Dienstag, 31. Juli 2018

Wissenschaft, gesunder Menschenverstand und die Vernunft.

Sebastian Bremer, pixelio.de

'Wissenschaft' unterscheidet sich von andern Weisen des Meinens darin, daß sie ein auf seine Gründe hin über- prüftes Wissen ist... Die Überprüfbarkeit ("Falsifizierbarkeit", nach Popper) ist ihr kardinaler pragmatischer Un- terschied zu anderem Meinen: Sie ist Bedingung der Mitteilbarkeit. Nur wenn mein Wissen auf 'Gründen' be- ruht, kann ich es einem andern vermitteln: ihm die Gültigkeit meines Wissens "andemonstrieren"! Ich muß in der Begrü ndungskette meines Wissens einen 'Punkt' ausmachen, der dem andern bereits 'als gewiß bekannt' ist (Wittgenstein). Daran kann ich anknüpfen und aus ihm Schritt vor Schritt mein Wissen "her leiten". Daher sind die Sätze 'Wissenschaft ist begründetes Wissen' und 'Wissenschaft ist diskursives Denken' [nicht umkehrbar] gleichbedeutend. D.h. wirkliche Wissenschaft ist schlechterdings nie "voraussetzungslos", sondern argumentiert immer ex concessis; denn "irgendwo muß man ja anfangen". [nach Kant: wirkliches Wissen ist immer dogma- tisch; aber noch lange nicht dogmatistisch]

Das heißt aber auch, daß 'wissenschaftliches Denken' die Gegebenheit von Wissenschaft als einer kulturellen Dimension (gesellschaftliches Institut) allbereits voraussetzt; d.h. die Vorhandenheit einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Denn wenn mein Anderer, dem ich das Wissen, das ich selber 'eingesehen' habe, andemonstrie- ren will, mir bereits solche 'Gründe' konzediert, die lediglich plausibel sind, dann enthebt er sich und ipso facto mich der Prüfung der einander zugegebenen Gründe; so ist das vielleicht immer noch 'wahres' Wissen; aber nicht Wissenschaft: Wissenschaftlichkeit ist eine Weise der Darstellung - Darstellung "für" einen Andern (und wenn der 'Andre' auch ich selbst: mein kritisches Alter ego wäre...)

Notabene: In nichts unterscheidet sich der gesunde Menschenverstand von der Wissenschaft als darin, dass er es nicht an jeder Stelle und in jedem Moment mit dem Überprüfen der Gründe so genau nimmt. Was nicht zur Sa- che gehört, kann übergangen werden, doch so hält es die Wissenschaft selber. Der Unterschied ist letzten Endes doch nur, dass der Wissenschaftler - zumindest, soweit er weiß - nur das Wissen selbst zum Zweck hat, während sich der gesunde Menschenverstand mit unsern Alltagsgeschäften abplagt; da muss er und kann aber auch mal mit dem Ungefähr vorlieb nehmen.  

In beiden Reichen herrscht der Verstand. Verstand beurteilt die Zweckmäßigkeit der Mittel. Wenn ein ungefähres Ergebnis ausreicht, dann reicht auch ein ungefähres Verfahren, und so ist es im wirklichen Leben. Vernunft dage- gen fragt, bevor sie die Mäßigkeiten prüft, nach den Zwecken selbst. Die Zwecke selbst jedoch erschöpfen sich nicht in den unmittelbaren Nützlichkeiten. Und dies, wie wir alle wissen, im gewöhnlichen Leben noch seltener als in der vornehmen Wissenschaft.



Montag, 30. Juli 2018

Ende der wissenschaftlichen Öffentlichkeit?

tagesspiegel.de

Die aktuelle Klage über den Verfall der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ist etwas schrill; so als sorgte sich jemand um seine Jagdgründe. Das gibt zu denken. Nicht Öffentlichkeit an sich ist ja bedroht; das wird, seit es das Internet gibt, nicht so leicht geschehen. Bedroht sind die akademisch beglaubigten Fachöffentlichkeiten, die in dem Maß, wie die Fachverlage ihr Privileg einüßen, an Glaubwürdigkeit verlieren.

Aber vielleidcht ist das nicht das Schlimmste, was der Wissenschaft passieren kann. Veröffentlicht wird mittler- weile alles, was einer veröffentlicht haben will. Wer kann ihn daran hindern? Wer aber veröffentlichen will, um gelesen - und kritisiert - zu werden, hat das Problem, sachkundige Leser zu finden. Die sachkundigen Leser wis- sen aber inzwischen, dass nicht alles, was in sehr teuren Journalen gedruckt wird, die Mühe des Lesens lohnt. Oder anders: Die Journale garantieren nicht mehr die wissenschaftliche Qualität.

Daraus folgt zunächst nur dies: Um sie wäre es nicht schade.

Zweitens folgt daraus: Wenn nicht die Quelle Seriosität verbürgt, dann müssten es die Suchmaschinen tun. Drittens: Wie bei Wikipedia, wird es bei wissenschaftlichen Suchmaschinen eine Weile dauern, bis man ihnen vertrauen kann. Und sogar noch sehr lange, wenn nicht bald ein Anfang gemacht wird. 


Wo sind aber die, die ein solches Wagnis unternehmen wollten?

An der Frage wird man beurteilen müssen, wie ernst die derzeitige Klage über den Zerfall wissenschaftlicher Öffentlichkeit gemeint ist. 




Sonntag, 29. Juli 2018

Die einfachsten Dinge.


6 Der Taschenspieler und sein Widerspiel.— Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissen- schaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die "einfachsten" Dinge sind sehr complicirt,—man kann sich nicht genug darüber verwundern!
___________________________________
Fr. Nietzsche, Morgenröte, Buch 1, 1881 





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE   

Freitag, 27. Juli 2018

Hat Vernunft einen Zweck?

Rainer Sturm, pixelio.de 

Es soll Vernunft geben, damit Öffentlichkeit herrschen kann.

aus e. Notizbuch,im August 2008 

Es soll Vernunft herrschen, damit es Öffentlichkeit geben kann.
Nur wo Öffentlichkeit sein soll, muss Vernunft herrschen.
In der Öffentlichkeit kann nur Vernunft herrschen.
Wo Vernunft herrschen soll, muss Öffentlichkeit sein.
 
