Dienstag, 31. März 2015

Dass.


Da ist die Kirsche. Der Star fliegt hin und pickt. Und findet, was er erwartet hat. Er wusste, was er erwartet hat. Doch jetzt weiß er es nicht mehr. Denn nie wusste er, dass er etwas erwartet hat. Nie wusste er, dass die Kirsche auch ohne ihn da war und dass er auch ohne die Kirsche da ist. Er weiß immer nur dieses oder das, aber nie, dass.

'Dass' ist die Bedingung der Erinnerung, und Erinnerung ist die Bedingung der Reflexion.
Juni 17, 2010

Nota. -  Trivial gesagt: 'Dass' ist der Wirklichkeitsmodus der zweiten semantischen Ebene. Erstens: Das ist eine Kirsche. Zweitens: Ich weiß - sage, denke, bemerke... -, dass das eine Kirsche ist. - Das lässt sich unendlich wiederholen. Sachlich bleibt es immer dieselbe Operation: das Reflektieren auf... 

Objektebene und Metaeben unterscheiden sich durch Dass.
im März 2012 






Montag, 30. März 2015

about: Philosophieren im System.



Kant unterscheidet zwei Klassen von Philosophen - die "nach dem Schulbegriff" und die "nach dem Weltbe- griff". Nach dem Schulbegriff, das sind die, die Philosophie an der Universität betreiben. Einen Philosophen "nach dem Weltbegriff" hingegen darf sich keiner selber nennen, das können höchstens Andere tun, denn das wäre einer, der jenen zeigt, wo es lang geht.

Ein Schulphilosoph bin ich nicht geworden, bin aber, nachdem ich meinen Erwerbsberuf beendet hatte, zum Philosophieren zurückgekehrt. Dabei ist es mir widerfahren, meine Vorstellungen zu einem System zu ordnen - nur im Kopf, nicht auf dem Papier, denn das ist schwierig. - Nun gilt systematisches Philosophieren in Fach- kreisen heut ohnehin als dumm und anmaßend, und wenn ich dort überhaupt eine Chance haben will, muss ich gewissenhaft vorzeigen, dass ich 'mein System' weißgott nicht mutwillig konstruiere, sondern nur auf Schritt und Tritt mir zuziehe, ohne es hindern zu können. Darum die Form der täglich fortzuschreibenden Blogs und deren Zerstreuung in ein gutes halbes Dutzend. 

Die Fichtiana und die hiesigen Philosophierungen sind das Kernstück, sie erläutern einander. Und da am empirisch-anthropologischen Anfangspunkt meines pp. Systems 'das Ästhetische' als Spezifikum des poietischen Vermögens alias produktive Einbildungskraft, an seinem spekulativ-transzendentalen Endpunkt aber 'das Absolute' als die ästhetische Idee schlechthin steht, ist das Blog Geschmackssachen der Dritte im Bund.

Der fragmentarische Vortrag macht die Beschäftigung mit 'meinem System' abwechslungsreich und unterhalt- sam, aber übersichtlich ist er nicht. Allerdings vermute ich, wer sein System übersichtlich darstellen kann, hat es nicht richtig verstanden.

Jochen Ebmeier


Sonntag, 29. März 2015

Aber was heißt Natur?

J. Chr. C. Dahl, Vom Lyshorn

Die Bereitschaft, einen Teil der Res extensa unter dem Namen "Natur" von ihrem Rest zu unter- scheiden, geht auf das Erbe aus animistischer Zeit zurück. Sie ist nichts anderes als das Apriori, sie grundsätzlich als Subjekt denken zu wollen. Als ein Subjekt: das ist eine nachträgliche Beigabe einer Reflexion, die sich noch nicht bis zur Wurzel vorwagt.

In Wahrheit kann das Wort nichts anderes bezeichnen als all das, was nicht von Menschen geschaffen ist. Daß es ipso facto aber 'geboren' oder 'gebärend' wäre wie er, ist eine grundlose Voraussetzung, die uns lediglich 'natürlich' erschien – womit sich ein Zirkel schließt. Nicht die so oder so gearteten Defini- tionen von 'Natur' sind zu rechtfertigen, sondern diese Vorstellung selbst; nicht zu reden von ihrer Verwendung in wissenschaftlichen Zusammenhängen.

Notizbuch, Dez. 2012





Samstag, 28. März 2015

Philosophie und Weisheitslehre.


Manfred Janzen-Habetz, pixelio.de  

Aus einem online-Forumim Februar 2010:
  
... Die real existierenden Wissenschaften sind eben darum keine Philosophie, weil sie (ihrer Bestimmung nach: im Öffentlichen Raum ein Feld des Einverständnisses erzwingen zu können) positiv sein müssen. Sie müssen also in ihrer Praxis notwendig davon ausgehen, dass ein Wissen da ist, das (öffentlich) gegeben (und nicht erst noch aufgegeben) ist: "Stand der Wissenschaft". Insofern verfährt jede reale Wissenschaft (vorläufig) 'dogma- tisch', wie Herr K. sagt. Dogmatistisch wäre sie, wenn sie vergäße, dass das gültige Wissen, von dem sie ausge- hen muss, nur ein einstweiliges ist - und jederzeit von den Resultaten der wissenschaftlichen Praxis (und von nichts anderem) 'aufgehoben' werden kann.

Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte ihres Herausfallens aus der Philosophie (Galilei bis Newton): eine Scheidung, die zugleich zur Selbstbereinigung der Philosophie (Kant) geworden ist.
 


Von der Philosophie habe ich, anders als Sie, keine Idee, sondern einen Begriff. Ich sage: Philosophie ist, sofern sie Wissenschaft sein kann (oder will), lediglich negativ und kritisch. Das Feld des Positiven hat sie den Realwissenschaften (zu) überlassen - seit Kant.

Sie leistet aber damit nicht das, wofür sie vor zweieinhalb tausend Jahren erfunden worden ist: den Sinn des Lebens entdecken. Sondern nur dies: immer und immer wieder neu darzulegen, dass der Sinn des Lebens (oder "der Welt" oder wie man das immer nennen will) aus keinerlei positivem Befund heraus zu lesen ist, sondern als Problem, als Aufgabe, als Frage der praktische Lebensführung anheimgegeben ist.

Letztere Formulierung wird der eine ohne andere mit "existenzialistisch" beschreiben wollen, und das wollte ich nicht einmal zurückweisen. Zurückweisen würde ich allerdings, wenn er das nutzt für den Folgegesatz: "Das ist doch aber auch Philosophie!"

In einem strengen, und das heißt: wissenschaftlichen Sinn ist das keine Philosophie. 'Wissenschaftlich' bedeutet nicht: Gegenstand + Methode. Die sind beide sekundär, abgeleitet nämlich aus der wesentlichen Bestimmung: Wissenschaftlich ist das Verfahren, das nur die Bestimmungen gelten lässt, die auf die Tragfähigkeit ihrer Gründe erfolgreich geprüft wurden. Darin hat Plato die Anstrengungen seiner griechischen Vorgänger zusammenge- fasst (êpistêmê versus dóxa).

Überprüfen der Gründe, das ist Kritik, und die radikale, weil unendliche Kritik ist Öffentlichkeit. (Das ist ganz wurscht, ob die Wissenschaftler selber diesen 'kritischen' Begriff von Wissenschaft haben; denn kritisieren werden sie den lieben Kollegen so wie so.)

Der springende Punkt: Eine wie immer geartete Aussage über den Sinn der Welt, des Lebens, der... wird nie zubegründen sein, denn dann müsste sie irgendwann auf einen letzten Grund stoßen, der seinerseits nicht mehrbegründet ist; der aber aus eben demselben 'Grund' nicht gelten kann - weil er eben nicht... begründet ist.

Langer Rede kurzer 'Sinn': Der Sinn der Welt pp. kann nicht (wissenschaftlich) bewiesen, sondern allenfalls (sofern man ihn will!!) behauptet werden. Das geeignete Medium seiner Darstellung ist nicht der (Begriffe folgernd miteinander verknüpfende) Diskurs, sondern die bildliche Anschauung: ist nicht Logik, sondern Ästhetik. (Lässt sich noch viel weiter ausführen...)

Ob dieses Genre, zu dem ich auch einiges beizutragen hätte, dann "Lebensphilosophie", "Philosophie der Tat" oder ähnlich genannt werden darf, ist einen Streit nicht wert. Entscheidend ist, welchem Zweck die Philosophie, 'sofern sie wissenschaftlich ist', nämlich die kritische, eigentlich dient; d. h. welchen 'Sinn' sie hat. Es ist, wie immer die Antworten jeweils ausfallen, Meta-Philosophie - ein Denken, Reden, Meinen über die Philosophie.

