Dienstag, 11. September 2018

Als Gott gestorben war.

 
343 Was es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat. – Das größte neuere Ereignis – daß »Gott tot ist«, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu wer- fen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schau- spiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, »älter« scheinen. 

In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungs- vermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. 

Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abge- ben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?... 

Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hin- gestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für diese Verdüsterung, vor allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn? Stehen wir viel- leicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses – und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte... 

In der Tat, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, daß der »alte Gott tot« ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«.
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Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft V: Wir Furchtlosen


Nota. -  Er hat ja keinen Zweifel daran gelassen: Was ihn am meisten gegen das Christentum aufgebracht hat, war eben "unsre ganze europäische Moral". Dass Gott tot ist, ist ihm eine neue Morgenröte, Licht, Glück, Er- heiterung; denn mit der Moral ist nun Schluss. Nämlich mit der in Sätzen kodifizierten positiven, die lehrt, was du im gegebenen Fall zu tun hast. Sie hat ja nun keinen Bürgen mehr.

Für einen wie Nietzsche war es eine Unmoral, weil sie den Menschen von der Mühe des eigenen Urteils ent- band und zum Gefolgsmann bequemte. Doch nun wäre der Mensch zur Freiheit verurteilt...

Das ist ein weites Feld, aber da traut auch Nietzsche sich nicht hinein, und siehe da, der Philosoph mit dem Hammer entpuppt sich wiedermal als Hasenfuß. Der alte Gott ist tot, der christliche Gott. Zum Lehrer und Vor- ausverkünder und Propheten des neuen Gottes fühlt er sich nicht berufen, auch ihm bleibt nur Entgegensehnen.

Doch zu den Erstlingen und Frühgeburten zählt er sich wohl schon. Es wird nicht lange dauern, da spürt er den Willen zur Macht in sich und manchem andern Auserwählten, und auch das Unterscheiden zwischen Über- menschen und Tschandalas wird er sich zutrauen; wie ein x-beliebiger Schwächling.
JE

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