15. 2. 16 

Donnerstag, 26. Juli 2018

Vernunft ist unbegreiflich.

Erich Westendarp, pixelio.de  

Vernunft ist praktisch. Theoretisch ist sie nicht fassbar, denn dazu müsste sie bedingt* sein. Sie ist aber durch Freiheit möglich. 

Sie ist aber auch nicht "unbedingt", das lässt nur der Klang der Wörter vermuten. Denn sie ist gar nicht, sondern geschieht. Nämlich als das Wozu eines Akts. Der wiederum ist durch Freiheit möglich, und wo sie wirkt, entsteht ein Fakt. Ein Fakt ist unbegreiflich.

*) d. h. durch Begriffe bestimmbar, und das heißt: logisch. Aber das Fassen unter Begriffe muss die Vernunft erst selbst besorgen.

28. 6. 14

Manchmal leistet sich auch ein besonnener Autor eine Caprice. Vernunft ist die gedankliche Abstraktion von Vernünftigkeit, und die ist keine Sache, sondern ein tätiges Verhalten. Vernünftig handelt ein Ich, sofern es sich seine Zwecke selber setzt. Dazu muss es die Zwecke in Begriffe fassen. Nicht die Begriffe bilden Vernünftig- keit, sondern Vernünftigkeit fasst Begriffe. Mehr ist rhetorischer Schnörkel.


 

Mittwoch, 25. Juli 2018

Der transzendentale Mythos.

Léon Bonnat, Jacob ringt mit dem Engel

Eines ist in der Geschichte ganz bestimmt nicht vorgekommen: dass ein bloßes geistiges "Vermögen", ohne einen körperlichen Träger und ohne irgendwelche physiologische Vorerfahrung rein und unbescholten in die Welt getreten wäre und sich spontan zur Selbst-Bestimmung entschlossen hätte. Und doch lässt sich der Sinn unserer Gattungsgeschichte nicht anders als im Bild dieses Akts darstellen. Dieses Bild hat selber keinerlei posi- tiven Erkenntniswert, man kann daraus nichts schlussfolgern, es lässt sich in keinen wie immer gearteten Denk- vorgang als Operator einbringen. Sein Wert ist ausschließlich "regulativ" und kritisch: Es soll uns vor dogmatisch spekulativen Abwegen in Acht nehmen. Gerade das ist es aber, was der Pädagoge braucht, damit er nicht etwa auf die Idee kommt, dass nur durch ihn der Mensch zum Menschen wird. 

Wenn dann das uns überlieferte Bedeutungsgeflecht 'Welt' in der Geschichte einmal zu Stande gekommen ist, dann kommt es so jeden Tag neu zustande – wenn nämlich ein Neuer "zur Welt kommt". Und meine Welt ist dann keineswegs nur die individuelle Empfängnis von 'unserer' Welt, sondern mein eignes Bauwerk, in das ge- gebenes Material ebenso eingegangen ist wie mein eigner 'Plan'; und wenn der Plan auch an fremden Vorbil- dern orientiert sein mag, so habe ich mich doch für ihn entscheiden müssen. ...  

aus e. Notizbuch, in 2004? 


Das ist das Bild von einem Bild. Das abgebildete Bild ist die Wissenschaftslehre, die Abbildung ist ein Mythos. Wenn er das abgebildet Bild kenntlich macht, dann ist er so gut wie jenes. Wie gut jenes ist, lässt sich nur an ihm selbst erweisen. Aber das Bild vom Bild zeigt an, in welche Richtung man schauen soll, denn die ist sein sensus; Sinn. Es ist nicht eine überflüssige Verdoppelung, sondern seine Pointierung. Es ist nicht selber Philosophie, sondern Interpretation der Philosophie: Metà-Philosophie. 







Dienstag, 24. Juli 2018

Ist Gott eine moralisch-heuristische Fiktion?

Günter Havlena, pixelio.de

Sein Begriff ist blos eine Idee zum Behuf gewisser Grundsatze.
______________________________________
Kant, Opus postumum, 1. Konvolut, S. 048 


Nota I.
Platz für den Glauben hat er schaffen wollen, aber dann holt ihn das kritische Gewissen doch immer wieder ein.

21. 9. 15

Nota II. - Allein als Bürgen für eine sittliche Weltordnung hat Fichte Gott gelten lassen wollen - und sich prompt den Ruf eines Atheisten eingefangen, weil er ihn als Schöpfer aus der Welt verbannt hatte. Und zwar nicht so, dass man an Gott glauben müsse, um die Grundsätze der Sittlichkeit glauben zu können, sondern andersrum: Wer selber in sich Sittlichkeit hervorgebracht habe, glaube ipso facto an Gott, weil anders die letztendliche Herrschaft der Sittlichkeit nicht verbürgt sei.

Sein Argument ist verschroben. Wer sich einen Zweck setze, müsse ihn der Logik wegen für erreichbar und folglich zu irgendeinem künftigen Zeitraum als erreicht annehmen.

Was die formale Logik hier verloren habe, ist nicht zu erkennen. Sittlichkeit handelt von Zwecken, und die werden aus Freiheit gewählt und haben mit notwendigen Schlüssen nicht zu tun. Die materiale Logik aber widerspricht ihm geradezu: Der sittliche Zweck besteht im Rechttun selber und nicht in der Ausführung dieses oder jenes Werks. Das hat der Lutheraner Fichte natürlich gewusst, und dass er es an dieser Stelle übergeht, kann nur mit gedanklichen Skrupeln erklärt werden. 

Das Ich, hat er uns erklärt, findet sich vor als wollend. Es schaut sich an als bestimmt, nämlich zum Wollen. Wollen heißt bestimmen wollen; er schaut sich also an als bestimmen sollend. Er soll frei sein - das ist dasselbe. Handeln gemäß selber bestimmter Zwecke heißt Vernunft. Auf die Sittlichkeit des Bestimmens kommt es hier an, denn die allein verantwortet der Bestimmende. Ein Bestimmtes gibt es stets nur vorüber- gehend: denn sittlich ist immer nur das Fortschreiten im Bestimmen. Da gibt es schlechthin kein letztes Ende.