Als Motiv liegt sie der Philosophie 'zu Grunde'. Ausführen lässt sie sich allerdings erst, wenn die Philosophie ihre wissenschaftliche, weil kritische Arbeit vollendet hat. Der Anfang muss sich als Ende behaupten.


Ich bin freilich der Meinung, dass die Philosophie mit der "Kritischen" alias Tranzendentalphilosophie (Kant bis Fichte) ihrem Umfang nach 'abgeschlossen' ist; nämlich nur als Kritik besteht an allen ('metaphysischen') Versuchen, aus reinen Denkbestimmungen Aussagen über das Wirkliche destillieren zu wollen. Mit dem 'Umfang' ist allerdings nicht ihr 'Stoff' erschöpft; denn die Versuchung, aus einem (postulierten) 'Sinn' auf ein (vorfindliches) 'Sein' zu schließen, tritt tagtäglich im Alltagsverständnis wie im Wissenschaftsbetrieb in Gestalt ihrer Umkehrung immer wieder an das Denken heran: nämlich aus einem (zuvor klammheimlich mit 'Sinn' aufgeladenen) Sein (zirkulär) auf dessen (und meinen) Sinn zu schließen.

Ihre Sache ist es, das Feld des Denkens zu bereinigen.

Das schließt offenkundig die Möglichkeit aus, 'Sinn' als ein Objektivum aufzufassen. Ich meine also das Gegenteil von dem, was Sie bei mir verstanden haben; nämlich "dass der Sinn des Lebens (oder 'der Welt' oder wie man das immer nennen will) aus keinerlei positivem Befund heraus zu lesen ist, sondern als Problem, als Aufgabe, als Frage der praktische Lebensführung anheimgegeben ist." Sein Leben kann jeder nur selber führen. Und welchen Sinn sein Leben hatte, stellt sich am Ende als der rote Faden heraus, den er hindurchgesponnen hat. Der eine spinnt ihn bewusster ("Lebensphilosophie"), der andere intuitiver: je von Entscheidung zu Entscheidung. Über die "Richtigkeit" ist damit nichts gesagt. Mit andern Worten - ob ihm die Lehren der Kritischen Philosophie bei seiner Lebensführung geholfen haben oder nicht, steht ganz in den Sternen und ist seinem eigenen Urteil unterworfen. Dasselbe gilt für die diversen konkurrierenden Weisheitslehren, die er privatim für sich wählen mag oder auch nicht, und für die er niemandem (und das heißt: nicht öffentlich) Rechenschaft zu geben hat.

Ihre Erlebnisse mit dem Wissenschaftsbetrieb nenne ich deshalb privat, weil irgendein Anderer ganz andere Erlebnisse haben kann. Ich selber habe nie einen Posten im akademischen Betrieb bekleidet, weil ich nie einen erstrebt habe. Ich muss daher auch nicht verbittert sein. Dass ich meinen Bemühungen im Feld des Denkens eine größere Resonanz wünsche, als sie tatsächlich haben, steht auf einem ganz anderen Blatt. Nämlich auf dem Blatt, wo eingetragen ist, dass diese Bemühungen nicht im Geist der Zeit liegen. Das könnte ich ja ändern, wenn ich wollte, aber ich will es nicht.

Stattdessen bediene ich mich eines Mediums, das neu ist und dem die akademische Zunftphilosophie auf die Dauer nicht standhalten wird: des Internets.




Freitag, 27. März 2015

Wissen.

Markus Kräft  / pixelio.de

Eine Diskussion in einem online-Forum im Mai 2009 

...Wissenschaft ist, was Wissen schafft.

- Nein. Wissen kann auf alle erdenklichen und wohl sogar auf unerdenkliche Weisen 'entstehen'. Das Wissen, das Wissenschaft schafft, ist geprüftes Wissen. Ob nämlich ein Wissen 'wahr' ist oder nicht, kann nicht von der Art und Weise seines Zustandekommens abhängig gemacht werden. Vielleicht ist der religiöse Glaube an einen persönlichen Gott ja wahr. Es kann nach der Natur des Glaubens aber nicht geprüft werden.

Sag mir nicht, Glauben sei nicht Wissen. Der Glaubende wird Dir sagen, das sei gehupft wie gesprungen, und gar: sein Glaube sei sicherer als Dein Wissen.

Deine Bemerkung vereinfacht das Problem nicht, sondern verschiebt es in die Region des Unergründlichen, womit nichts gewonnen, sondern alles verloren ist. 'Was Wissen ist', kann immer nur im Wissen ausgesagt werden. Die Frage setzt ihre Antwort schon voraus. Mit der Frage 'Gibt es Wissen?' steht es nicht besser.

'Ich weiß heißt: Es ist mir als gewiss bekannt', sagt Wittgenstein auf seine tautologische Art.


...Nunja, irgendwann wird man das Wissen "glauben" müssen, irgendwann muss man springen und das Wissen formulieren. ...

- Hoppla, nicht so schnell! Das ist erst das letzte Wort der Philosophie (sofern sie theoretisch und selber Wissenschaft ist) und nicht schon das zweite oder dritte.

Danach, wenn alles Theoretische erledigt ist, kommt nämlich die "praktische" Philosophie - wo es um die Zwecke geht und nicht um die hinreichenden Gründe: Diese muss man auffinden, aber jene muss man 'setzen'; aus freien Stücken behaupten. Und da steht dann als erstes die Frage: In welcher Absicht "muss" man glauben, wozu will man 'wissen'? Das hat nämlich Folgen in dem, 'was' man schließlich zu 'wissen' bekommt. Und dann wird man finden: Das Wissen der exakten alias 'Natur'wissenschaften rechtfertigt sich durch seine Nutzanwendung in unserm Stoffwechsel mit der Natur. Da kann einer stehen bleiben und sagen: Mehr als Stoffwechsel (und vielleicht auch noch Fortpflanzung, aber das fällt ins selbe Kapitel) braucht das Leben nicht zu seiner Rechtfertigung. Widerlegen kann man ihn nicht. Aber gering schätzen und verhöhnen.

(Das heißt, 'eigentlich' käme die praktische Philosophie vor der theoretischen. Aber das weiß man erst nach der Kritik der realen Wissenschaften durch die theoretische Philosophie. Versucht man es andersrum, kommt ein x-beliebiger Dogmatismus heraus, den man ebenso gut glauben wie auch nicht glauben kann.)



...Die Abhebung des öffentlichen Wissens vom privaten Wissen ist mir nicht ganz klar…

- Glauben zum Beispiel ist ein privates Wissen. (Dass er öffentlich zur Schau gestellt wird, tut nichts zur Sache.) Das Wissen, dass meine Nase juckt, auch. (Dass es sich öffentlich überprüfen ließe, tut ebenfalls nichts zur Sache - solange es nicht geschieht.)


...Aus "...dass die hinreichende und erschöpfende Definition von Wissenschaft die sei, dass sie öffentliches Wissen ist"  ist doch abzuleiten, dass privates Wissen kein Wissen ist, oder?

- Aber nein, ganz und gar nicht. Der Zufall oder die Vorrrsehung könnte es so eingerichtet haben, dass ich schlechterdings alles weiß - und natürlich 'wahr' weiß. Aber solange ich meine Weisheit für mich behalte und sie schließlich mit ins Grab nehme, ist dieses Wissen niemals Wissenschaft geworden. Auch wenn ich alles austrompete, aber keiner hört mir zu - weil keine Redaktion meine Texte druckt und/oder weil im Internet sowieso die Brüllaffen den Ton angeben -, dann würde es auch nicht zu Wissenschaft, sondern ginge ungehört unter. Wenn es mir nun gelänge, immerhin ein paar Getreue um mich zu scharen, dann würde mein (wohlbemerkt immer noch 'wahres') Wissen zu einer (immer noch unwissenschaftlichen) Sektenlehre; und falls unter den Adepten die Sektierer die Oberhand gewännen, dann würde eine Geheimlehre nur für die Auserwählten daraus. Und wohlbemerkt: Alles, was sie wüssten, wäre immer noch 'wahr'. Nur zu Wissenschaft würde es nimmermehr...

Bei den alten Griechen bildeten die Pythagoreer so eine Sekte. Man hat nie erfahren, was dort im Besonderen gelehrt wurde. Ich will nicht sagen, dass das historisch irgendwie wahrscheinlich wäre - aber logisch auszuschließen ist es nicht, dass das 'alles wahr gewesen' ist.

(Ich kann von Glück reden, dass sich meine Philosophierungen der Sache nach so wenig zu einer Geheimlehre eignen!)


