Dienstag, 13. März 2018

Hölderlin: Urteil und Sein.

Ur-Teilung
 
Urteil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur=Teilung. Im Begriffe der Teilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objekts und Subjekts aufeinander, und die notwendige Voraussetzung eines Ganzen, wovon Objekt und Subjekt die Teile sind. »Ich bin Ich« ist das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Urteilung, als Theoretischer Urteilung, denn in der praktischen Urteilung setzt es sich dem Nichtich, nicht sich selbst entgegen.

HölderlinWirklichkeit und Möglichkeit ist unterschieden, wie mittelbares und unmittelbares Bewußtsein. Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhol ich nur das vorhergegangene Bewußtsein, kraft dessen er wirklich ist. Es gibt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war. Deswegen gilt der Begriff der Möglichkeit auch gar nicht von den Gegenständen der Vernunft, weil sie niemals als das, was sie sein sollen, im Bewußtsein vorkommen, sondern nur der Begriff der Notwendigkeit. Der Begriff der Möglichkeit gilt von den Gegenständen des Verstandes, der der Wirklichkeit von den Gegenständen der Wahrnehmung und Anschauung.

Sein drückt die Verbindung des Subjekts und Objekts aus.

Wo Subjekt und Objekt schlechthin, nicht nur zum Teil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Teilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen, da und sonst nirgends kann von einem Sein schlechthin die Rede sein, wie es bei der intellektualen Anschauung der Fall ist. 

Aber dieses Sein muß nicht mit der Identität verwechselt werden. Wenn ich sage: Ich bin Ich, so ist das Subjekt (Ich) und das Objekt (Ich) nicht so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenommen werden istkann, ohne, das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen; im Gegenteil das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich. Wie kann ich sagen: Ich! ohne Selbstbewußtsein? Wie ist aber Selbstbewußtsein möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesetzten als dasselbe erkenne. Aber inwieferne als dasselbe? Ich kann, ich muß so fragen; denn in einer andern Rücksicht ist es sich entgegengesetzt Also ist die Identität keine Vereinigung des Objekts und Subjekts, die schlechthin stattfände, also ist die Identität nicht = dem absoluten Sein.

aus: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Frankfurt a. M. 1961, S. 547f.

Nota. - Hölderlin hat 1794 un '95 in Jena Fichtes Vorlesungen zur Wissenschaftslehre gehört. Fichtes Philoso- phie sei, schreibt Egon Friedell, "eine radikale Künstlerphilosophie. Und die Romantiker verstanden sie und machten Fichte zu ihrem Propheten".* Auf Fichtes Vortrag nimmt der obige Aufsatz aus dem Frühjahr 1795 unmittelbar Bezug, doch das Verständnis erscheint in einem eignen Licht. 

Damit, dass die Identität von Subjekt und Objekt mit dem aboluten Sein nicht 'identisch' sei, hat Hölderlin wohl Recht. Das Ich der intellektuellen Anschauung 'ist' keineswegs absolut; es 'ist' lediglich im actus der intellektuellen Anschauung, nicht vorher, nicht nachher. Es 'ist' Noumenon und wird im besten Fall Idee, als Postulat. Das wäre Hölderlin offfenbar nicht genug. Er will ein absolutes Sein - was er in der Transzendentalphilophie freilich nie- mals würde finden können.

Was Transzendentalphilosophie bedeutet, verstanden sie mehr intuitiv, in der Vorstellung, als rationell - nach Begriffen. Dass es eine intelligible Welt im Modus des Als-ob gäbe, an deren Maßstab das Wirkliche blass und dürftig wirkt, war ihnen als Künstlern ein Apriori und gewissermaßen ihre Existenzgrundlage. Aber die roman- tische Weltauffassung liebäugelt mit der Möglichkeit, im Als-ob zu leben; das reale Individuum im Alltag mit dem transzendentalen Subjekt zum Absoluten Ich zu vereinen.  

Das ist keinem von ihnen gelungen, Friedrich Schlegel wird zum Agenten Metternichs und zum Spitzel des Vatikans, Novalis verliert den Verstand und stirbt seiner zwölfjährigen Verlobten nach, Brentano wird zum frommen Schwärmer; und Hölderlin verbringt den Rest seines Lebens im Turm überm Neckar.

Der einzige Romantiker, der den Versuch durchgehalten hat, indem er den Zwiespalt zu seinem täglich' Brot machte, war der Berliner Amtsgerichtsrat Hoffmann. Na ja, es war wohl doch eher ein täglich' Rausch.

*) in Kulturgeschichte der Neuzeit, III. Buch, 3. Kapitel 


Nachtrag. - Wo bei Hölderlin der transzendentale Standpunkt doch irgendwie erhalten bliebe, kann ich nicht sagen, so gut kenne ich mich in der schönen Literatur nicht aus. Bei den Jenaer Romantikern ist es jedenfalls die Ironie, von der Hölderlin ganz frei ist (sofern man nicht die Gedichte aus dem Turm darunter fasst). In ihr erscheint das Einereseits-andererseits und Sowohl-als-auch als lebenspraktische Einheit, Ironie ist der Modus des Künstlerlebens. Und ob man diesen Standpunkt durchhalten kann, ist daher ebenfalls eine lebenspraktische Frage; siehe oben.


aus: Rüdiger Safranski, Romantik, eine deutsche Affäre:

...Wie sollte nicht jeder Satz über das Absolute und Transzendente nur unter ironischem Vorbehalt gesprochen werden dürfen? Endliches zu sagen über das Unendliche kann und darf nur ironisch sein. Ironie gehört deshalb in jede Philosophie, die das Ganze zu begreifen versucht... "Ist sie nicht wirklich die innerste Mysterie der kritischen Philosophie?" ...




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