An welcher Stelle das vernünftige sittliche Ich einen Bürgen für seinen Erfolg nötig hätte, ist unerfindlich, und wer einen solchen braucht, hat noch viel an sich zu arbeiten. Als moralisch-heuristische Fiktion ist Gott so überflüssig, wie er als Schöpfer undenkbar ist. 
JE



Montag, 23. Juli 2018

Bedeutungen sind keine Eigenschaften.



Bedeutungen sind keine Eigenschaften von Sachen, sondern Handlungsmöglichkeiten eines Subjekts. Grün ist nicht der Baum; sondern wenn ich ihn sehe, sehe ich ihn so. Ich kann ihn auch groß oder klein sehen oder nah oder fern - aber stets so und nicht anders. Dass ich nicht anders kann, mag wohl irgendwie an ihm liegen. Aber stets bin ich es, der nicht anders kann.  

21. 4. 15 

Wie kommt der Mensch zu einer Handlung? Indem er eine Absicht fasst und sie ausführt. Die Zweckhaftigkeit entsteht nicht während der Ausführung, sondern geht ihr voraus. Die Bedeutungen, Merkmale oder Eigen- schaften der Dinge sind, so wie sie im Begriff zusammengefasst sind, denkbare Zwecke eines Handelnden. Der Zweckbegriff ist nach Fichte der genetische und generische Ursprung allen Begreifens.






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Sonntag, 22. Juli 2018

Ästhetik und Erkenntnis.

Gravitationswellen

Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 18. 6. über eine Tagung zum 25. Jubiläum des Potsdamer Einstein-Forums zur Ästhetik der Erkenntnis.

Hier mein Kommentar:

Das sind in Wahrheit zwei Fragen, die unmittelbar gar nicht zusammenhängen. Das eine ist, ob ein Forscher nicht gut daran tut, wenn er vor einem neuen, großen Problem zuweilen in den ästhetischen Zustand abtaucht und die Reflexion einstweilen abschaltet - und so vielleicht zu einer Erleuchtung kommt. Ein anderer trinkt einen Kaffee oder zieht sich eine Linie. Das ist eine heuristische Frage und ist rein pragmatisch zu beantworten. Den Kopf freimachen und die Einbildungskraft spielen lassen wird immer nützen. Dass aktive Forscher darüber miteinander reden, ist vielleicht nützlich, aber ein irgendwie allgemeineres theoretisches Interesse kann es nicht beanspruchen. Immerhin lehrt die Erfahrung: Sobald die neugierige Anschauung des Forschers zur analyti- schen Reflexion und zu den empirischen Details übergeht, treten die Begriffe wieder in ihr Recht und ist die Schönheit regelmäßig wieder perdü.

Das andere ist die erkenntnislogische und gar metaphysische Frage, ob wissenschaftliche Erkenntnis und ästhe- tisches Erleben letzten Endes womöglich "aus demselben Stoff gemacht" sind.

Da muss man schon etwas weiter ausholen.

Die empirische Psychologie kennt das Faktum der Gestaltwahrnehmung. Es ist ein Phänomen, das sowohl dem ästhetischen Erleben als auch der Kognition angehört: dass nämlich schon die rein sinnliche Wahrnehmung - sehen und hören - nicht aus dem Zusammensetzen einzelner Reize besteht, die erst vom reflektierenden Ver- stand zu sinnvollen Ensembles zusammengestzt werden, sondern dass umgekehrt schon das sinnliche Warh- nehmen selbst "von sich aus" in der strukturlosen Masse der Sinnesreize nach bedeutungsvollen Figuren sucht, die die einzelnen Reize zueinander 'in Beziehung setzt' und dadurch eigentlich erst identifizierbar macht.


Dass unser Gehirn so verfährt, ist offenbar eine stammesgeschichtliche Erwerbung. Es besagt nur, dass unsere Gattung damit bislang immer ganz gut gefahren ist. Über die Natur der Dinge oder über die Wahrheit unseres Wissens lehrt es uns gar nichts.

*

Bevor wir uns in den Fallstricken unserer vorgefertigten Begriffe verheddern, dies: Von der Natur der Dinge wissen wir gar nichts und können nichts wissen. Wir wissen nur das, was in unserm Bewusstsein vorkommt - das ist eine Tautologie, beide Ausdrücke bedeuten dasselbe. In unserm Bewusstsein stecken aber kein Dinge, sondern nur Vorstellungen von Dingen. Allenfalls könnten wir mittelbar etwas von den Dingen wissen, so- fern wir Grund zu der Annahme haben, dass den Vorstellungen in unserm Kopf etwas an oder in den Dingen außerhalb unserer Köpfe entspricht. Diese Frage also gilt es zu klären, und danach können wir an die Prüfung der Frage gehen, was wir von den Dingen wissen. Tiefer werden wir in die Wahrheit nicht eindringen.

Wenn wir also die Dinge vorderhand nicht nach ihrem Wesen unterscheiden können, können wir sie doch beob- achtend danach unterscheiden, wie sie in unser Bewusstsein hineinkommen: "nach Schönheit" oder "nach Wahr- heit"? Auch hier kommen wir mit vordefinierten Begriffen nicht weiter. 'Was ist Wahrheit?' fragte Pontius Pilatus, und 'Was ist Schönheit?' fragte Plato lange da- vor.

Schön ist nach Kant, 'was ohne Interesse gefällt'. Wenn es mehr sein sollte als technische Brauchbarkeit - wie sollte das vom Wahren nicht auch gelten? Dazu gesellt die scholastische Tradition das Gute - drei Transzenden- talien als drei Namen für das Absolute. Drei Namen als drei Weisen des Anschauens; wieder ist die Fragen: Wie kommen sie ins Bewusstsein?

