Donnerstag, 27. September 2018

Noumena sind nur negativ zu gebrauchen.


Es liegt indessen hier eine schwer zu vermeidende Täuschung zum Grunde. Die Kategorien gründen sich ihrem Ursprunge nach nicht auf Sinnlichkeit, wie die Anschauungsformen, Raum und Zeit, scheinen also eine über alle Gegenstände der Sinne erweiterte Anwendung zu verstatten. Allein sie sind ihrerseits wiederum nichts als Gedankenformen, die bloß das logische Vermögen enthalten, das mannigfaltige in der Anschauung Gegebene in ein Bewußtsein a priori zu vereinigen, und da können sie, wenn man ihnen die uns allein mögliche Anschauung wegnimmt, noch weniger Bedeutung haben, als jene reinen sinnlichen Formen, durch die doch wenigstens ein Objekt gegeben wird, anstatt daß eine unserem Verstande eigene Verbindungsart des Mannigfaltigen, wenn diejenige Anschauung, darin dieses allein gegeben werden kann, nicht hinzukommt, gar nachts bedeutet. – Gleichwohl liegt es doch schon in unserem Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstände, als Erscheinungen, Sin- nenwesen (Phänomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden, daß wir entweder eben dieselbe nach dieses letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mögliche Dinge, die gar nicht Objekte unserer Sinne sind, als Gegenstände bloß durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenüberstellen, und sie Verstandeswesen (Noumena ) nennen. Nun frägt sich: ob unsere reinen Verstandesbegriffe nicht in Ansehung dieser Letzteren Bedeutung haben, und eine Erkenntnisart derselben sein könnten?

Gleich anfangs aber zeigt sich hier eine Zweideutigkeit, welche großen Mißverstand veranlassen kann: daß, da der Verstand, wenn er einen Gegenstand in einer Beziehung bloß Phänomen nennt, er sich zugleich außer die- ser Beziehung noch eine Vorstellung von einem Gegenstande an sich selbst macht, und sich daher vorstellt, er kön- ne sich auch von dergleichen Gegenstande Begriffe machen, und, da der Verstand keine anderen als die Katego- rien liefert, der Gegenstand in der letzteren Bedeutung wenigstens durch diese reinen Verstandesbegriffe müsse gedacht werden können, dadurch aber verleitet wird, den ganz unbestimmten Begriff von einem Verstandeswesen, als einem Etwas überhaupt außer unserer Sinnlichkeit, für einen bestimmten Begriff von einem Wesen, welches wir durch den Verstand auf einige Art erkennen können, zu halten.

Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren; so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verste- hen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung.

Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d. i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erschei- nungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich be- greift, daß er von seinen Kategorien in dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen könne, weil diese nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung haben, sie eben diese Einheit auch nur wegen der bloßen Idealität des Raums der Zeit durch allgemeine Verbindungsbegriffe a priori bestim- men können. Wo diese Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf; denn selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sollen, läßt sich gar nicht einsehen; weshalb ich mich nur auf das berufen darf, was ich in der allgemeinen Anmerkung zum vorigen Hauptstücke gleich zu Anfang anführte.

Nun kann aber die Möglichkeit einer Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs dessel- ben, sondern nur dadurch, daß man diesen durch eine ihm korrespondierende Anschauung belegt, bewiesen werden. Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, an- wenden wollten, so müßten wir eine andere Anschauung, als die sinnliche, zum Grunde legen, und alsdann wäre der Gegenstand ein Noumenon in positiver Bedeutung. Da nun eine solche, nämlich die intellektuelle An- schauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen liegt, so kann auch der Gebrauch der Katego- rien keineswegs über die Grenze der Gegenstände der Erfahrung hinausreichen, und den Sinnenwesen korres- pondieren zwar freilich Verstandeswesen, auch mag es Verstandeswesen geben, auf welche unser sinnliches Anschauungsvermögen gar keine Beziehung hat, aber unsere Verstandesbegriffe, als bloße Gedankenformen für unsere sinnliche Anschauung, reichen nicht im mindesten auf diese hinaus; was also von uns Noumenon genannt wird, muß als ein solches nur in negativer Bedeutung verstanden werden.

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 306-309





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