Die Wissenschaftslehre ist also der Versuch eines vernünftigen Wesens, sich sein Bewusstsein zu erklären. Zu verstehen, was es ist, nämlich wie es verfährt. Nicht, wie es geworden ist: Enstanden ist es einmal, nun habe ich damit zu tun, wozu es geworden ist. Heute verfährt es so, als sei es immer so verfahren. Ich muss es auffassen als ein Ganzes: ein System.
Es mag wohl sein, dass unser Gehirn tatsächlich wie ein System funktioniert. Aber darum geht es bei der Ver- nunft nicht. Da geht es darum, sie aus sich selbst zu erklären: aus ihren eigenen Voraussetzungen und ohne auch nur in einem Moment einen äußeren Beitrag in Anspruch zu nehmen: Wer die Vernunft nicht immanent er- klärt, erklärt sie gar nicht. Vernünftig ist dabei nicht, dass kausal eines aus dem vorigen folgt, sondern dass sich eine Richtung ergibt, weil sie einen Zweck anstrebt. Vernünftig ist daran, dass sie jederzeit urteilt, welcher Zweck gelten soll.
Ihre Voraussetzung ist das Noumenon eines unbestimmt-bestimmbaren Wollens-überhaupt, am Zielpunkt muss folglich das Noumenon eines unbestimmt-bestimmbaren Zweckes-überhaupt stehen. Nur so ist Vernunft als System möglich.
Dass ein Bewusstsein sich als schlechterdings wollend auffasst; dass ein Bewusstsein sich als vernünftig begreift; dass ein Bewusstsein sich als schlechterdings zielgerichtet bestimmt: das alles bedeutet dasselbe. Ob aber diese Bedingungen gegeben sind, ist eine Frage an die historische Realität.
Dass sie jedoch sein soll, folgt aus ihr, sobald sie möglich geworden ist.
6. 6. 17
Eine Korrektur habe ich in den letzten Tagen allerdings vorgenommen: Ganz ohne einen "äußeren Beitrag" kommt auch die Wissenschaftslehre bei ihrer Rekonstruktion der Genesis der Vernunft nicht aus. Die Auffor- derung durch eine Reihe vernünftiger Wesen ist keine immanente Hervorbringung des sich-selbst-bestimmen- den Ichs, sondern greift in jene von außen ein. Aber eben nicht transzendent, nicht als ein 'erstes Individuum' und 'höheres, unbegreifliches Wesen', wie Fichte selbst es tat (und nicht anders konnte). Vielmehr muss die Per- spektive umgekehrt werden: Die Vorstellung des einen sich selbst setzenden und fortbestimmenden Ichs muss in der Wirklichkeit aufgefasst werden als Abstraktion der sich zusammenfindenden und gemeinsam ausbildenden 'Reihe vernünftiger Wesen'.
In der historische Wirklichkeit entsteht Vernunft nicht als Begegnung von zu-Bewusstsein-gekommenen Ein- zelichen, sondern das Bewusstein der Einzelnen erwächst aus dem tatsächlichen Verkehr historischer Individu- en miteinander, der ihren realen - sei es vorstellenden, sei es sinnlichen - Tätigkeiten vorgegeben ist, und der durch ihre Wechselwirkung den Übergang zu idealer Tätigkeit - Reflexion - ermöglicht hat.
Sorum betrachtet handelt es sich dann doch um eine immanente Genesis.
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