Was wahr ist (und was nicht) wird begriffen, was schön ist (und was nicht) wird angeschaut. Begreifen - näm- lich in all seinen möglichen Bestimmungen erfassen - kann ich nur das, was ich zuvor angeschaut habe. Denn nur das ist überhaupt bestimmbar. Begreifen ist Fortschreiten vom Anschauen zum Bestimmen, doch was immer ich bestimmt habe, kann ich wieder anschauen - als ein Bestimmbares, als ein zu-Bestimmendes; und so weiter in infinitum.

Kann ich anschauen, ohne zu begreifen? Kann ich anschauen, ohne zu bestimmen? Der moderne Mensch, bürgerliches Subjekt des Vernunftzeitalters, lebt in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft, wo er nicht lange bestehen könnte, wäre ihm nicht das Bestimmen längst habituell geworden. Gewohnheitsmäßig neigt er zum Bestimmen, doch mit etwas gutem Willen kann er es sich auch verkneifen; aber wollen muss er es.

Das aber wäre das ästhetische Wahrnehmen. Es ist ein Wahrnehmen, das sich des fortschreitenden Bestimmens enthält. Jeglichen Urteils sich enthalten kann es nicht: Das wäre überhaupt kein Wahrnehmen. Ästhetisch nenne ich ein Wahrnehmen, das als solches - ohne allen Vergleich, ohne alle Reflexion - mit einer Wertung verbunden ist: gefällt oder gefällt nicht? ("Ohne Interesse" wohlbemerkt.)

Damit ist Schluss. Mehr an ihm kann die ästhetische Betrachtung nicht finden, sobald sie danach sucht, hört sie auf, ästhetisch zu sein; beginnt sie, aus Bestimmungen weitere Bestimmungen herzuleiten, und macht sich ans Begreifen - das aber nie an ein Ziel kommt; es gilt immer nur vorübergehend.

*

Bis hier ist der Ertrag denkbar trivial: Der Forscher mag, wenn es in seinem Temperament liegt, wann immer er mit dem Räsonnieren nicht weiterkommt, nach einem ästhetischen Bild suchen, das ihn immerhin in irgend- eine Richtung führt. Wie weit, kann er immer nur ausprobieren, und wenn er Pech hat, merkt er viel zu spät, dass er sich verrannt hat. Mit andern Worten, er ist gut beraten, wenn er seinen bildhaften Phantasien mit Iro- nie und trockenem Verstand begegnet. Aber irgendein Vor-Urteil braucht der empirische Forscher, denn Erfah- rungen laufen einem nicht über den Weg: Man muss sie machen, indem man vorgefundene Daten mit einem Entwurf vergleicht. Da sind ästhetischen Vor-Urteile so gut wie andere; nur diesem fallen sie leichter als jenem, und hinterher propagieren kann man sie besser als alles andere.


Aber es ist wie immer doch etwas vertrackter als auf den ersten Blick. Was ist denn der Sinn des Begreifens? Im Unterschied zum anschaulichen Bild lässt sich der Begriff im Gedächtnis archivieren, bei Bedarf hervorholen und - was das weltgeschichtlich Umwälzende an ihm war - einem Andern, der mit dem Be- stimmen auch schon ein Stück vorangekommen ist, mitteilen. (Technisch: aus dem analogen Modus in den digitalen Modus übersetzen.) Um den jeweiligen Grad der Bestimmtheit mag es immer wieder Missverständnisse geben, aber es ist immerhin etwas da, worüber man streiten und worüber man sich vertragen kann. Ohne ein Mindestmaß an Bestimmtheit könnte man miteinander nur handgreiflich werden.

Seit ein solches Mindestmaß an Bestimmtheit im öffentlichen Verkehr als allgemeinverbindlich vorausgesetzt wird, redeten die Menschen von einem Vernunftzeitalter. Nicht so als solle behauptet werden, dass überall die Vernünftigen herrschen. Aber so, dass Vernunft allenthalben als der letztendliche Maßstab gilt.

Ein Ding bestimmen heißt an ihm Merkmale feststellen. Ein Merkmal ist das Verhältnis eines Dings zu einer möglichen Absicht (Zweck, Interesse; auch das Interesse an bloßer Erkenntnis ist ein Interesse). Bestimmungs- grund ist die Absicht, das Ding resoniert nur: Es sind erst die Merkmale, die ein Ding zu einem solchen ma- chen. Der Begriff des Dings ist das Schema seiner Merkmale.

 

Etwas ins Unendliche fortbestimmen heißt: ein ums andere Merkmal an ihm finden, alias: eine um die andere Absicht an es heften.

Ins Unendliche fort?

Vernunft bedeutet: an den Dingen Merkmale finden, die jeder wiedererkennt, weil er die Absichten, denen sie gelten, mit allen Andern teilt oder teilen könnte. Es wird der Moment kommen, wo einer, wie vernünftig er auch wäre, die Merkmale nicht wiederkennen kann, weil er die Absichten nicht mehr teilt. Das ist der Normalfall in den Wissenschaften. In der scientific community werden tausende von Bestimmungen geteilt, die über den Hori- zont des wissenschaftlichen Laien und Normalmenschen hinausgehen, weil seine Absichten ganz woanders liegen. Und an der vordersten Front sowohl der empirischen Forschung als auch der Theorie wird Absichten gefrönt, die das Gros der Wissenschaftler nicht versteht, weil es sie nicht teilt. 

So ist es faktisch. Aber prinzipiell könnte jeder Vernünftige bei genügendem Eifer soweit kommen. Da sind keine Grenzen gesetzt. Die Grenzen der Anschauung wurden jedoch schon längst überschritten. Die Einstein' schen Begriffe vom Raum-Zeit-Kontinuum und von der Raumkrümmung liegen in anschaulicher Forschung gewon- nene Daten zu Grunde. Doch vorstellen kann sie sich kein Mensch. Und auch nicht jene mikrophysikalischen Quanten, die mal als Teilchen, mal als Welle erscheinen, und womöglich an zwei Orten gleichzeitig. Nieman- dem, der die empirischen Forschungen, die diesen Begriffen zu Grunde liegen, nicht selber durchgeführt hat, werden sie je anschaulich werden.

