Samstag, 24. März 2018

Kant über Kritik und die Idee der Transzendentalphilosophie.


VII 
Idee und Eintheilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft.

Aus diesem allem ergiebt sich nun die Idee einer besondern Wissenschaft, die Kritik der reinen Vernunft heißen kann. Denn Vernunft ist das Vermögen, welches die Principien der Erkenntniß a priori an die Hand giebt. Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Principien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält. Ein Organon der reinen Vernunft würde ein Inbegriff derjenigen Principien sein, nach denen alle reine Erkenntnisse a priori können erworben und wirklich zu Stande gebracht werden.

Die ausführliche Anwendung eines solchen Organon, würde ein System der reinen Vernunft verschaffen. Da dieses aber sehr viel verlangt ist, und es noch dahin steht, ob auch hier überhaupt eine Erweiterung unserer Erkenntniß und in welchen Fällen sie möglich sei: so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen. Eine solche würde nicht eine Doctrin, sondern nur Kritik der reinen Vernunft heißen müssen, und ihr Nutzen würde in Ansehung der Speculation wirklich nur negativ sein, nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer Vernunft dienen und sie von Irrthümern frei halten, welches schon sehr viel gewonnen ist. 

Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transscendental=Philosophie heißen. Diese ist aber wiederum für den Anfang noch zu viel. Denn weil eine solche Wissenschaft sowohl die analytische Erkenntniß, als die synthetische a priori vollständig enthalten müßte, so ist sie, so weit es unsere Absicht betrifft, von zu weitem Umfange, indem wir die Analysis nur so weit treiben dürfen, als sie unentbehrlich nothwendig ist, um die Principien der Synthesis a priori, als warum es uns nur zu thun ist, in ihrem ganzen Umfange einzusehen. 

Diese Untersuchung, die wir eigentlich nicht Doctrin, sondern nur transscendentale Kritik nennen können, weil sie nicht die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht hat und den Probirstein des Werths oder Unwerths aller Erkenntnisse a priori abgeben soll, ist das, womit wir uns jetzt beschäftigen. Eine solche Kritik ist demnach eine Vorbereitung wo möglich zu einem Organon, und wenn dieses nicht gelingen sollte, wenigstens zu einem Kanon derselben, nach welchem allenfalls dereinst das vollständige System der Philosophie der reinen Vernunft, es mag nun in Erweiterung oder bloßer Begrenzungihrer Erkenntniß bestehen, sowohl analytisch als synthetisch dargestellt werden könnte. 

Denn daß dieses möglich sei, ja daß ein solches System von nicht gar großem Umfange sein könne, um zu hoffen, es ganz zu vollenden, läßt sich schon zum voraus daraus ermessen, daß hier nicht die Natur der Dinge, welche unerschöpflich ist, sondern der Verstand, der über die Natur der Dinge urtheilt, und auch dieser wiederum nur in Ansehung seiner Erkenntniß a priori den Gegenstand ausmacht, dessen Vorrath, weil wir ihn doch nicht auswärtig suchen dürfen, uns nicht verborgen bleiben kann und allem Vermuthen nach klein genug ist, um vollständig aufgenommen, nach seinem Werthe oder Unwerthe beurtheilt und unter richtige Schätzung gebracht zu werden. 

Noch weniger darf man hier eine Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft erwarten, sondern die des reinen Vernunftvermögens selbst. Nur allein, wenn diese zum Grunde liegt, hat man einen sicheren Probirstein, den philosophischen Gehalt alter und neuer Werke in diesem Fache zu schätzen; widrigenfalls beurtheilt der unbefugte Geschichtschreiber und Richter grundlose Behauptungen anderer durch seine eigene, die eben so grundlos sind.

Die Transscendental=Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Principien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Principien der reinen Vernunft. Daß diese Kritik nicht schon selbst Transscendental=Philosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntniß a priori enthalten müßte. 

aus Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe AA III, S. 42ff


Nota. - Seine eigentliche Absicht ist ein System der reinen Vernunft, das sagt er deutlich. Einstweilen könne er aber erst eine Kritik als Vorbereitung und Einleitung geben: Propädeutik. Eins wird klar: Wie auch die von ihren Zeigenossen gescholtenen orthodoxen Kantianer annahmen, ist für ihn das Reich der reinen Vernunft ein in sich abgeschlossenes und ganz anderes als das Reich unserer Erfahrung. Es ist das Reich des Apriori. Er ist mit den zwölf Kategorien und den beiden Anschauungsformen bis an seine Pforte gelangt. Was sonst noch darin vorkommen mag, könne eine bloße Kritik nicht ermessen, und selbst die Frage, 'woher es kommt', berührt er nur im Vorübergehen. Offenbar gehört sie zu den Dingen, für die er "dem Glauben" Platz schaffen wollte.

Doch tritt in Verlauf der Kritik nirgends eine Stelle auf, wo sie aus eigenem Unvermögen nicht mehr weiter- käme. Philosophische Gründe dafür, bei den Kategorien und den Anschauungsformen Halt zu machen und 'das Apriori' als ein Reich sui generis anzuerkennen, gibt es gar nicht. Hat Kant eigene, ihm selbst nicht bewusste Gründe für diese Selbstbeschränkung gehabt? Die erwähnte Rücksicht auf den Glauben durfte einem Wissenschaftler doch nicht genügen.
JE 



 

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