...Hmm, privates Wissen, das es mangels Öffentlichkeit nicht zur Wissenschaft schafft?! Ist es zulässig Wissenschaft von seiner Verbreitung bzw. Akzeptanz abhängig zu machen?

- "Akzeptanz"? Um Himmels willen, nein!

Nicht, weil Schulz und Meier sich auf irgendwas ('Konsensfähiges') "verständigt" hätten, entsteht Wissenschaft; sondern weil in der Öffentlichkeit die Überprüfung der Gründe verallgemeinert und eo ipso radikalisiert  ist - so dass sie jedes Mal bis an die 'Wurzel' (lat. radix) geht. Da wird dann keiner mehr gefragt, ob er irgendwas "akzeptieren" mag. Sondern das, was der verallgmeinerten Prüfung standgehalten hat, GILT (einstweilen definitiv). Wer's nicht "akzeptiert", bleibt als 'Privatmann' zurück (gr. Privatmann: idiôtês).

Bekanntlich sind übrigens die Wissenschaftler heute wie je eine ganz kleine Minderheit in einem Meer von Privatleuten. Weil aber im Jahrhunderte langen Prozess der Veröffentlichung des Wissens sich 'Wissenschaft' zu einer gesellschaftlichen Instanz ausgebildet hat, will auch unter den Privatleuten keiner mehr gern ein Idiot sein; und darum hat das Wort der Wissenschaft gesellschaftliche Autorität. Weil und solange der Prozess der verallgemeinerten Überprüfung niemals abgeschnitten wird.


...Überhaupt gefällt mir der Ansatz immer weniger, ich glaube. eine soziologische Beschreibung der Wissenschaft, nichts anderes liegt hier vor, ist ungünstig.

- Soziologisch wäre meine Sicht, wenn es sich beim Prozess der öffentlichen Kritik um eine Akkumulation von Stoff, um ein Tauschgeschäft oder um die Ermittlung eines Durchschnitts handeln würde. Es ist aber ein Vorgang der Reduktion. Das ist ein logisches Geschehen. 



Donnerstag, 26. März 2015

Notwendig ist der Zufall.


Ein Reich der Notwendigkeit gibt es nur in Gedanken. 'So muss es sein und etwas anderes ist nicht möglich.' Im Reich des Faktischen ist im Vergleich dazu alles zufällig. 'Wäre die Welt anders eingerichtet, müsste ich etwas anderes von ihr denken.' (Das aber wäre notwendig.)

Das Mysterium: Die Welt der Gedanken spielt sich ab in einem Reich von Faktischem. Ist das nun zufällig?

(Ich denke nicht etwas, sondern von etwas, über etwas. Mein Gedanke ist nicht die Sache, sondern ein Bild.)

aus e. Notizbuch, 1. 4. 08









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Mittwoch, 25. März 2015

Das Paradox der Geltung.




Tatsächlich liegt das Mysterium der Vernunft in der Urteilskraft. Im Urteil richte ich über die Gültigkeit der Gründe (Werte...); aber Grund des Urteils ist eben... die Gültigkeit. "Geltung" ist ein Paradox: 'Ich' stellt sich über die Geltung, macht sich zu ihrem Maßstab, indem es Geltungen ;vergleicht. Andererseits muss es die Gel- tungen als unabhängig von ihm denken: "Entweder gibt es gar keinen Wert, oder es gibt einen notwendigen Wert."*

Das Ich 'macht' sich seine Gründe selber, aber so, als ob sie absolut wären. Mit andern Worten, die "absolute" Geltung ist immer nur eine Behauptung

*) Fr. Schlegel, in Materialen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Ffm. 1947, S. 198

aus e. Notizbuch, 11. 7. 03








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Dienstag, 24. März 2015

Kritisch?


aus tagesschau.de

Ein kritischer Denker ist nicht schon einer, der in jeder Suppe ein Haar zu finden weiß. Kritisch sein heißt: nur das gelten lassen, was auf seine Gründe hin geprüft wurde.

Keiner im wirklichen Wissenschaftsgeschäft Tätiger kann sich leisten, alle Gründe selber zu prüfen, von denen er ausgeht. Jeder Realwissenschaftler setzt tausend Gründe voraus, von denen er annimmt, dass viele Kollegen vor ihm sie schon erfolgreich überprüft haben werden. Anders könnte es gar keine Wissenschaft geben.

Nur für eine Wissenschaft gilt das nicht, für die Mutter aller andern: In der Philosophie muss sich ein jeder zumuten lassen, wirklich alles selber zu prüfen, von vorne an; unter allen Voraussetzungen auch noch die allererste - die, die allen andern zugrunde liegt - selber 'kritisiert' zu haben. Und die heißt: Ich urteile. Das kann man so schreiben: Ich urteile, oder auch: Ich urteile – es bedeutet jedesmal dasselbe: Wenn ich nicht urteilte, gäbe es mich nicht, und: Wenn ich nicht wäre, gäbe es kein Urteil.

Es reicht auch nicht, den Satz zu lesen und beifällig zu nicken. Man muss ihn schon selber gedacht haben; sonst wird es nichts mit dem Philosophieren.



Montag, 23. März 2015

Die Zweige des Wissens.

plumbe, pixelio.de

Die Welt ist kein Mosaik, das aus so und soviel Wahrheitsatomen zusammengesetzt ist, die man, jedes für sich, herausgreifen, begutachten und in Schubladen verteilen kann. Sondern was der Einfachheit halber 'die Welt' genannt wird, ist ein ununterbrochener Fluß von Geschehnissen in einem komplexen Feld von wechselseitigen Bedingungsverhältnissen. Dabei erweist sich das, was prima facie als reale Bedingung erschien, der kritischen Reflexion als eine Projektion dessen, was vorher ("a priori") schon eine (logische) 'Hinsicht', ein Ab-Sicht des Betrachters gewesen war: Nur in gewissen Hinsichten, und daher nur in bestimmten realen Bedingungsverhältnissen ('Gesetzen') 'zeigen sich' gewisse Geschehnisse; doch nicht in allen: Sie mögen mehreren Bedingungsebenen angehören, aber allen nicht.

So gibt es eine Bedingungsebene namens Chemie, eine namens Physik, namens Ethologie, namens Mathematik… Und alle stehen untereinander "irgendwie" selber wieder in einem Bedingungsverhält- nis... Eine pazifische Koralle etwa "kommt vor" in Biologie, Chemie, Physik, Ethologie, sogar in Mathematik, wenn man will. Aber in Musik kommt sie nicht vor, und in Nationalökonomie nur mit Hilfe von Sophismen. Allerdings sind Biologie, Chemie, Physik nicht die "Etagen", in denen die tatsächliche Existenz der Koralle tatsächlich "stattfindet", sondern sie sind die Blickwinkel, unter denen ein abstrahierend-reflektierender Verstand die Koralle anschauen mag – oder eben nicht.

Das gilt für alle Wissenszweige ebenso wie für Kants Kategorientafel.

Also, ein Geschehen "zeigt sich" in dem einen Bedingungsverhältnis (unter der einen Kategorie) so, in dem andern anders; und in einem dritten gar nicht.

Wo die Menschen ihre apriorischen 'Hinsichten' herhaben – ob ihrerseits ex sponte 'gesetzt' oder aus "sinnlichen Eindrücken" empirisch angesammelt –, diese Frage "erscheint" ihrerseits in logischer Hinsicht (philosophisch) gar nicht, sondern nur empirisch-psychologisch – als Streit zwischen Assoziations- und Gestaltpsychologie (der freilich selber logisch zu entscheiden ist).

Ausschlaggebend ist nur, dass 'es' diese Hinsichten 'gibt', und dass ihre logisch-regelmäßige Handha- bung die Gewähr für die Vernünftigkeit unseres Denkens ist. Dank ihrer 'gibt es' vernünftiges Denken: Sie "konstituieren" es. Aber da es nun einmal 'ist', reicht ihm die Faktizität der  Kategorien, die es konstituieren, nicht aus. Es will die Gründe sehen. Will sehen, dass sie nicht (historisch) zufällig sind (und also auch anders sein könnten), sondern (genetisch) notwendig. Wenn es unter den faktisch gegebenen Kategorien nicht einen genetischen, einen Bedingungszusammenhang auffinden kann – einen ‚letzten’, d. h. ersten Grund -, dann müsste es sich selber als unbegründet, und damit als ungültig erkennen.

Die Suche nach einem letzten Grund heißt Wissenschaftslehre.

Das heißt, 'eigentlich' ist sie zirkulär: Sie setzt die Auffindbarkeit des Grundes schon voraus. Denn 'gäbe es' einen solchen Grund nicht, dann könnte sie ihn nicht nur nicht finden; sondern sie könnte nicht einmal finden, dass sie ihn nicht finden kann, und so verlöre die Suche ihr Wonach.