So ist es heute schon. Davor, dass das Bestimmen ins Unendliche fort geht, kann einem nur schwindelig werden. Übereinstimmung wird faktisch gar nicht mehr möglich sein. Es heißt bereits, an der vordersten Front gälte unter Forschern und Theoretikern, sobald das engste Mikrodetail verlassen wird, eine Neue Doxa an Stelle von Wissenschaft - die darauf beruht, dass man seinem Nahbarn eben glauben muss, weil man seine Versuche - etwa die am Genfer LHC! in der Wirklichkeit nicht wiederholen kann. 

Das Denken wurde zu bestimmt. Wenn einer den Stein des Weisen doch einmal entdecken sollte, wird es nichts nützen, weil er es niemanden mehr wird mitteilen können.

*

Oder, wenn schon nicht mehr in Begriffen, doch wieder in Bildern?

Vor Jahr und Tag war viel vom Iconic turn in der Wissenschaft die Rede. Damit war mehr gemeint als bei der oben besprochenen Tagung des Einstein-Forums. Es ging um die Frage, ob die unvermeidliche sprachliche Form der Mitteilung ihrer Ergebnisse nicht zu einer Fessel für das Denken der Wissenschaft geworden ist.

Das war alles noch zu spekulativ und ist im Sande verlaufen. Allenfalls am Beispiel der damals in größerem Umfang zur Anwendung kommenden Hologramme fand man einen Anhaltspunkt. Aber die dienten auch nur wieder zur Illustration der begrifflichen Vorträge, selber zum Denkzeug taugen sie nicht.

Ein viel weiterer Ausblick öffnet sich freilich auf der gegenüberliegenden Seite der vorstellenden Tätigkeit, da, wo das Ästhetische, wie es sich gehört, 'um seiner selbst willen' wahrgenommen wird: in der Kunst.

'Musik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt. Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist über bestimmt. So sehr be- stimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re-präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De singularibus non est scientia – Von einem Einzigen gibt es kein Wis- sen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wie es ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist lediglich quale; schon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.' 18. 2. 16

Wie kann aber ein Gegenstand ästhetischer Anschauung 'bestimmt' worden sein? Absichten, Zwecke und Interessen fallen als Bestimmungsgrund aus. Welcher käme sonst in Betracht?

Offenbar kein Verhältnis, in das ich die Anschauung selber setzen will, sondern eines, in dem ich sie vorfinde: anschauliche Verhältnisse. Da haben wir Formate, Proportionen, Farben, Linien, Massen, Rhythmus, Hell-Dunkel-Werte, langsam-schnell und laut und leise und so weiter. Sie alle werden zusammengehalten durch ein ordnendes Prinzip: das Figur-Grund-Verhältnis. Es ist die Grundlage der Gestaltwahrnehmung, und die hat - siehe oben - mit Wahrheit und Erkenntnis nichts zu tun. Aber sie ist unsere. Sie ist die Grundlage allen An- schauens. 

Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.

*

Wie ich es also drehe und wende: Ästhetik und Erkenntnis sind zwei paar Schuhe.


Nachtrag I. - Das Ästhetische ist kein Merkmal an den Dingen, sondern eine Weise ihrer Wahrnehmung: die Weise, die sich ihrer Bestimmung durch Zweckbegriffe enthält. 'Das Reinästhetische' gibt es nicht: das wäre ein Wahrnehmen ohne jeden Zweck. Doch ohne Zweck - wenn auch ohne einen dem Individuum bewussten Zweck - sind schon die Gestaltgesetze nicht zustande gekommen, sie sind von praktischen Lebensinteresse vollgesogen: Wir können nicht Oben und Unten unterscheiden, ohne Über- und Unterordnung zu assoziieren, nicht Hell und Dunkel unterscheiden, ohne Tag und Nacht hinzu zu meinen, nicht Vorn und Hinten ohne Bald und Später, nicht Laut und Leise ohne Stark und Schwach.

Sicher kann man es trainieren. Doch zu welchem... Zweck? Man müsste das zweckfreie Betrachten selber zum Zweck machen und dürfte sich nicht wundern, wenn ihm das nicht bekommt. Es ist zwar so gekommen, dass sich die "ästhetische Praxis", nämlich die Künste, vor gut einem Jahrhundert aller sachlichen Bezüge entledigen wollten, aber das konnte nicht weit führen und, was dasselbe ist, nicht lange dauern. Das Ästhetische ist weder an noch für sich. Es lebt in und von der Spannung mit dem sachlich Zweckhaften. Je krasser jenes im zwanzig- sten Jahrhundert nach vorne drängte, umso schriller hat sich dieses zu be- haupten gesucht. 

Doch das Geld vermittelt Alles und die Spannung hat schon lange nachgelassen.



Nachtrag II. - Was also ist Begreifen? Es ist nicht das Definieren von Begriffen - das muss aus den Anschauungen bereits hervorgegangen sein. Die Gültigkeit der Definitionen wird beim aktuellen Begreifen vorausgesetzt. De- ren Überprüfung wäre Kritik. 

Tatsächlich sind nicht Begriffe zu begreifen, sondern Sätze: ein Ensemble von Begriffen, die zu einander im Verhältnis stehen. Doch anders als im ästhetischen Erleben wird dieses Verhältnis, da es ja schon aus Begriffen besteht, nicht angeschaut und belassen, wie es ist; sondern im Ensemble stehen die Begriffe zu einander in einem Wechselverhältnis, sie fügen sich gegenseitig neue 'Merkmale', neue Bestimmungen zu, in denen eine neue Absicht aufscheint. Und es ist dieses sinnhafte Mehr, das seinerseits zu begreifen und womöglich in einen einzigen, neuen Begriff zu fassen ist.




Samstag, 21. Juli 2018

Das Paradox der Geltung.


