Montag, 3. Dezember 2018

Möglichkeit und Unendlichkeit.



138 Aber wenn ich immer nur endlich viele Dinge, Teilungen, Farben, etc. sehe, dann gibt es eben überhaupt keine Unendlichkeit; in keinem Sinne. Das Gefühl ist hier: wenn ich immer nur so wenig sehe, so gibt es überhaupt nicht mehr. Wie wenn der Fall der wäre: Wenn ich nur 4 sehe, so gibt es eben nicht 100. Aber die Unendlichkeit hat nicht den Platz einer Zahl. Es ist ganz richtig: Wenn ich nur 4 sehe, so gibt es nicht 100 und auch nicht 5. Aber es gibt die unendliche Möglichkeit, die von einer kleinen Zahl ebensowenig ausgefüllt wird wie von einer großen. Und zwar tatsächlich darum, weil sie eben selbst keine Größe ist.

Wir wissen natürlich alle, was es heißt, daß es eine unendliche Möglichkeit und eine endlich Wirklichkeit gibt, denn wir sagen, die Zeit und der physikalische Raum seien unendlich, aber wir können immer nur endlich Stücke von ihnen sehen oder durchleben. Aber woher weiß ich denn überhaupt von einem Unendlichen? Ich muß also in irgendeinem Sinne zweierlei Erfahrungen haben: Eine des Endlichen, die es übersteigen kann (diese Idee des Übersteigens ist an sich schon unsinnig), und eine des Unendlichen. Und so ist es auch. Die Erfahrung als Erleben der Tatsachen gibt mir das Endliche; die Gegenstände enthalten das Unendliche. Natür- lich nicht als eine mit der Erfahrung des Endlichen konkurrierenden Größe, sondern intensional. Nicht als ob ich den Raum sähe, der beinahe ganz leer ist und nur mit einer ganz kleinen Erfahrung in ihm. Sondern ich sehe im Raum die Möglichkeit für jede endliche Erfahrung. D. h., keine Erfahrung kann für ihn zu groß sein oder ihn gerade ausfüllen. Und zwar nicht etwa, weil wir alle Erfahrungen ihrer Größe nach kennen und wis- sen, daß der Raum größer ist als sie, sondern wir verstehen, daß das im Wesen des Raumes liegt. - Dieses un- endliche Wesen des Raumes erkennen wir im kleinsten Stück.

Das Unsinnige ist schon, daß man so oft denkt, es wäre eine große Zahl dem Unendlich doch näher als eine kleine.

Das Unendliche - wie gesagt - konkurriert mit dem Endlichen nicht. Es ist das, was wesentlich kein Endliches ausschließt. (In diesem Satze haben wir das Wort 'kein', und das darf wieder nicht als Ausdruck einer unendli- chen Konjuktion verstanden werden, sondern 'wesentlich kein' gehört zusammen. Es ist kein Wunder, daß ich die Unendlichkeit immer wieder nur durch sich selbst erklären kann, d. h. nicht erklären kann.

Der Raum hat keine Ausdehnung, nur die räumlichen Gegenstände sind ausgedehnt, aber die Unendlichkeit ist eine Eigenschaft des Raumes.

(Das schon zeigt, daß sie keine unendliche Ausdehnung ist.)

Und dasselbe gilt von der Zeit.
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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Frankfurt/M., 1984, S. 157f.



Nota. - Wer ist derjenige, der eingangs nur 'endlich viele Dinge' sieht? Einen Begriff der Zahl hat er offenbar schon, sonst kämen 100, 5 und nicht einmal die 4 in seiner Vorstellung gar nicht vor. Aber Begriffe hat er noch nicht - zwar kennt er mehr und weniger, die man nur anzuschauen braucht, doch Endlichkeit und Unendlichkeit kennt er nicht: Die sind nicht anschaubar, die muss die Reflexion erst (aus aufzustellenden Prämissen) konstruie- ren.

Der Autor selbst kennt aber schon Möglichkeit und Wirklichkeit (und ich möchte wetten, Unmöglichkeit und Notwendigkeit kennt er auch). Er setzt das ganze Instrumentarium der Vernunft schon voraus, und zwar nicht bloß als historische Gegebenheit (bei uns, seinen Lesern), sondern als (zeit- und raumlose) Geltung: an sich. Das erlaubt ihm auch, von Wesen des Raumes zu sprechen.

Weil er Möglichkeit und Wirklichkeit für logische Gegebenheiten hält, nimmt er sie zugleich als Realien: 'das, was der Fall ist'. Doch Möglichkeit ist keine latente Seinsweise neben der aktuellen Wirklichkeit, sondern die Vorstellung von einer Absicht, die noch nicht aktuell verwirklicht ist, aber potentiell verwirklichbar ist, sofern die nötigen Bedingungen erfüllt sind. Die Bedingungen müssten entweder aufgesucht oder neu erschaffen werden: in beiden Fällen durch eine Handlung. (Eine gegenständliche oder eine logische: In beiden Fälle ist vorstellbar, dass sie nicht gelingen - sei's wegen der Naturgesetze, sei's wegen der Denkgesetze; so entstünde die Unmög- lichkeit.) 

Nicht besser steht es nun mit der Unendlichkeit. Die ist auch kein Begriff, sonst ließe sie sich bestimmen - und wäre nicht mehr unendlich. Es ist - sagen wir - eine Idee. Sie entsteht daraus, dass das wirkliche Individuum sich schlechterdings beschränkt vorkommt: Was immer es tun will - es stößt auf Widerstand. Unendlichkeit ist die Vor- stellung von einer Tätigkeit, die keine Schranke kennt. In einen Begriff lässt sie sich zwar nicht fassen; aber den- ken kann ich sie wohl: indem ich zu jedem gedachten Punkt einen nächsten Schritt hinzudenke. Es ist eine Hand- lungsanweisung für den Vorstellenden. Da ich mich als schlechterdings tätig kennengelernt habe, dürfte sie mir nicht schwerfallen. Angeschaut werden kann das Unendliche - wie jede Idee - nur als Suche.

Wenn es 'den Raum' gibt, mag er ein 'Wesen' haben, und dann kann man ihn definieren. Welches wäre die Defini- tion? Da kneift er: Die Bedeutung der Wörter sei ihre Verwendung im Sprachspiel. Zwar ergibt sich der Sinn der Worte oder die Bedeutung der Sprachspiele erst aus ihrer Verstrickung in den jeweiligen Lebenszusammen- hang der Sprechenden. Doch aus dem Sprachspiel führt kein Weg hinaus, und schließlich dreht sich alles im Kreis.

Eine kritische Philosophie ist nur möglich, wenn sie hinter die Begriffe und die Regeln ihres Gebrauchs zurück- greift und die Bedingungen freilegt, unter denen sie überhaupt erst möglich wurden. Da wird man an der Ge- sellschaft der Redenden nicht vorbeikommen. Die ist eine historisch-faktische Voraussetzung begrifflichen Den- kens und es kann ohne sie nicht gedacht werden; doch nicht dieses selbst. Es muss hinter seine historisch-fakti- schen Bedingungen zurückgegangen werden zu seinen logisch-genetischen Bedingungen, wenn anders ein Sinn darin gefunden werden soll. Kurz - kritisch kann Philosophie nur bleiben, wenn sie Transzendentalphilosophie wird.
JE












Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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