Wer sich also auf die Suche macht, der muß sinnvollerweise voraussetzen, dass es hier etwas zu finden gibt. Seine Suche beginnt dann folgendermaßen: Da das Wissen einen Grund haben muß (weil ich anders gar nicht suchen könnte), muß er… da oder dort zu finden sein.

Logisch korrekt muss die Aufgabe also so formuliert werden: Wenn unser Wissen einen Grund hat, dann muss er sich 'in' unserm Wissen als dessen immanente Prämisse auffinden lassen. Daß aber unser Wissen einen Grund hat, das soll so sein, weil jedes Wort sonst hinfällig wäre.

21. 3. 1993






Samstag, 21. März 2015

Das Naturgesetz und die Schöpfung.

rundumkiel.de  / pixelio.de

Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist dadurch definiert, dass der Natur ein Gesetz zugeschrieben wird: Was durch ein Gesetz bestimmt/geregelt ist, will ich als 'die Natur' auffassen; bzw. Naturwis- senschaft ist Suchen nach Gesetzmäßigkeiten.


Impliziert: Das Gesetz lässt sich von den realen Vorgängen selber unterscheiden und so darstellen, als ob es 'an sich selber' gälte. Dann kann es auch so gedacht werden, als ob es 'vor' den Vorgängen 'da war'. Dann muss man sich zum Gesetz einen Gesetzgeber vorstellen – oder das Gesetz als ein Sub- jekt, das 'sich selber setzt'; was auf dasselbe hinausläuft:  "Schöpfung", intelligent design.

Man gerät logisch zur Annahme von einem Schöpfer; was die Vorstellung von einer Schöpfung und einem Gesetz suggeriert. Notwendig aber ist keins von beiden. Es fragt sich nur: "Warum sollte der Schöpfer sich die Mühe gemacht haben…?" Allerdings ist die Frage nach einer Ursache der Schöpf- ung logisch ebenso ungehörig wie theo logisch.

5. 1. 13





Freitag, 20. März 2015

Das Höchste ist ein Problem.


Problem

Die Verwandlung eines Satzes oder mehrerer in ein Problem ist eine Erhebung. Ein Problem ist weit mehr als ein Satz. Höchstes, allumfassendes Problem.
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Novalis, Neue Fragmente N°1330







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Donnerstag, 19. März 2015

Das absolute Postulat.

absolutes Postulat

Was tu ich, indem ich philosophiere? Ich denke über einen Grund nach, dem Philosophieren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zu Grunde. Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne, sondern innere Beschaffenheit – Zusammenhang mit dem Ganzen. Alles Philosophieren muss also bei einem absoluten Grunde endigen.

Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte, so wäre der Trieb zu philosophieren eine unendliche Tätigkeit und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfnis nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, was doch nur relativ gestillt werden könnte – und darum nie aufhören würde.

Durch das freiwillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freie Tätigkeit in uns – das einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und das wir durch unsre Unvermögenheit, ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebene Absolute lässt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, dass durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen. 

Das ließe sich ein absolutes Postulat nennen.
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Novalis, Fichte-Studien, in: Gesammelte Werke, Herrlibrg-Zürich 1945, Bd. 2, S. 172






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Mittwoch, 18. März 2015

Das Fichtisieren artistisch treiben.


 G. Uecker

Es wäre wohl möglich, dass Fichte Erfinder einer neuen Art zu denken wäre – für die die Sprache noch keinen Namen hat. Der Erfinder ist vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument – ob ich gleich nicht sage, daß es so sei. Es ist aber wahrscheinlich, dass es Menschen gibt und geben wird, die weit besser Fichtisieren werden, als Fichte. Es können wunderbare Kunstwerke hier entstehen – wenn man das Fichtisieren erst artistisch zu treiben beginnt.
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Novalis Logologische Fragmente [a], N° 11




Dienstag, 17. März 2015

Die Moral gebietet unmittelbar, aber immer einzeln.


Pythia und ihr Interpret Pythia und ihr Interpret

In Fichtens Moral sind die richtigsten Ansichten der Moral. Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Sie ist durchaus Entschlossenheit. Richtige Vorstellung vom Gewissen. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen.
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Novalis, Allgemeines Brouillon N°670


Montag, 16. März 2015

Wilhelm Windelband über nomothetisches und idiographisches Verfahren.

Geschichte und Naturwissenschaft.

Rede zum Antritt des Rektorats
der Kaiser-Wilhelms-Universität Starßburg
gehalten am 1. Mai 1894
   

Hochansehnliche Versammlung!

... Wenn ich zu diesem Zwecke ein Thema aus der Logik, insbesondere aus der Methodologie, der Theorie der Wissenschaft wähle, so geschieht es in der Meinung, dass an einem solchen in besonders deutlicher, greifbarer Weise der innige Zusammenhang hervortreten muss, in welchem die Arbeit der Philosophie mit derjenigen der übrigen Wissenschaften steht. Nicht wissensfremd in eigner erdachter Welt, sondern in reichem Wechselverkehr mit aller lebendigen Wirklichkeitser- kenntniss und mit allem Wertgehalte des wirklichen Geisteslebens hat die Philosophie bestanden und besteht sie: wenn ihre Geschichte die der menschlichen Irrthümer gewesen ist, so war der Grund davon der, dass sie guten Glaubens aus den Theorien der besonderen Wissenschaften als fertig und sicher übernahm, was auch in diesen nur höchstens als werdende Wahrheit hätte gelten dürfen. Dieser Lebenszusammenhang zwischen der Philosophie und den übrigen Disciplinen zeigt sich am deutlichsten gerade in der Entwicklung der Logik, welche nie etwas anderes war als die kritische Reflexion auf die vor ihr betätigten Formen des wirklichen Erkennens. Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstracter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am einzelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntnisswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen. Woher - um gleich das vornehmste Beispiel heranzuziehen - hat die moderne Logik, der griechischen Mutter gegenüber, die gereifte Vorstellung vom Wesen der Induction? Nicht aus der programmatischen Emphase, mit der sie Bacon empfohlen und scholastisch beschrieben hat, sondern aus der Reflexion auf die tatkräftige Anwendung, welche diese Denkform in der Einzelarbeit der Naturforschung, von Sonderproblem zu Sonderproblem sich verfeinernd und steigernd, seit den Tagen Kepler's und Galilei's bewährt hat.

   Auf denselben Zusammenhängen aber beruhen selbstverständlich auch die der neueren Logik eigentümlichen Versuche, in dem zu so bunter Mannigfaltigkeit ausgewachsenen Reiche des menschlichen Wissens begrifflich bestimmte Linien zur Grenzabsonderung der einzelnen Provinzen zu ziehen. Die wechselnde Vorherrschaft, welche in den wissenschaftlichen Interessen der neueren Zeit Philologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Psychologie, Geschichte ausgeübt haben, spiegele sich in den verschiedenen Entwürfen zum «System der Wissenschaften», wie man früher sagte, zur «Klassifikation der Wissenschaften», wie es heute genannt wird. Viel wurde dabei durch die universalistische Tendenz gefehlt, welche, mit Verkennung der Autonomie der einzelnen Wissensgebiete, alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte, sodass für die Gliederung der Wissenschaften nur noch sachliche, das hiess metaphysische Gesichtspunkte übrig blieben. So haben nach einander die mechanistische, die geometrische, die psychologische, die dlalektische, in neuester Zeit die entwicklungsgeschichtliche Methode den Anspruch erhoben, von den engeren Feldern ihrer ursprünglichen fruchtbaren Anwendung ihre Herrschaft möglichst über den ganzen Umfang der menschlichen Erkenntniss zu erweitern. Je grösser der Widerstreit dieser verschiedenen Bestrebungen erscheint, um so mehr erwächst für die Besonnenheit der logischen Theorie die weitausschauende Aufgabe, eine gerechte Abwägung jener Ansprüche und eine ausgleichende Scheidung ihrer Geltungsbereiche durch die allgemeinen Bestimmungen der Erkenntnisslehre zu gewinnen. Die Aussichten dafür stehen nicht ungünstig. Durch Kant ist die methodische Auseinandersetzung der Philosophie mit der Mathematik und im Princip auch mit der Psychologie vollzogen worden. Seitdem hat das neunzehnte Jahrhundert bei einer gewissen Erlahmung des anfangs überreizten philosophischen Triebes eine um so buntere Mannigfaltigkeit von Bestrebungen und Bewegungen in den besonderen Wissenschaften erlebt: in der Bewältigung zahlreicher neuer und neuartiger Probleme ist der methodische Apparat nach allen Seiten hin verändert und in nie vorher dagewesenem Masse zugleich verbreitert und verfeinert worden. Dabei haben sich die verschiedenen Verfahrungsweisen vielfach ineinander verästelt, und wenn dann doch jede einzelne für sich eine herrschende Stellung in der allgemeinen Welt- und Lebensansicht unserer Tage verlangt, so erwachsen gerade daraus der theoretischen Philosophie neue Fragen: und solche sind es, für welche ich, ohne sie irgendwie erschöpfen zu wollen, Ihr Interesse in Anspruch zu nehmen wünsche.

   Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Einteilungen wie ich sie hier im Auge habe, sich nicht mit der Gliederung decken können, welche die Wissenschaften in der Abgrenzung der Fakultäten finden. Diese ist aus den praktischen Aufgaben der Universitäten und deren geschichtlicher Entwickelung hervorgegangen. Dabei hat der praktische Zweck häufig vereinigt, was in rein theoretischer Hinsicht zu trennen, und auseinandergerissen, was sonst eng zu verbinden wäre: und dasselbe Motiv hat die eigentlich scientifischen mit praktischen und technischen Disciplinen mehrfach verschmolzen. Doch meine man nicht, dass dies alles zum Schaden der wissenschaftlichen Tätigkeit gewesen wäre: vielmehr haben die praktischen Beziehungen auch hier den Erfolg gehabt, eine reichere und lebendigere Wechselwirkung. zwischen den verschiedenen Arbeitsgebieten hervorzurufen, als es vielleicht bei den abstracteren Zusammenfassungen des Gleichartigen, wie sie in den Akademien vorliegen, der Fall gewesen wäre. Gleichwohl zeigen die Verschiebungen, welche die Fakultätsordnungen der deutschen Universitäten, insbesondere hinsichtlich der ehemaligen facultas artium in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, eine gewisse Neigung den methodischen Motiven der Gliederung grössere Bedeutung einzuräumen.

   Geht man diesen Motiven mit nur theoretischem Interesse nach, so darf zunächst als giltig vorausgesetzt werden, dass wir die Philosophie und doch wohl noch immer auch die Mathematik den Erfahrungswissenschaften gegenüberstellen. Die beiden ersteren mögen unter dem alten Namen der «rationalen» Wissenschaften zusammengefasst werden, wenn auch in sehr verschiedener und hier nicht näher zu erörternder Bedeutung des Wortes. Es genügt für jetzt, ihre Gemeinsamkeit in der negativen Form auszusprechen, dass sie selbst nicht unmittelbar auf die Erkenntniss von etwas in der Erfahrung Gegebenen gerichtet sind, wenn auch die von ihnen gewonnenen Einsichten in anderen Wissenschaften für diesen Zweck verwendet werden können und sollen. Diesem gegenständlichen Momente entspricht auf der formalen Seite die logische Gemeinschaft, dass beide - Philosophie wie Mathematik - ihre Behauptungen niemals auf einzelne Wahrnehmungen oder auf Massen von Wahrnehmungen stützen, so sehr auch der tatsächliche, psychogenetische Anlass für ihre Untersuchungen und Entdeckungen in empirischen Motiven liegen mag. Unter Erfahrungswissenschaften dagegen verstehen wir diejenigen, deren Aufgabe es ist, eine irgendwie gegebene und der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit zu erkennen: ihr formales Merkmal besteht somit darin, dass sie zur Begründung ihrer Resultate neben den allgemeinen axiomatischen Voraussetzungen und der für alles Erkennen gleichmässig erforderlichen Richtigkeit des normalen Denkens durchweg einer Feststellung von Tatsachen durch Wahrnehmung bedürfen.

   Für die Einteilung dieser auf die Erkenntniss des Wirklichen gerichteten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich. Natur und Geist - das ist ein sachlicher Gegensatz, der in den Ausgängen des antiken und den Anfängen des mittelalterlichen Denkens zu beherrschender Stellung gelangt und in der neueren Metaphysik von Descartes und Spinoza bis zu Schelling und Hegel mit voller Schroffheit aufrecht erhalten worden ist. Sofern ich die Stimmungen der neuesten Philosophie und die Nachwirkungen der erkenntnisstheoretischen Kritik richtig beurteile, so würde diese in der allgemeinen Vorstellungs- und Ausdrucksweise haften gebliebene Scheidung jetzt nicht mehr als so sicher und selbstverständlich anerkannt werden, dass sie unbesehen zur Grundlage einer Klassifikation gemacht werden dürfte. Dazu kommt, dass dieser Gegensatz der Objekte sich nicht mit einem solchen der Erkenntnissweisen deckt. Denn, wenn Locke den cartesianischen Dualismus auf die subjektive Formel brachte, äussere und innere Wahrnehmung - sensation und reflection - als die beiden gesonderten Organe für die Erkenntniss einerseits der körperlichen Aussenwelt, der Natur, andererseits der inneren Geisteswelt einander gegenüberzustellen, so hat wiederum die Erkenntnisskritik der neuesten Zeit diese Auffassung mehr als je in's Schwanken gebracht und die Berechtigung zur Annahme einer «inneren Wahrnehmung» als besonderer Erkenntnissart wenigstens stark in Zweifel gezogen. Auch würde weiterhin keineswegs zugegeben werden, dass die Tatsachen der sogenannten Geisteswissenschaften lediglich durch innere Wahrnehmung begründet wären. Vor allem aber zeigt sich die Incongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungsprinzips darin, dass zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine empirische Disciplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisiren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften. Daher sie denn es sich hat gefallen lassen müssen, gelegentlich als die «Naturwissenschaft des inneren Sinnes» oder gar als «geistige Naturwissenschaft» bezeichnet zu werden.

   Eine Einteilung, welche solche Schwierigkeiten aufweist, hat keinen systematischen Bestand: indessen bedarf sie vielleicht, um ihn zu gewinnen, nur geringer Veränderungen der Begriffsbestimmung. Worin besteht denn die methodische Verwandtschaft der Psychologie mit den Naturwissenschaften? Offenbar darin, dass jene wie diese ihre Tatsachen feststellt, sammelt und verarbeitet nur unter dem Gesichtspunkte und zu dem Zwecke, daraus die allgemeine Gesetzmässigkeit zu verstehen, welcher diese Tatsachen unterworfen sind. Dabei bringt es freilich die Verschiedenheit der Gegenstände mit sich, dass die besonderen Methoden zur Feststellung der Tatsachen, die Art und Weise ihrer inductiven Verwertung und die Formel, auf welche die gefundenen Gesetze sich bringen lassen, sehr verschieden sind; und doch ist in dieser Hinsicht der Abstand der Psychologie z. B. von der Chemie kaum grösser, als etwa der der Mechanik von der Biologie: aber - worauf es hier ankommt - alle diese sachlichen Differenzen treten weit zurück hinter der logischen Gleichheit, welche alle diese Disciplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer Erkenntnissziele besitzen: es sind immer Gesetze des Geschehens, welche sie suchen, mag dies Geschehen nun eine Bewegung von Körpern, eine Umwandlung von Stoffen, eine Entfaltung des organischen Lebens oder ein Process des Vorstellens, Fühlens und Wollens sein.

   Demgegenüber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disciplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen. Auch auf dieser Seite sind die Gegenstände und die besonderen Kunstgriffe, wodurch man sich ihrer Auffassung versichert, von äusserster Mannigfaltigkeit. Da handelt es sich etwa um ein einzelnes Ereigniss oder um eine zusammenhangende Reihe von Taten und Geschicken, um das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, um die Eigenart und die Entwickelung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der Litteratur, der Kunst oder der Wissenschaft: und jeder dieser Gegenstände verlangt eine seiner Besonderheit entsprechende Behandlung. Immer aber ist der Erkenntnisszweck der, dass ein Gebilde des Menschenlebens, welches in einmaliger Wirklichkeit sich dargestellt hat, in dieser seiner Tatsächlichkeit reproducirt und verstanden werde. Es ist klar, dass hiermit der ganze Umfang der historischen Disciplinen gemeint ist. Hier haben wir nun eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor uns. Das Einteilungsprincip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnissziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singuläre, assertorische Satz. Und so knüpft sich dieser Unterschied an jenes wichtigste und entscheidende Verhältniss im menschlichen Verstande, das von Sokrates als die Grundbeziehung alles wissenschaftlichen Denkens erkannt wurde: das Verhältniss des Allgemeinen zum Besonderen. Die antike Metaphysik spaltete sich von hier aus, indemPlaton das Wirkliche in den unveränderlichen Gattungsbegriffen, Aristoteles dasselbe in den zweckvoll sich entwickelnden Einzelwesen suchte. Die moderne Naturwissenschaft hat uns gelehrt, das Seiende zu definiren durch die dauernden Notwendigkeiten des an ihm stattfindenden Geschehens: sie hat das Naturgesetz an die Stelle der platonischen Idee gesetzt.