Tatsächlich liegt das Mysterium der Vernunft in der Urteilskraft. Im Urteil richte ich über die Gültigkeit der Gründe (Werte...); aber Grund des Urteils ist eben... die Gültigkeit. "Geltung" ist ein Paradox: 'Ich' stellt sich über die Geltung, macht sich zu ihrem Maßstab, indem es Geltungen vergleicht. Andererseits muss es die Geltungen als unabhängig von ihm denken: "Entweder gibt es gar keinen Wert, oder es gibt einen notwendigen Wert."*

Das Ich 'macht' sich seine Gründe selber, aber so, als ob sie absolut wären. Mit andern Worten, die "absolute" Geltung ist immer nur eine Behauptung

*) Fr. Schlegel, in Materialen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Ffm. 1977, S. 198


aus e. Notizbuch, 11. 7. 03



Ist das bloß paradox oder ist es absurd? Der allerletzte Rechtsgrund jeglicher Geltung ist ja gar kein Urteil, in dem Gründe erwogen und eine Wahl getroffen wird, sondern lediglich ein Gefühl - wenn auch das Gefühl der Gewissheit. Oder, mit andern Worten, das Gefühl eines Denkzwangs, das Gefühl, "gar nicht anders zu können". Doch so unwiderruflich es sich auch ankündigt - subjektiv bliebe es auch dann noch, wenn alle wirklichen Sub- jekte es faktisch teilen würden (wovon man bloß nicht wissen kann).

Das ist allerdings absurd, nämlich vom Standpunkt der in sich gegründeten Vernunft aus betrachtet: Es dreht sich im Kreis, doch was im Kreis "begriffen" liegen soll, liegt ganz im Dunkeln.

Der Standpunkt der in sich gegründeten Vernunft ist das, was Fichte als das gemeine Bewusstsein bezeichnet und dessen Grund und Herkunft die Wissenschaftlehre darlegen soll. Grund und Herkunft der Vernunft setzt sie weder dogmatisch voraus, noch postuliert sie sie prophetisch, sondern sucht sie in den wirklichen Handlungen der Vernunft auf. Was sie gefunden hat, erwies sich als ein Akt der Freiheit, der als ein solcher 'im Dunkeln liegt' und nicht begriffen, sondern - sofern man es will - nur angeschaut werden kann. Und was sieht man? "Ja;  anders wäre es nicht möglich."

Wenn ich zuunterst den (bedingten) Denkzwang voraussetze, werde ich auch nach oben hinaus immer wieder auf den Denkzwang stoßen.

Warum? Die Wissenschaftslehre ist streng immanent und geht über ihre Prämissen nirgends hinaus.




Freitag, 20. Juli 2018

Ein institutioneller Schein von Wissenschaft.

Oxford 

Wissenschaft ist nicht Institution, sondern Instanz (wie die Kunst); wenn auch in öffentlichen Institutionen verfasst, die gern ein Monopol geltend machen. Aber im Grenzfall ist ihre Institutionalisierung sogar eine Schranke für ihren öffentlichen Charakter: Monopol = Exklusivität = Privatheit. Und nährt den Glauben, die Zugehörigkeit zur Institution sei selber schon Wissenschaft…


 
Begründet ist die Institutionalisierung der Wissenschaft aber nicht in ihrer Exklusivität – dass nur geprüfte Spezialisten mitmachen dürfen –, sondern im Erfordernis der Kontinuität des Wissens: Das Wissen muss nicht nur "ausgelesen", sondern darüber hinaus bewahrt werden (sonst gäb’s nichts auszulesen). Die Institution ge- währleistet die Tradierung des Wissens: dass nichts verloren geht: dass die Akkumulation gründlich geschieht. Denn idealiter ist der Wissenschaftler einer, der alles weiß. 


Wenigstens "in seinem Fach". Aber das gibts natürlich nicht mehr. Das Spezialistentum macht sich innerhalb der Disziplinen breit, so dass schon innerhalb eines Fachs die "Zusammenhänge" selber zu Fächern von Spe- zialisten werden; in Wahrheit aber die "Neue Doxa" sich breit macht: das Vertrauen darauf, dass der Nachbar schon wissen wird, was er tut, und man ihm seine Resultate getrost abnehmen kann…

So kommt es, dass allerlei Zwischen-Fächer auftauchen, die sich in den Ritzen der Institution festsetzen, ohne sich vor irgendwem ausweisen zu müssen – außer eben vor der Doxa innerhalb und außerhalb der Universitä- ten! Z. B. Pädagogik, Politologie, Publizistik… Soziologie und Ökonomie haben den Anfang gemacht.

April 23, 2009


Nachtrag. Der Ort dieser Instanz ist, wie der der Kunst, die Öffentlichkeit. Ohne die bürgerliche Gesellschaft, die die Öffentlichkeit erschaffen hat, hätte Wissenschaft nicht entstehen können. Und kann noch heute nicht bestehen. Doch wachsen seit Jahren Zweifel an der Funktionstüchtigkeit der wissenschaftlichen Öffentlichkei- ten. Das kann man gar nicht ernst genug nehmen. Denn das ist nichts anderes als Zweifel an der Wissenschaft. Und die waren schon lange nicht mehr so gefährlich wie zu dieser Zeit.
JE 


Donnerstag, 19. Juli 2018

Wo der Geist herkommt.

wasserspiegelung_kl


Die Besonderheit des Menschen ist es nicht, dass für ihn die Dinge neben ihrem Dasein in Raum und Zeit auch noch eine Bedeutung haben – das haben sie für die Tiere auch. Sondern dass er beides unterscheiden kann – und so die Bedeutung jenseits von Raum und Zeit und übersinnlich erscheint.
 
Geist ist ein Spaltprodukt.*

19. 11. 13


*) Er entsteht aus dem Staunen




Mittwoch, 18. Juli 2018

Das Wahre ist das Absolute.


Wahr ist, was absolut gilt.

Das Absolute ist wie das Wahre ein Noumenon. Noumena werden lediglich vorgestellt - nämlich als (unter festzustellenden Bedingungen) geltend. Die Absolutheit des Absoluten und die Wahrheit des Wahren beziehen sich lediglich auf ihre Geltung: Sie ist in beiden Fällen unbedingt. Das Wahre und das Absolute sind Wechsel-begriffe.


