einem Raum; dieser Raum als sinnenwirklich müßte also
selbst wieder in einem anderen Raum sein und so fort ohne Ende.
3. Gäbe es viele Seiende, so müßte jedes einzelne
derselben entweder größenlos sein oder unendlich groß, was beides mit
der Sinneswahrnehmung in Widerspruch steht. Als streng eins würde jedes
Seiende unteilbar, also größenlos sein, was der Sinneswahrnehmung
entgegen ist. Als mit Größe gedacht würde aber jedes Seiende nach der
Geometrie ohne Ende teilbar sein, also selbst aus unendlich vielen
Größen bestehen müssen, was wieder gegen die Sinneswahrnehmung ist.
4. Bewegung ist nicht denkbar zu machen; denn gäbe
es Bewegung, so müßte das sich Bewegende in endlicher Zeit unendliche
Raumpunkte durchlaufen, da er Raum, auch der kleinste, nach der
Geometrie unendlich teilbar ist.
Die Bilder, in welche Zeno seine Einwände gegen die Denkbarkeit der Bewegung brachte, Achilles
kann die Schildkröte nie einholen, der fliegende Pfeil ruht, die halbe
Zeit ist gleich der doppelten, dürfen wir übergehen, da das Angeführte
genügt, um zu erklären, warum die Argumente Zenos bis auf die neueste Zeit Eindruck gemacht haben und einige dieser Bilder selbst Einwendungen ausgesetzt sind.
Der letzte der großen Eleaten, Melissos von Samos
(Mitte des 5. Jahrhunderts), zeigt, daß man als Eleate auch schwach im
Argumentieren sein konnte. Es gibt nach ihm ein Sein; "wie käme man
sonst dazu, von einem solchen zu reden; alles Reden und Denken bezieht
sich immer auf ein Sein". Wir würden sagen, Melissos geht vom common sense aus, oder, wie Aristoteles
sich ausdrücken würde, von den Endoxa, von dem, was in der gewöhnlichen
Meinung, ohne tiefere Untersuchung, als wahr angenommen wird. Dafür,
daß dieses Sein ewig, ohne Anfang und Ende sei, beruft sich Melissos darauf, daß das Gegenteil undenkbar sei, er behauptet also von allem
Sein, was nur etwa so ausgedrückt werden müßte: nicht alles Sein kann
erst entstanden sein. Dieses ewige Sein, weil ohne Anfang und Ende, ist
nach Melissos ebendamit von unendlicher Größe; diese Folgerung aus der zeitlichen Anfangs- und Endlosigkeit auf die unendliche Größe hat Aristoteles mit Recht schwer getadelt; es kann etwas ewig sein, ohne überhaupt Größe zu haben. Erst aus der unendlichen Größe schließt Melissos
auf die Einheit des Seins, denn "zwei Unendliche kann es nicht geben;
als verschieden müßten sie voneinander getrennt sein, also Grenzen
gegeneinander haben wären also nicht unendlich". Interessant ist, daß Melissos argumentiert: "auch dem Schmerz
ist das Sein genommen; hätte es Schmerz, so müßte es seiner Einheit
wegen ganz Schmerz sein, so etwas könnte aber nicht ewig sein". "Wären
die Sinneswahrnehmungen
wahr und richtig, so müßte das Wahrgenommene sich nicht verändern,
sondern so bleiben, wie und wo es uns zuerst erschien. Dann wäre es
nämlich entsprechend dem Begriff des Seienden. Die Veränderung zeigt die
Unwahrheit der Sinnesdinge, denn da geht das Seiende verloren und das
Nichtseiende wird, was beides vor dem Denken unmöglich ist." Diese
Argumentation zeigt, worauf es den Eleaten ankam: ewiges
unveränderliches Sein und dies konnte nicht Schmerz sein. Im Gedanken
eines solchen war ihr Denken und ihr Gefühl zugleich beruhigt.
Bis hierher waren alle Lehren der betreffenden Männer zu berücksichtigen, weil man aus ihnen ersehen kann, wie Wissenschaft
und Philosophie sich in ihren ersten Anfängen bei den Griechen
entwickelten. Zur Wissenschaft gehören die Einzelauffassungen aus der
Erfahrung bei allen diesen Männern, die Beobachtungen über Zahlen bei
den Pythagoreern, das mächtige Gefühl vom Denken bei den Eleaten und
seine Verwendung zur Kritik der Erfahrung,
d. h. der Sinneserscheinungen selber. Zur Philosophie gehört der Zug,
der bei allen ist, etwas Sicheres aufzustellen und mit diesem eine
Gesamtweltansicht zu geben. Dieses Sichere aber ist bei diesen Männern
verschieden: bei den erstbehandelten die Transformation eines
Urelementes in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, bei den
Pythagoreern die Zahlenauffassung der Dinge verbunden mit Wertgefühlen,
die sich ihnen an die Zahlen anschlossen, bei den Eleaten das Denken im
Unterschied von den sinnlichen Erscheinungen mit der Richtung des
Denkens auf etwas Ewiges und Unveränderliches, vor dem die Erscheinungen
zu bloßem Schein, d. h. zu einem Nichtseienden gemacht werden, ohne daß
man sich um die Herkunft dieses Scheins selbst kümmert. Es sind also
von Anfang an ganz verschiedene Richtungen des Philosophierens und jede
tritt, als müßte das nur so sein, mit genialer instinktiver Sicherheit
auf. Von jetzt an können wir uns mehr an den Wissensbegriff als solchen
halten, nur so, daß die Einzellehren, worin seine Eigentümlichhkeit
besonders hervortritt, bemerkbar zu machen sind.
aus Julius Baumann, Der Wissensbegriff, Heidelberg 1908
Nota.
Die Überschrift ist irreführend, denn über das Wissen selbst hatten die Vorsokratiker ja nicht nachgedacht, sondern lediglich Meinungen gehabt, nämlich doch anscheinend alle mehr oder weniger die: dass es die Vernunft der Menschen sei, die über die Richtigkeit dieser oder jener Meinung zu entscheiden hat. Zwar hat keiner von ihnen ein Lehrgebäude aus Argumenten und Gegenargumenten errichtet, aber die Eleaten und der hier gar nicht erwähnte Heraklit polemisieren durchaus gelegentlich gegen widersprechende Auffassungen und geben mithin zu verstehen, dass man die richtige Meinung durch Prüfung der angeführten Gründe erkennt - und folglich das eigene Urteil die letzte Instanz des Denkens ist.
Wir nennen sie Vorsokratiker, weil der endgültige Durchbruch dann bei Sokrates erfolgt - jedenfalls bei dem 'Sokrates', den Plato in seinen Dialogen auftreten lässt. Die Dialogform, später als Dialektik formalisiert, ist selber ein Anführen, Prüfen und Beurteilen von Gründen. Ein Wissen, das daraus hervorgegangen ist, heißt επιστημη, epistêmê, im Unterschied zum bloßen Meinen, der δοξα, dóxa.
Damit gilt der Übergang vom mythischen, vorphilosophischen Zeitalter zum Zeitalter der Wissenschaft als vollzogen, wenn auch bei Plato und Aristoteles und weit bis in die Neuzeit hinein mythische und selbst animistische Anschauungen immer und immer wieder ins Denken hineinspielen, selbst in die gegenwärtige Kosmologie. Das Entscheidende ist aber: In einem weltweiten System der Wissenschaft müssen sie sich allezeit einem nach Dauer und Ausdehnung grenzenlosen Dialog stellen, in dem früher oder später Gründe den Ausschlag geben werden.
JE