   So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntniss des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereignisswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch. Wollen wir uns an die gewohnten Ausdrücke halten, so dürfen wir ferner in diesem Sinne von dem Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Disciplinen reden, vorausgesetzt dass wir in Erinnerung behalten, in diesem methodischen Sinne die Psychologie durchaus zu den Naturwissenschaften zu zählen.

   Überhaupt aber bleibt dabei zu bedenken, dass dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst classificirt. / Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat dass dieselben Gegenstände zum Object einer nomothetisclen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können. Das hängt damit zusammen, dass der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen in gewissem Betracht relativ ist. Was innerhalb sehr grosser Zeiträume keine unmittelbar merkliche Veränderung erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Giltiges, d. h. als etwas Einmaliges erweisen. So ist eine Sprache in allen ihren einzelnen Anwendungen durch ihre Formgesetze beherrscht, die bei allem Wechsel des Ausdrucks dieselben bleiben: aber andererseits ist diese selbe ganze besondere Sprache mitsammt ihrer ganzen besonderen Formgesetzmäßigkeit doch nur eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im menschlichen Sprachleben überhaupt. Ähnliches gilt für die Physiologie des Leibes, für die Geologie, in gewissem Sinne sogar für die Astronomie; und damit wird das historische Princip auf das Gebiet der Naturwissenschaften hinübergetrieben

   Das klassische Beispiel dafür bildet die Wissenschaft der organischen Natur. Als Systematik ist sie nomothetischen Charakters insofern als sie die innerhalb der paar Jahrtausende bisheriger menschlicher Beobachtung sich stets gleichbleibenden Typen der Lebewesen als deren gesetzmässige Form betrachten darf. Als Entwicklungsgeschichte, wo sie die ganze Reihenfolge der irdischen Organismen als einen im Laufe der Zeit sich allmählich gestaltenden Process der Abstammung oder Umwandlung darstellt, für dessen Wiederholung auf irgend einem andern Weltkörper nicht nur keine Gewähr, sondern nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, - da ist sie eine idiographische, historische Disciplin. Schon Kant nannte, als er den Begriff der modernen Descendenztheorie im voraus entwarf denjenigen welcher sich dieses «Abenteuers der Vernunft» erkühnen würde den zukünftigen «Archäologen der Natur».


   Fragen wir, wie sich zu diesem entscheidenden Gegensatze unter den Specialwissenschaften bisher die logische Theorie verhalten hat, so stossen wir genau auf den Punkt, an welchem diese am meisten reformbedürftig bis auf den heutigen Tag ist. Ihre ganze Entwicklung zeigt die entschiedenste Bevorzugung der nomothetischen Denkformen. Das ist freilich überaus erklärlich. Da alles wissenschaftliche Forschen und Beweisen in der Form des Begriffs von Statten geht, so bleibt für die Logik immer die Untersuchung über Wesen, Begründung und Anwendung des Allgemeinen das nächste und bedeutendste Interesse. Dazu kommt die Wirkung des historischen Verlaufs. Die griechische Philosophie ist aus naturwissenschaftlichen Anfängen, aus der Frage nach der phúsis; d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen hervorgewachsen, und in einem parallelen Verlauf, der auch der causalen Vermittlung durch historische Tradition in der Renaissance nicht entbehrte, ist die moderne Philosophie zu ihrer Selbständigkeit ebenfalls an der Hand der Naturwissenschaft emporgediehen. So konnte es nicht anders sein, als dass die logische Reflexion sich in erster Linie den nomothetischen Denkformen zuwandte und dauernd ihre allgemeinen Theorien von diesen abhängig machte. Dies gilt noch immer. Unsere ganze traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss ist noch immer auf das aristotelische Princip zugeschnitten, nach welchem der generelle Satz im Mittelpunkte der logischen Untersuchung steht. Man braucht nur irgend ein Lehrbuch der Logik aufzuschlagen, um sich zu überzeugen, dass nicht nur die grosse Mehrzahl der Beispiele aus den mathematischen und naturwissenschaftlichen Disciplinen gewählt wird, sondern dass auch solche Logiker, welche vollen Sinn für die Eigenart historischer Forschung zeigen, doch die letzten Richtpunkte ihrer Theorien auf der Seite des nomothetischen Denkens suchen. Es wäre zu wünschen, aber es sind noch sehr wenige Ansätze dazu vorhanden, dass die logische Reflexion der grossen geschichtlichen Wirklichkeit, welche im historischen Denken selbst vorliegt, ebenso gerecht werde, wie sie die Formen der Naturforschung bis in das Einzelne hinein zu begreifen verstanden hat.

   Einstweilen lassen Sie uns das Verhältniss zwischen
nomothetischem und idiographischem Wissen etwas näher betrachten. Gemeinsam ist, wie gesagt, der Naturforschung und der Historik der Charakter der Erfahrungswissenschaft: d. h. beide haben zum Ausgangspunkte - logisch gesprochen, zu Prämissen ihrer Beweise - Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung; und auch darin stimmen sie überein, dass die eine so wenig wie die andere sich mit dem begnügen kann, was der naive Mensch so gewöhnlich zu erfahren meint. Beide bedürfen zu ihrer Grundlage einer wissenschaftlich gereinigten, kritisch geschulten und in begrifflicher Arbeit geprüften Erfahrung. In demselben Masse wie man seine Sinne sorgfältig erziehen muss, um die feinen Unterschiede in der Gestaltung nächstverwandter Lebewesen festzustellen, um mit Erfolg durch ein Mikroskop zu sehen, um mit Sicherheit die Gleichzeitigkeit eines Pendelschlages und der Einstellung einer Nadel aufzufassen, - ebenso will es mühsam gelernt sein, die Eigenart einer Handschrift zu bestimmen, den Stil eines Schriftstellers zu beobachten oder den geistigen Horizont und den Interessenkreis einer historischen Quelle zu erfassen. Das eine kann man von Natur meist so unvollkommen wie das andere: und wenn nun die Tradition der wissenschaftlichen Arbeit nach beiden Richtungen eine Fülle feiner und feinster Kunstgriffe hervorgebracht hat, welche der Jünger der Wissenschaft sich praktisch aneignet, so beruht jede solche. Spezialmethode einerseits auf sachlichen Einsichten, die schon gewonnen oder wenigstens hypothetisch angenommen sind, andererseits aber auf logischen Zusammenhängen oft sehr verwickelter Art. Hier ist nun wiederum zu bemerken, dass sich bisher das Interesse der Logik weit mehr der nomothetischen als der idiographischen Tendenz zugewendet hat. Über die methodische Bedeutung von Präcisionsinstrumenten, über die Theorie des Experiments, über die Wahrscheinlichkeitsbestimmung aus mehrfachen Beobachtungen desselben Objekts und ähnliche Fragen liegen eingehende logische Untersuchungen vor: aber die parallelen Probleme der historischen Methodologie haben von Seiten der Philosophie nicht entfernt gleiche Beachtung gefunden. Es hängt dies damit zusammen, dass, wie es in der Natur der Sache liegt und wie die Geschichte bestätigt, sich philosophische und naturwissenschaftliche Begabung und Leistung sehr viel häufiger zusammenfinden, als philosophische und historische. Und doch würde es vom äussersten Interesse für die allgemeine Erkenntnisslehre sein, die logischen Formen herauszuschälen, nach denen sich in der historischen Forschung die gegenseitige Kritik der Wahrnehmungen vollzieht, die «Interpolationsmaximen» der Hypothesen zu formuliren und so auch hier zu bestimmen, welchen Anteil an dem sich in allen seinen Momenten gegenseitig stützenden Gebäude der Welterkenntniss einerseits die Tatsachen und andererseits die allgemeinen Voraussetzungen haben, nach denen wir sie deuten.

   Doch hier kommen schliesslich alle Erfahrungswissenschaften an dem letzten Princip überein, welches in der widerspruchslosen Übereinstimmung aller auf denselben Gegenstand bezüglichen Vorstellungselemente besteht: der Unterschied zwischen Naturforschung und Geschichte beginnt erst da, wo es sich um die erkenntnissmässige Verwertung der Tatsachen handelt. Hier also sehen wir: die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen, in der andern wird es bei der liebevollen Ausprägung des Besonderen festgehalten. Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert, es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflectirt darin nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmässige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an Demjenigen was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen wie der Künstler an Demjenigen was in seiner Phantasie ist. Darin wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen, und die der historischen Disciplinen mit den belles lettres.