14. 6. 16


Ob es absolute Geltung gibt, ist diskutabel. Dass es sie geben muss, wenn irgendwo in der Welt - und sei die Stelle noch so klein -, ein Sinn sein soll, steht außer Frage. Ob ein Sinn sein soll, kann nicht gefragt werden, denn die Frage ist selber sinnvoll und lässt folglich nur eine Antwort zu - und ist daher absurd.






 

Dienstag, 17. Juli 2018

Es gibt keine Meta-Ebene ohne einen Sach-Verhalt.

Caravaggio, Narcissus
I.

Warum ist etwas, statt dass nichts ist? 

Die Frage ist dämlich. Denn damit sie gestellt werden kann, muss es vorab einen geben, der sie stellen kann. Das ist nicht nur eine grammatische, sondern ein logisches Erfordernis. Wer so fragt, müsste gewissermaßen hinter sich "zurückgreifen" und annehmen, 'dass es ihn nicht gibt'. Korrekt müsste die Frage so lauten: Wäre es möglich, dass es Nichts gibt, statt dass es Etwas gibt?

Der Haken ist der: Die einzig mögliche Antwort auf die Frage "warum ist etwas..." wäre nämlich die: weil es einer geschaffen hat. Und die ist logisch nicht möglich. - Wenn eine (begründete) Antwort nicht möglich ist, dann ist die Frage nicht statthaft.

aus e. Notizbuch, 21. 3. 10


II.

Na, das war wohl etwas salopp. Denn ob etwas faktisch ist, bedeutet etwas anderes, als ob es denkbar ist. Ich muss denken können, dass etwas ist, ohne dass eine Intelligenz 'da ist', die fragen kann. Dann kann ich aber auch denken, dass nichts ist, ohne dass ich danach fragen kann. Im Subjekt des Fragens liegt der Hund nicht begraben.

Sondern in dem Wonach. Was soll "Etwas" bedeuten? Es ist eine Abstraktion. 'Etwas' gibt es nicht wirklich. Es gibt dieses und jenes und noch eins und noch eins. Auf die Frage 'Warum gibt es diesen Apfel?' ließen sich tau- send Antworten finden, die alle mehr oder minder gültig sind. Auf den 'letzten Grund seines Seins' werde ich so nicht kommen, denn das Sein ist nichts, was empirisch vorkommt, sondern wiederum eine Abstraktion - die nicht ist, sondern lediglich denkbar ist. Empirisch lässt sich immer nur erfragen, ob etwas wirklich, nicht aber, ob etwas möglich ist. Möglichkeit ist eine logische Kategorie.

Angenommen, es gäbe nichts. Wäre dann die Frage möglich: Warum gibt es nichts, statt dass es Etwas gibt? Gäbe es nichts, dann wäre... 'Etwas' gar nicht denkbar; es wäre nicht die Abstraktion von 'all jenen Dingen, die es auf der Welt nicht gibt'. Es wäre nicht möglich. Was es nicht gibt, lässt sich nicht verallgemeinern ('begreifen'). Man kann nicht fragen: Warum gibt es unendlich viele Dinge, die nicht sind, und keines, das ist?
 
Nichts ist nicht logisch gleichrangig mit dem Sein so wie Kopf und Zahl auf der Münze. Die Negation ist mög- lich nicht nur nach, sondern wegen der Position; nicht umgekehrt. Nicht nur nicht faktisch, sondern auch nicht gedanklich. Verneinen ist ein Reflexionsakt. Was nicht ist, darauf kann man nicht reflektieren.

30. 10. 2014 

 
III. 

Das Fragenmüssen, hieß es anderswo, sei der Grund der Conditio humana. Es geht wie jene der Transzenden- talphilosophie voraus und gehört in die Realgeschichte der Gattung. Die Gattung des fragen müssenden Men- schen ist nicht vom Himmel gefallen. Die Tiere, von denen er abstammt, mussten und müssen nicht fragen. Sie leben in einer Wirklichkeit, die sich von selbst versteht und von niemandem verstanden zu werden braucht. Das nennt man ein Umwelt. Weil er die Posistivität seiner Umwelt gegen die Fraglichkeit einer offenen Welt eige- tauscht hat, muss er fragen was und ob. Und aus den Möglichkeiten, die seither denkbar sind, muss er wählen: ja oder nein.

Historisch begann seine Gattungs geschichte mit dem Positiven: Anschauung auf der Objektebene. Indem er begann, seine Geschichte selber zu machen, erfand er die Reflexion: die Metaebene. Seither muss er fragen - und antworten.




Montag, 16. Juli 2018

Philosophierende Eigenbrötler.

Spitzweg

Das ist der Schwachpunkt des Eigenbrötlers: Er erkennt nicht immer den Punkt, wo ihm sein spekulatives Ross durchging und wo er zu spinnen begann. Setzt er ihn zu spät, ist er vielleicht schon auf dem Holzweg und fin- det nicht mehr zurück. Setzt er ihn zu früh, bringt er sich und die andern womöglich um eine vielversprechen- de Aussicht.

Was darf ich eher riskieren?


3. 10. 15 



Samstag, 14. Juli 2018

Es gibt nichts Unbestimmtes.


Das logisch Unbestimmte ist phänomenal (entwicklungsgeschichtlich, genetisch) ein Zubestimmendes; nicht unbestimmt, sondern bestimmt als ein mit einem Mangel Behaftetes. Es ist als Frage gegeben. Es begegnet nicht als etwas, das im allgemeinen Verweisungszusammenhang der Bedeutungen keinen Platz hat, sondern als eines, dessen Platz noch aufzufinden ist. Es ist (schon) eine Aufgabe. 

Dem Tier begegnet in seiner geschlossenen Umwelt nichts schlechthin Bedeutendes, sondern immer schon ein Dieses-Bedeutendes. Was in seiner Umwelt nichts zu bedeuten hat, begegnet ihm nicht als unbedeutend, sondern begegnet ihm so-gut-wie-gar-nicht. Das Gesamt aller ihm möglichen Bedeutungen ist in seiner Umwelt, als seine Umwelt abgeschlossen. Es ist kein zu realisierender Verweisungszusammenhang, sondern realisiert sich selber als ein Dieses-hier-und-jetzt.

