Padua, Anatomiesaal von 1593 aus Die Wendeltreppe
Dass also Galileo sich (gegen die aristotelische mittelalterliche Scholastik) ausdrücklich auf die Philosophie Platos zurück besann und dessen Lehre von den ewigen “Ideen” umformte in die Vorstellung von “Naturgesetzen”, das war die materiale Voraussetzung der modernen Wissenschaften. Die formale Voraussetzung war: Kritizität, und auch die hatte die Philosoühie begründet. Der Rahmen, in dem Philosophie seit ihren Anfängen Statt findet, ist Öffentlichkeit. Öffentlichkeit und Kritik, Kritik und Öffentlichkeit, das ist schlechterdings dasselbe. Philosophie wird nicht privat betrieben, sondern im Dialog mit dem anders Denkenden. Heraklit polemisierte gegen den gesunden Menschenverstand, Parmenides polemisierte gegen Heraklit, die Sophisten gegen Parmenides, Plato gegen die Sophisten. Und immer so weiter. Es entstehen Schulen, Akademien und freilich auch geheime Orden und Sekten wie Stoiker und Pythagoreer. Aber das Entscheidende: Sie alle konkurrieren auf dem freien Markt der Ideen.
Das gilt auch, allen Vorurteilen zum Trotz, von der Philosophie des “finsteren” Mittelalters. Zwar galt sie damals als “Magd der Theo- logie” (ancilla theologiae),
aber es kommt schon darauf an, wie Kant später bemerkte, ob die Magd
der gnädigen Frau die Schleppe hinterher trägt oder ihr mit dem Licht
voran den Weg weist! Und der wesentlich Beitrag der Scholastiker zum
Aufkommen der modernen Wissenschaften war, dass sie ihnen ihr Medium geschaffen haben: die “Gelehrtenrepublik” (res publica eruditorum)
an den Universitäten von Palermo bis Uppsala, von Dubl in bis Wilna, wo
nur eine Sprache, Latein, gesprochen wurde, und keiner etwas von sich
geben konnte, ohne dass es nicht gleich auf dem (damals) schnellsten
Wege von allen andern einer kritischen Sichtung unterzogen wurde. Und
die waren in ihrer Kritik nicht zimperlich! Erst so ist das Wissen zu einer gesellschaftlichen Instanz geworden.
Erst durch diesen Vorlauf konnten die Akademien und wissenschaftlichen
Societäten entstehen, in denen Newton und Leibniz das, was wir heute als
“Wissenschaft” kennen, gründen konnten.
Dabei war das Bewusstsein, dass wahres Wissen immer von der Mög- lichkeit der Letztbegründung abhängt, Newton ebenso gegenwärtig wie Leibniz. Philosophiae naturalis principia mathematica heißt
sein Hauptwerk, und Leibniz ist bis heute selbst in der Umgangssprache
als der Denker der “prästabilierten Harmonie” präsent.
Aber das war eben jene Metaphysik, der die Drei Kritiken von Immanuel Kant für immer den Garaus gemacht haben. Verzichtet also die
Wissen- schaft seither auf einen ‘letzten Grund’ ihres Wissens? Auf die
Frage nach Wahrheit? Na ja. Wir können sehr wohl erkennen, was unter gegebenen Prämissen
wahr ist. Freilich: Wahr ist es nur so fern, wie ich die Prämissen
ausdrücklich mit denke. Und wer verbürgt nun die Richtigkeit dieser
Prämissen? Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Es ist die Republik der
Wissenschaftler, die das tut, Tag für Tag aufs Neue, und ihr gehört
jeder an, der am Werk der unablässigen Überprüfung mit arbeitet (auf das
Risiko hin, dass ihm alle andern in die Waden beißen: Das gehört dazu.)
Der Wahrheitsbegriff der modernsten Wissenschaften beruht auf einem Modus, den der Wiener Volksmund
umschreibt als “einstweilen definitiv”. Die ‘letzten Gründe’, von denen
sie ausgeht, sind dasjenige, was seit nunmehr vierzig Jahren als ihre Paradigmen bekannt
ist, und wie sehr es in der Wissenschaft heute wie eh um Wahrheit zu
tun ist, erkennt man an den so genannten “Paradigmen- wechseln”, die das
Unterste zu oberst kehren und der Nachwelt jeweils wie eine
‘wissenschaftliche Revolution’ erscheinen.
Glauben kann man das, was wahr ist, und was unwahr ist. Wissen kann man nur, was wahr ist. Alles andre müsste man glauben.
Wissen ist das, was der öffentlichen Prüfung durch die Gemeinschaft aller Denkenden Stand gehalten hat. Das ist “Maß und Substanz” der Wissenschaft. Es ist ein pragmatischer Begriff. Er muss sich jedesmal bewähren. So wie sich in der Öffentlichkeit ein Jeder jedesmal bewähren muss.
Exkurs
Im Schulunterricht wird es oft so dargestellt, als habe Galileo durch
die Einführung des Experiments die Naturkunde zu einer
Erfahrungs- wissenschaft umgestaltet. Das muss man mit den Worten Albert
Einsteins relativieren: dass die Erfahrung eine Theorie bestätigen oder
widerlegen könne; doch führt keine Weg aus der Erfahrung zur Theorie.
Anders gesagt: Das Experiment dient dazu, eine Theorie zu überprüfen,
aber ersonnen muss man sie vorher haben. Steven Weinberg [Physik-Nobelpreis 1979]
nennt es ein Vorurteil, dass es in der Wissenschaft darauf ankomme,
keine Vorurteile zu haben. Es kommt darauf an, die richtigen Vorurteile
zu haben.
Und
hier kommt Galileo wieder ins Spiel. Er hat nämlich (auf die
Philosophie Platos zurückgreifend) in die Physik das Vorurteil
eingeführt, “das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache
geschrieben”. Indem die Mathematik eine jedermann zugängliche, für
jedermann zwingend beweisbare Methode der gedanklichen Konstruktion ist,
hat er so die Naturwissenschaft zu einer allgemein zugänglichen Öffentlichkeit gemacht. Und hier kommt nun auch das Experiment zu seinem Recht, denn es hat dieselbe
Funktion: Indem die Versuchs- anordnungen von jedermann allerorten
jederzeit nachgestellt werden können, macht er nicht mehr nur die
Erarbeitung, sondern auch die Überprüfung der Theorie zu einer
öffentlichen Angelegenheit.
Der Empirismus im engeren Sinn ist eine durch Francis Bacon begründete Unterströmung
in der (insgesamt von Isaac Newton’s mathematischem Rationalismus
beherrschten) englischen Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhundert.
Ihm diente das Experiment hauptsächlich dazu, Alchemie und ärztliche
Kunst aus dem Dunst des Okkulten zu holen und öffentlicher Erörterung allererst zugänglich zu machen.
Merke:
Der Naturwissenschaftler beobachtet keines Wegs “die Natur” so lange,
bis sie ihm von allein ein Lied singt. Vielmehr reißt er
vorsätzlich ein winziges Stückchen aus ihr heraus, zwingt es in die Folterkammer
seines Labors und quält es kunstvoll so lange, bis es auf seine gezielten Fragen mit Ja oder Nein antwortet.
<zurück: III. Wie die Wissenschaft entstand.
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