   Hieraus folgt, dass in dem naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraction vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur Anschaulichkeit. Diese Behauptung wird nur demjenigen unerwartet kommen, der sich gewöhnt hat, den Begriff der Anschauung in materialistischer Weise auf das psychische Aufnehmen des sinnlich Gegenwärtigen zu beschränken, und der vergessen hat, dass es Anschaulichkeit, d. h. individuelle Lebendigkeit der ideellen Gegenwart für das Auge des Geistes ganz ebenso gibt, wie für das des Leibes. Freilich ist jene materielle Auffassung heutzutage weit verbreitet und sie ist nicht ohne ernste Bedenken. Je mehr man sich gewöhnt, überall wo Vorstellungen erregt werden sollen, möglichst Vieles zum Betasten und Besehen vorzuzeigen, um so mehr setzt man durch das Übermass des receptiven Anschauens die spontane Anschauungsfähigkeit der Gefahr aus, ungeübt zu verkümmern, und dann wundert man sich hinterher, wenn die sinnliche Phantasie träge und leistungsunfähig ist, sobald sie nicht leiblich tasten und sehen kann. Das gilt für die Pädagogik ebenso wie für die Kunst, insbesondere für die dramatische, in der man sich gegenwärtig alle Mühe gibt, die Augen so zu beschäftigen, dass für die innere Anschauung der dichterischen Gestalten nichts mehr übrig bleibt.

   Dass aber die Stärke der Naturforschung nach der Seite der Abstraction, diejenige der Geschichte nach der der Anschaulichkeit liegt, wird noch mehr einleuchten, wenn man ihre Forschungsergebnisse vergleicht. So fein gesponnen auch die begriffliche Arbeit sein mag, deren die historische Kritik beim Verarbeiten der Überlieferung bedarf, ihr letztes Ziel ist doch stets, aus der Masse des Stoffes die wahre Gestalt des Vergangenen zu lebensvoller Deutlichkeit herauszuarbeiten: und was sie liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichthum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit. So reden zu uns durch den Mund der Geschichte, aus der Vergessenheit zu neuem Leben erstanden, vergangene Sprachen und vergangene Völker, ihr Glauben und Gestalten, ihr Ringen nach Macht und Freiheit, ihr Dichten und Denken. Wie anders ist die Welt, welche die Naturforschung vor uns aufbaut! So anschaulich ihre Ausgangspunkte sein mögen, - ihre Erkenntnissziele sind die Theorien, in letzter Instanz mathematische Formulirungen von Gesetzen der Bewegung: sie lässt - echt platonisch - das einzelne Sinnending, das entsteht und vergeht, in wesenlosem Scheine hinter sich und strebt zur Erkenntniss der gesetzlichen Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbarkeit über alles Geschehen herrschen. Aus der farbigen Welt der Sinne präparirt sie ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten, - der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgiltig gegen das Vergängliche, wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Bleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung.

   Geht aber so tief der Gegensatz zwischen beiden Arten der Erfahrungswissenschaft, so begreift es sich, weshalb zwischen ihnen der Kampf um den bestimmenden Einfluss auf die allgemeine Welt- und Lebensansicht des Menschen entbrennen muss und entbrannt ist. Es fragt sich: was ist für den Gesammtzweck unserer Erkenntniss wertvoller, das Wissen um die Gesetze oder das um die Ereignisse? das Verständniss des allgemeinen zeitlosen Wesens oder der einzelnen zeitlichen Erscheinungen? Und es ist von vornherein klar, dass diese Frage nur aus einer Besinnung auf die letzten Ziele der wissenschaftlichen Arbeit entschieden werden kann.

   Nur flüchtig streife ich hier die äusserliche Beurteilung nach der Utilität. Vor ihr sind beide Denkrichtungen gleichmässig zu rechtfertigen. Das Wissen allgemeiner Gesetze hat überall den praktischen Wert, die Voraussicht künftiger Zustände und ein zweckmässiges Eingreifen des Menschen in den Lauf der Dinge zu ermöglichen. Das gilt für die Bewegungen der Innenwelt ebenso wie für diejenigen der materiellen Aussenwelt, in der letzteren namentlich gestattet die durch das nomothetische Denken erworbene Kenntniss die Herstellung derjenigen Werkzeuge durch welche die Herrschaft des Menschen über die Natur in stetig zunehmendem Masse erweitert wird. Nicht minder aber ist alle zweckvolle Tätigkeit im gemeinsamen Menschenleben auf die Erfahrungen des historischen Wissens angewiesen. Der Mensch ist, um ein antikes Wort zu variiren, das Thier, welches Geschichte hat. Sein Kulturleben ist ein von Generation zu Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muss das Verständniss seiner Entwicklung haben. Wo dieser Faden einmal abreisst, da muss er - das hat die Geschichte selbst bewiesen - nachher mühsam wieder aufgesucht und angesponnen werden. Sollte dereinst durch irgend ein elementares Ereigniss, sei es in der Aussengestaltung unseres Planeten, sei es in der Innengestaltung der Menschenwelt, die heutige Kultur verschüttet werden - wir können sicher sein, dass die späteren Geschlechter nach ihren Spuren ebenso eifrig graben werden, wie wir nach denen des Altertums. Schon aus diesen Gründen muss die Menschheit ihren grossen historischen Schulsack tragen, und wenn er im Laufe der Zeit immer schwerer und schwerer zu werden droht, so wird es der Zukunft an Mitteln nicht fehlen, ihn vorsichtig und ohne Schaden zu erleichtern.

   Aber nicht solcher Nutzen ist es, wonach wir fragen: hier handelt es sich um den inneren Wissenswert.

   Freilich auch nicht um die persönliche Befriedigung, welche der Forscher an seinem Erkennen lediglich um dessen selbst willen hat. Denn dieser subjektive Genuss des Herauskriegens, des Entdeckens und Feststellens ist schliesslich bei allem Wissen in gleicher Weise vorhanden. Sein Mass wird viel weniger durch die Bedeutung des Gegenstandes, als durch die Schwierigkeit der Untersuchung bestimmt.

   Zweifellos jedoch gibt es daneben objektive und doch rein theoretische Unterschiede im Erkenntnisswert der Gegenstände: ihr Mass aber ist kein anderes als der Grad, in welchem sie zur Gesamterkenntniss beitragen. Das Einzelne bleibt ein Objekt müssiger Kuriosität, wenn es kein Baustein in einem allgemeineren Gefüge zu werden vermag. So ist im wissenschaftlichen Sinne schon «Tatsache» ein teleologischer Begriff. Nicht jedes beliebige Wirkliche ist eine Tatsache für die Wissenschaft, sondern nur das, woraus sie - kurz gesagt - etwas lernen kann. Das gilt vor allem für die Geschichte. Es geschieht gar Vieles, was keine historische Tatsache ist. DassGoethe im Jahre 1780 sich eine Hausglocke und einen Stubenschlüssel, sowie am 22. Februar ein Billetkästchen hat anfertigen lassen, ist durch eine völlig echt überlieferte Schlosserrechnung urkundlich erwiesen: es ist demnach enorm wahr und gewiss also geschehen, und doch ist es keine historische Tatsache, weder eine litteraturgeschichtliche noch eine biographische. Indessen ist andrerseits zu bedenken, dass es innerhalb gewisser Grenzen unmöglich ist, von vornherein zu entscheiden, ob dem Einzelnen, was sich der Beobachtung oder der Ueberlieferung darbietet, dieser Werth einer «Tatsache» zukommt oder nicht; daher es die Wissenschaft machen muss, wie Goethe im späten Alter: einhamstern, aufspeichern, wessen sie habhaft werden kann, froh des Gedankens, nichts zu verabsäumen von dem, was sie einmal verwenden könnte, und des Vertrauens, dass die Arbeit der kommenden Geschlechter, soweit sie nicht durch die äussern Zufälle der Ueberlieferung beeinträchtigt wird, wie ein grosses Sieb das Brauchbare bewahren und das Nutzlose versinken lassen wird.

   Aber dieser wesentliche Zweck alles Einzelwissens, sich einem grossen Ganzen einzufügen, ist nun keineswegs auf die induktive Unterordnung des Besonderen unter den Gattungsbegriff oder unter das allgemeine Urteil beschränkt: er erfüllt sich ebenso da, wo das einzelne Merkmal sich als bedeutsamer Bestandteil einer lebendigen Gesammtanschauung einordnet. Jenes Haften am Gattungsmässigen ist eine Einseitigkeit des griechischen Denkens, fortgepflanzt von den Eleaten zu Platon, der, wie das wahre Sein so auch die wahre Erkenntniss nur im Allgemeinen fand, und von ihm bis zu unseren Tagen, wo sich Schopenhauer zum Sprecher dieses Vorurtheils gemacht hat, wenn er der Geschichte den Wert echter Wissenschaft absprach, weil sie stets nur das Besondere und nie das Allgemeine erfasse. Wohl ist es richtig, dass der menschliche Verstand Vieles auf einmal nur dadurch vorzustellen vermag, dass er den gemeinsamen Inhalt des zerstreuten Einzelnen auffasst: aber je mehr er dabei zum Begriff und Gesetz strebt, umsomehr muss er das Einzelne als solches hinter sich lassen, vergessen und preisgeben. Wir sehen das da, wo man in spezifisch moderner Weise versucht «aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen», wie es die sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus vorgeschlagen hat. Was bleibt bei einer solchen Induktion von Gesetzen des Volkslebens schliesslich übrig? Es sind ein paar triviale Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigen Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen lassen.

   Dem gegenüber muss daran festgehalten werden, dass sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht. Bedenken wir nur wie schnell sich unser Gefühl abstumpft, sobald sich sein Gegenstand vervielfältigt oder als ein Fall unter tausend gleichartigen erweist. «Sie ist die erste nicht» - heisst es an einer der grausamsten Stellen des Faust. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle. Hierauf beruht Spinoza's Lehre von der Überwindung der Gemüthsbewegungen durch die Erkenntniss: denn für ihn ist Erkenntniss Untertauchen des Besonderen ins Allgemeine, des Einmaligen ins Ewige.

   Wie aber alle lebendige Wertbeurteilung des Menschen an der Einzigkeit des Objekts hängt, das erweist sich vor Allem in unserer Beziehung zu den Persönlichkeiten. Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, dass ein geliebtes, ein verehrtes Wesen auch nur noch einmal ganz ebenso existire? ist es nicht schreckhaft, unausdenkbar, dass von uns selbst mit dieser unserer individuellen Eigenart noch ein zweites Exemplar in der Wirklichkeit vorhanden sein sollte? Daher das Grauenhafte, das Gespenstige in der Vorstellung des Doppelgängers - auch bei noch so grosser zeitlicher Entfernung. Es ist mir immer peinlich gewesen, dass ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihrem Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon, wer weiss wie oft dagewesen sein und, wer weiss wie oft sich noch wiederholen soll - wie entsetzlich der Gedanke, dass ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehasst, gedacht und gewollt haben soll und dass, wenn das grosse Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesammtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Princip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen. Das war die erste grosse und starke Empfindung für das unveräusserliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten.

   Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze, welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disciplinen entlehnen können. Jede Causalerklärung irgend eines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus, und wenn man historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. Wer keine Ahnung davon hätte, wie Menschen überhaupt denken, fühlen und wollen, der würde nicht erst bei der Zusammenfassung der einzelnen Ereignisse zur Erkenntniss von Begebenheiten - er würde schon bei der kritischen Feststellung der Tatsachen scheitern. Freilich ist es dabei sehr merkwürdig, wie nachsichtig im Grunde genommen die Ansprüche der Geschichtswissenschaft an die Psychologie sind. Der notorisch äusserst unvollkommene Grad, bis zu welchem bisher die Gesetze des Seelenlebens haben formulirt werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden: sie haben durch natürliche Menschenkenntniss, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewusst, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen. Das gibt sehr zu denken und lässt es recht zweifelhaft erscheinen, ob die von den Neuesten geplante mathematisch-naturgesetzliche Fassung der elementaren psychischen Vorgänge einen nennenswerthen Ertrag für unser Verständniss des wirklichen Menschenlebens liefern wird.

   Trotz solcher Unzulänglichkeiten der Ausführung im Einzelnen ist hieraus klar, dass in der Gesammterkenntniss, zu welcher sich alle wissenschaftliche Arbeit zuletzt vereinigen soll, diese beiden Momente in ihrer methodischen Sonderstellung neben einander bleiben: den festen Rahmen unseres Weltbildes gibt jene allgemeine Gesetzmässigkeit der Dinge ab, welche, über allen Wechsel erhaben, die ewig gleiche Wesenheit des Wirklichen zum Ausdruck bringt; und innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzelgestaltungen ihrer Gattungserinnerung.

   Diese beiden Momente des menschlichen Wissens lassen sich nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückführen. Wohl legt die Causalerklärung des einzelnen Geschehens mit dessen Reduction auf allgemeine Gesetze den Gedanken nahe, dass es in letzter Instanz möglich sein müsse, aus der allgemeinen Naturgesetzmässigkeit der Dinge auch die historische Sondergestaltung des wirklichen Geschehens zu begreifen. So meinte Leibniz, dass schliesslich alle vérités de fait ihre zureichenden Gründe in den vérités éternelles haben. Aber er vermochte dies nur für das göttliche Denken zu postuliren, nicht für das menschliche auszuführen.

   Man kann sich dies an einem einfachen logischen Schema klar machen. In der Causalbetrachtung nimmt jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an, dessen Obersatz ein Naturgesetz, bezw. eine Anzahl von gesetzlichen Notwendigkeiten, dessen Untersatz eine zeitlich gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen, und dessen Schlusssatz dann das wirkliche einzelne Ereigniss ist. Wie aber logisch der Schlusssatz eben zwei Prämissen voraussetzt, so das Geschehen zwei Arten von Ursachen: einerseits die zeitlose Notwendigkeit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt. Die Ursache einer Explosion ist in der einen - nomothetischen - Bedeutung die Natur der explosiblen Stoffe, die wir als chemisch-physikalische Gesetze aussprechen, in der anderen - idiographischen - Bedeutung eine einzelne Bewegung, ein Funke, eine Erschütterung oder Ähnliches. Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereigniss, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet. So wenig, wie der bei der syllogistischen Subsumtion angefügte Untersatz eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim Geschehen die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten. Vielmehr ist diese Bedingung als ein selbst zeitliches Ereigniss wiederum auf eine andere zeitliche Bedingung zurückzuführcn, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit gefolgt ist: und so fort bis in infinitum. Ein Anfangsglied dieser endlosen Reihe ist begrifflich nicht zu denken; und auch wenn man versucht es vorzustellen, so ist ein solcher Anfangszustand doch immer ein Neues, was zu dem allgemeinen Wesen der Dinge hinzutritt, ohne daraus zu folgen. Spinoza hat dies durch die Unterscheidung der beiden Causalitäten, der unendlichen und der endlichen, ausgedrückt und damit in genialer Einfachheit viele Bedenken unnötig gemacht, mit denen sich neuere Logiker über das «Problem der Vielheit der Ursachen» beunruhigt haben. In der Sprache der heutigen Wissenschaft liesse sich sagen: aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen selbst. Aus keiner «Weltformel» kann die Besonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehörte dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz.

   Da es somit kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt, bis zu welchem die Causalkette der Bedingungen zurückverfolgt werden könnte, so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nicht, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinirbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies Unfasshare erscheint vor unserem Bewusstsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen Freiheit.

   Eine Menge metaphysischer Begriffe und Probleme ist an diesem Punkte entsprungen. So unglücklich jene, so verfehlt diese sein mögen: das Motiv bleibt bestehen. Die Gesammtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmässigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondre aus dem Allgemeinen, das «Viele» aus dem «Einen», das «Endliche» aus dem «Unendlichen», das «Dasein» aus dem «Wesen» begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riss, welchen die grossen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben.

   Das sah Leibniz, als er den vérités éternelles ihren Ursprung im göttlichen Verstande, den vérités de fait den ihrigen im göttlichen Willen anwies. Das sah Kant, als er in der glücklichen aber unbegreiflichen Tatsache, dass alles in der Wahrnehmung Gegebene sich unter die Formen des Intellects bringen und danach ordnen und verstehen lässt, eine über unser theoretisches Wissen weit hinausragende Andeutung göttlicher Zweckzusammenhänge fand.

   In der Tat kann über diese Fragen kein Denken mehr Aufschluss geben. Die Philosophie vermag zu zeigen, bis wohin die Erkenntnisskraft der einzelnen Disciplinen reicht; über diese hinaus aber kann sie selbst keine gegenständliche Einsicht mehr gewinnen. Das Gesetz und das Ereigniss bleiben als letzte, incommensurable Grössen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen. Hier ist einer der Grenzpunkte, an denen der wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur noch die Frage stellen kann in dem klaren Bewusstsein, dass er nie im Stande sein wird, sie zu lösen.