Der logischen Betrachtung erscheint das Reich der Bedeutungen als gegeben, der transzendentalen Betrachtung erscheint er als gemacht.


30. 12. 13 


Nachtrag. Als unsere Vorfahren ihren angestammten Platz im Regenwald verließen und in die offene Savanne ausbrachen, verließen sie einen Kosmos gegebener Bedeutungen. Draußen in der Welt begegnete ihnen wenig Vertrautes und umso mehr Fragliches. Das Fragenmüssen gehört zur - und begründete eigentlich die - Conditio humana.

Die Antworten sucht er zu entschlüsseln durch Beobachtung von allerlei Zeichen. Das reicht, solange sich erst kleine Menschenmengen im Verkehr untereinander und mit der Natur verständigen müssen. In großen komple- xen Gemeinschaftsbildungen wird von den Bedeutungen mehr Konsistenz erwartet. Vernunft in specie kommt auf in dem Maß, wie die Menschen einsehen, dass sie die Bedeutungen der Dinge in der Welt selber bestimmen müssen. Eine Bewusstseinsstellung, die die Welt als eine zu-Bestimmende bestimmt, gilt als vernünftig: denn nun beginnt das Verständigen bereits während des Bestimmens.





Freitag, 13. Juli 2018

Digitalisieren heißt fungibel machen.

Uwe-Jens Kahl_pixelio.de 

Ein Symbol ist ein 'digit': ein Zeichen für einen 'content', dessen sachliche Gestalt in keinerlei Verhältnis zu dessen sinnlicher Erscheinungsform zu stehen braucht. Ein Wort ist so ein Symbol, oder ein X oder ein U oder eine Zahl. (Dass das digitale Denken mit dem Zählen begonnen hätte, bestreite ich. Die ersten 'Zahlen' waren Ordnungszahlen: erst eins, danach ein zweites, usw.; sie bezeichnen eine Folge in der Zeit - und die wird analog 'angeschaut': im Bild der Bewegung).

Das wirkliche Denken geschieht überhaupt nicht digital. Das wirkliche Denken geschieht nicht diskursiv. Das wirkliche Denken geschieht in einer Kaskade von unfassbaren Bildern. Erst in der Reflexion, die das Denken des Denkens ist, werden die Bilder 'begriffen': fest-gestellt und ein-gegrenzt (de-finiert). Das diskursive Denken ist die Form der Reflexion. Aber die Reflexion ist sekundär, sie bezieht sich auf ('metà') das anschauliche Denken als ihren Stoff. Allerdings kann erst sie das anschauliche Denken nach richtig oder falsch unterscheiden. Mit andern Worten, ohne sie ist es zu nichts zu gebrauchen.


aus e. online-Forum, im Juni 2010 



Nota. - Die genwärtige Hype um Digitalisierung vernebelt, dass Digitalisierung das Geheimnis unseres Fort- schreitens vom Animismus ins Zeitalter der Vernunft ist. Digitalisierung ist die Übersetzung eines Bildes in einen Begriff; eines bloß Gemeinten in ein Gewusstes. Sie bedeutet die Möglichkeit, Meinungsverscheidenheiten nicht durch Kräftemessen, sondern durch sachliche Erwägung - Verständ igung - aufzulösen. Digitalisierung war das Medium des Übergangs von Wildheit zur Kultur. 

Der Verstand hat uns an den Punkt gebracht, wo die digitalisierte Technik den Menschen buchstäblich über den Kopf zu wachsen droht. Da ist es Zeit, daran zu erinnern, dass die subtilste Weise der Darstellung nichts wert ist, wenn das Dargestellte nichts taugt; der Begriff nichts taugt, wenn das durch ihn Bezeichnete keinen vertretbaren Zweck darstellt. Nicht auf die Begrifflichkeit des Begriffs kommt es an, sondern auf die Vorstellung, die von ihm begriffen wird. Vernunft wird aus dem Verstand erst, wo es um die Zwecke geht. Die digitale Darstellung beruht auf dem wirklichen Vorstellen, und das geschieht auf analoge Weise.



Donnerstag, 12. Juli 2018

Gedanken lesen?


Gedankenbild                                                                           
 
Wird jemals ein Mensch (oder eine Maschine) eines Andern Gedanken lesen können? Es bedürfte einer Ma- schine, die die mit Bild-gebenden Verfahren gewonnenen Informationen aus dem analogen Modus in den di- gitalen übersetzen könnte - denn anders ist Bedeutung nicht darzustellen. Das setzte voraus, dass Bedeutungen Objektiva wären, denen irgendwann willkürliche Zeichen objektiv zugeordnet werden könnten. Das sind sie schlechterdings nicht.

Man könnte allenfalls - und das ist in Ansätzen geschehen, s. o. - herausfinden, welche (vernommenen) Bedeu- tungen ein Individuum regelmäßig in welche Bilder umzusetzen pflegt. Dann ließen sich die Bilder in Bedeutun- gen rückübersetzen - für dieses Individuum und für jede Bedeutung extra. Gäbe es ein Standardhirn, das wir im großen Ganzen alle miteinander teilen - wie eine Leber oder eine Niere -, ließe sich theoretisch eine Standard- liste erstellen - die allerdings nur ungefähr gelten könnte. Das bedeutet praktisch, dass sie nicht gelten würde; denn bei Bedeutungen kommt es auf Feinheiten an. Mehr als eine Feinheit ist aber, ob eine beobachtete Bild-Bedeutung im Frage- oder gar Verneinungsmodus gemeint ist - die schlechterdings auf analoge Weise gar nicht wiedergegeben werden können.
 

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Diese Überlegungen werden hinfällig, wenn das Gehirn eines jeden sich in seinem Aufbau von dem eines jeden andern unterscheidet. Dann ist eine Standardisierung von Bild-Bedeutungen ausgeschlossen. Man darf sich die- se Horrorvision getrost aus dem Kopf schlagen.