Montag, 3. September 2018

Was heißt: kritisch?


Ein kritischer Denker ist nicht schon einer, der in jeder Suppe ein Haar findet. Kritisch sein heißt: nur das gel- ten lassen, was auf seine Gründe hin geprüft wurde.

Kein im wirklichen Wissenschaftsgeschäft Tätiger kann sich leisten, alle Gründe selber zu prüfen, von denen er ausgeht. Jeder Realwissenschaftler setzt tausend Gründe voraus, von denen er annimmt, dass viele Kollegen vor ihm sie schon erfolgreich überprüft haben werden. Anders könnte es gar keine Wissenschaft geben.

Nur für eine Wissenschaft gilt das nicht, für die Mutter aller andern: In der Philosophie muss sich ein jeder zu- muten lassen, wirklich alles selber zu prüfen, von vorne an; unter allen Voraussetzungen auch noch die allererste - die, die allen andern zugrunde liegt - selber 'kritisiert' zu haben. Und die heißt: Ich urteile. Das kann man so schreiben: Ich urteile, oder auch: Ich urteile – es bedeutet jedesmal dasselbe: Wenn ich nicht urteilte, gäbe es mich nicht, und: Wenn ich nicht wäre, gäbe es kein Urteil.

Es reicht auch nicht, den Satz zu lesen und beifällig zu nicken. Man muss ihn schon selber gedacht haben; sonst wird es nichts mit dem Philosophieren.

17. 1. 14 


Nun muss nicht jeder philosophieren. Aber jeder muss sein Leben führen. Da kann man sich noch weniger lei- sten als im alltäglichen Wissenschaftsbetrieb, Jedes auf seine Gründe zu prüfen. Wo immer Fakten eine Rolle spielen, muss man sich darauf verlassen, dass manch anderer sie schon überprüft hat, und dass dieses und jenes Urteil wohl zu Recht gefällt worden ist.

In Geschmacksdingen, die im Alltag so viel Raum einnehmen, kommt es auf Fakten nicht an. Umso mehr bin ich an mein eigenes Urteil verwiesen, und daher lässt sich in seine Geschmacksurteile keiner reinreden.

Moralische Entscheidungen sind Geschmacksurteile über Willensakte. Da darf man sich von niemand reinreden lassen.



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