Dienstag, 25. September 2018
Haben Sprachen Charakter?
Die nächstliegende Vermutung: Wer zum nominalen Stil neigt, denkt mehr nach. Gleich anschließende Vermu- tung: Sprachen, die - wie die Abkömmlinge des Lateinischen - die Nomina privilegieren, erziehen zum Überle- gen.
Aber das liegt zu nahe, um es ungeprüft zu lassen. Denn der Widerpart zum Reden ist das Verstehen. Deutlich wird es an Sprachen, die, wie das Deutsche, die Nomina deklinieren: Das deklinierte Nomen steht zu andern No- mina im Verhältnis, und zwar in einem hierarchischen; das eine ist dem andern vor- oder übergeordnet. Bei dekli- nierenden Sprachen liegt die Mühe der Festlegung beim Sprecher. Bei nicht deklinierenden Sprachen liegt die Entschlüsselung beim Hörer. Was ist mühseliger?
Tun wir einen Schritt zurück. Nomina heißen im Deutschen vorzugsweise Substantive. Da steckt die Substanz drin, das, was der (wechselhaften) Erscheinung - der Form - (dauerhaft) zu Grunde liegt. Eine mit Substantiven getrüffelte Sprache vermittelt ein Weltbild: eines, das von statischen Wesenheiten, von Bestimmtem und Wäh- rendem geprägt ist. Vermitteln tun sie sich untereinander und ganz von allein: durch Deklination.
Im Französischen etwa kann man verschachtelte Bandwurmsätze schreiben, in denen es von Substantiven wim- melt - und die ganz am Schluss lediglich von einem Hilfsverb - être oder avoir - zusammengehalten werden. Die hierarchische Ordnung der Nomina gerät ins Schwimmen, was sie jeweils einzeln bedeuten sollen, wird völlig unklar. Der nominale Stil spiegelt eine Beständigkeit vor, die es gar nicht gibt.*
Sprachen wie das Deutsche und wohl alle andern germanischen Sprachen, die mehr auf den Zeitwörtern aufbau- en, sind erstens dynamischer und stellen zweitens statt der Substantive die Handlungen und eo ipso die Handelnden in den Vordergrund. Es gibt weniger feste Größen, bloßes Wiederkennen reicht nicht, man muss sich aktiv im- mer selber etwas vorstellen. An Präzision bleibt viel zu wünschen, oftmals müssen lateinische Fremdwörter - Sub- stantive - den germanischen Sprachen unter die Arme greifen. Aber das ist kein Problem - solange es nicht zu viele sind.
*) Der Philosoph J. G. Fichte gilt wegen seiner Reden an die deutsche Nation als geistiger Vater des deutschen Nati- onalismus. Allerdings handelten sie nicht vom Aufstand gegen Napoleon, sondern von einem nationalen Erzie- hungprogramm. Die Deutschen wären nämlich noch keine Nation, sondern müssten sich dazu erst bilden. (Statt einen Begründer des deutschen Nationalismus, müsste man Fichte eher den Vater der deutschen Bildungsidee nen- nen.)
Die Hauptrolle maß er dabei der Sprache bei. Denn nicht ethnisch hielt er Deutsche und Franzosen für unter- schieden: Die Franzosen seien die Nachkommen der Franken und also ursprünglich selber ein deutscher Stamm. Der Unterschied bestünde nur darin, dass sie im Laufe der Geschichte eine "neulateinische", nämlich französische Sprache angenommen hätten. Er hielt das zeitwörtliche dynamische Deutsche dem nominalen statischen Fran- zösisch für überlegen - aber auch dies nur zeitbedingt: Seit Langem habe Französisch in Europa dominiert und die einheimischen Sprachen unter Napoleon vollends an die Wand gedrückt, da sei es Zeit, gegenzusteuern. - Später, unter veränderten Umständen, könnte sich das Verhältnis aber durchaus auch umkehren...
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen