Freitag, 31. Mai 2019

Die immanente Genesis der Vernunft.



Die Wissenschaftslehre ist also der Versuch eines vernünftigen Wesens, sich sein Bewusstsein zu erklären. Zu verstehen, was es ist, nämlich wie es verfährt. Nicht, wie es geworden ist: Enstanden ist es einmal, nun habe ich damit zu tun, wozu es geworden ist. Heute verfährt es so, als sei es immer so verfahren. Ich muss es auffassen als ein Ganzes: ein System.

Es mag wohl sein, dass unser Gehirn tatsächlich wie ein System funktioniert. Aber darum geht es bei der Ver- nunft nicht. Da geht es darum, sie aus sich selbst zu erklären: aus ihren eigenen Voraussetzungen und ohne auch nur in einem Moment einen äußeren Beitrag in Anspruch zu nehmen: Wer die Vernunft nicht immanent er- klärt, erklärt sie gar nicht. Vernünftig ist dabei nicht, dass kausal eines aus dem vorigen folgt, sondern dass sich eine Richtung ergibt, weil sie einen Zweck anstrebt. Vernünftig ist daran, dass sie jederzeit urteilt, welcher Zweck gelten soll.

Ihre Voraussetzung ist das Noumenon eines unbestimmt-bestimmbaren Wollens-überhaupt, am Zielpunkt muss folglich das Noumenon eines unbestimmt-bestimmbaren Zweckes-überhaupt stehen. Nur so ist Vernunft als System möglich. 

Dass ein Bewusstsein sich als schlechterdings wollend auffasst; dass ein Bewusstsein sich als vernünftig begreift; dass ein Bewusstsein sich als schlechterdings zielgerichtet bestimmt: das alles bedeutet dasselbe. Ob aber diese Bedingungen gegeben sind, ist eine Frage an die historische Realität

Dass sie jedoch sein soll, folgt aus ihr, sobald sie möglich geworden ist.

6. 6. 17


Eine Korrektur habe ich in den letzten Tagen allerdings vorgenommen: Ganz ohne einen "äußeren Beitrag" kommt auch die Wissenschaftslehre bei ihrer Rekonstruktion der Genesis der Vernunft nicht aus. Die Auffor- derung durch eine Reihe vernünftiger Wesen ist keine immanente Hervorbringung des sich-selbst-bestimmen- den Ichs, sondern greift in jene von außen ein. Aber eben nicht transzendent, nicht als ein 'erstes Individuum' und 'höheres, unbegreifliches Wesen', wie Fichte selbst es tat (und nicht anders konnte). Vielmehr muss die Per- spektive umgekehrt werden: Die Vorstellung des einen sich selbst setzenden und fortbestimmenden Ichs muss in der Wirklichkeit aufgefasst werden als Abstraktion der sich zusammenfindenden und gemeinsam ausbildenden 'Reihe vernünftiger Wesen'. 

In der historische Wirklichkeit entsteht Vernunft nicht als Begegnung von zu-Bewusstsein-gekommenen Ein- zelichen, sondern das Bewusstein der Einzelnen erwächst aus dem tatsächlichen Verkehr historischer Individu- en miteinander, der ihren realen - sei es vorstellenden, sei es sinnlichen - Tätigkeiten vorgegeben ist, und der durch ihre Wechselwirkung den Übergang zu idealer Tätigkeit - Reflexion - ermöglicht hat. 

Sorum betrachtet handelt es sich dann doch um eine immanente Genesis.






Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. 

Donnerstag, 30. Mai 2019

Das reine und das bestimmte Wollen.


Es wird nicht behauptet, zuerst hätten die Menschen einen reinen Willen, danach würde er durch mannigfaltige dialektische Operationen zu einem empirischen. 

Hier geht es immer um die Erklärung des Bewusstseins aus der wirklichen Vorstellungstätigkeit. Das Grund- schema ist immer dies: Ich finde mich als dieses oder jenes tuend oder getan habend. Ich muss daraus schlie- ßen, dass ich es gekonnt habe. Diese Anschauung wird mir zum Begriff eines Vermögens. 

So muss der wirklich Wollende seinem wirklichen Wollen die Fähigkeit zum Wollen voraussetzen: Die konkrete Vorstellung ist nicht ohne die reflexive Hypostase der abstrakten Vorstellung "möglich"; d. h. möglich ist sie schon, solange ich nicht denke; wenn ich aber denke, muss ich so denken.

7. 6. 17



Das Wollen ist das unendlich zu-Bestimmende.

Ich werde nicht müde, es zu wiederholen: In der transzendentalen Auffassung, als Noumenon, ist das reine Wollen als das höchste Bestimmbare aufgefasst, denn es ist von Allem das allererste. Weil es aber reines Wollen ist, wird seine Bestimmbarkeit und das Übergehen zur Bestimmtheit nie zu einem Schluss kommmen, das Be- stimmen geht ins Unendliche fort. Den fiktiven Zielpunkt kann oder muss ich sogar mir denken als das Eine Absolute, Zweckbegriff an-sich als Gegenstand des Wollens an-sich; Noumena alle beide. 

In der transzendentalen Analyse ist das Wollen das letzte Aufgefundene, in der synthetischen Rekonstruktion ist es das erste Vorauszusetzende. In der Realität kommt das Denken - "Deliberieren" - vor dem Wollen, em- pirisch ist das Wollen immer schon bestimmt als das Wollen von diesem oder jenem, erst in der transzendenta- len Reflexion scheint auf, dass es dem Denken noumenal immer schon zu Grunde lag.


3. 6. 17


Einen Schluss wird das Bestimmen des Wollens nicht finden. Aber einen Sprung muss es finden, um an der entscheidenden Stelle fortgehen zu können: Es muss real werden, real nicht nur im Sinne des realen Vorstellens - von nichts anderem war bislang ja die Rede; sondern real im Sinne einer Wirkung in der Sinnenwelt (und nicht anders kann es real werden auch für andere vernünftige Wesen). Der Sprung ist der Übergang von einem Zwecksetzen 'an sich' - das lediglich vorstellbar ist - zum Setzen eines bestimmten Zwecks, nämlich eines Zwek- kes, der realisierbar ist in Raum uund Zeit: Das ist es ja, was eingangs als Vernunft verstanden wurde und was die Wissenschaftslehre analysiert hat und rekonstruieren will. 

In die Sinnenwelt war die reell vorstellende Tätigkeit in der bisherigen Rekonstruktion noch nie vorgestoßen. Wie käme sie jetzt dazu?  

Aus ihr selber kann der Anstoß nicht kommen, denn noch weiß sie nichts von der sinlichen Welt. Es muss ein Antoß von außen kommen. Es muss eine Aufforderung an sie ergehen, von einem vernünftigen Wesen gewiss, aber von einem, das schon in der Sinnenwelt steht. Es ist die schon verwirklichte Reihe vernünftiger Wesen, die das bislang bloß-vorstellende Ich auffordert, es ihnen gleichzutun und in der Sinnenwelt reale Zwecke zu verfolgen.
JE

Mittwoch, 29. Mai 2019

Nur, was gesetzt wurde, kann aufgehoben werden.

musculation

Es ist wie mit dem Paradox der Wahrheit. Wahr kann offenbar kein Ding oder Sachverhalt sein, sondern lediglich das Verhältnis meiner Vorstellung zu ihm. Die Frage, ob es Wahrheit der Vorstellung geben könnte, setzt also voraus, dass ich mir von der Wahrheit der Vorstellung eine Vorstellung bereits gemacht habe; ich kann also nicht mehr fragen, ob das möglich war. Ich kann immer nur fragen, ob diese Vorstellung wahr ist.

Mit andern Worten, positio und negatio sind nicht logisch gleichrangig - und daher ontologisch schon gar nicht.

(Ein Ding wird nicht gesetzt. Es wird vorgefunden. Das Vorgefundene wird bestimmt. Bestimmen heißt: Setzen seiner Bedeutung. Bedeutung ist kein Sachverhalt, sondern ein idealer Akt. Ein idealer Akt muss als ein solcher gesetzt worden sein, bevor er negiert werden kann. Es gibt den Modus ponens ohne darauffolgenden Modus tollens; aber keinen Tollens ohne vorangegangenen Ponens.)


15. 6. 17


Sein und Nichtsein sind kein ontologisches Paar. Sie kommen nicht zugleich 'zur Welt'. Zuerst wird Etwas gesetzt. Das Setzen ist Prius. Wird auf das Gesetzte reflektiert, 'ist' es etwas. Vorher kann es nicht aufgehoben, nicht ent-setzt werden.



Dienstag, 28. Mai 2019

Absehen und finden.

Moulin, Objet trouvé à Pompéi

Wie ist das nun mit dem Finden und der Absicht? Wenn ich nicht auf irgendwas absähe, würde ich nie etwas finden: Fichte hat das ursprüngliche Wollen des Menschen an den Anfang der Wissenschaftslehre gesetzt. Was immer Eingang ins Bewusstsein findet - das Absehen ist die Bedingung. 

So sagt der Transzendentalphilosoph, doch sobald er das Katheder verlässt, ist er Realist wie alle andern: Die Menschen wären nie aufs Absehen verfallen, wenn sie nicht tatsächlich Etwas gefunden hätten; etwas, das ihnen fremd, also unbestimmt war und zum Bestimmen herausforderte. 

Es ist immer alles dasselbe, das wiederholt er oft genug; aber eben immer wieder von der nächsthöheren Stufe aus betrachtet.


14. 6. 17


Das realgeschichtliche Spezifikum:  Der Mensch lebt nicht mit seiner Umwelt im Einklang. Er hat den Urwald verlassen, in dem er zuhause war, und ist in die ihm fremde Savanne ausgebrochen. Eine neue Wachheit gegen das unbekannte Feld, in dem er sich bewegt - nomadisch - ist das mental substanziell Neue, das ihn gegen die andern Tiere auszeichnet und von dem eine rationelle Anthtropologie auszugehen hat.

Nach der Wissenschaftslehre ist das erste, elementar Wirkliche für den Menschen das Gefühl. Im Fühlen ist er rein leidend. Indem er aber sein Gefühl anschaut und sogleich in seiner Bedeutung für ihn bestimmt, wird das Lei- den in Tätigkeit aufgenommen - und so fängt alles an.

Fängt die Ausbildung der Vernunft an, nämlich unter den Menschen. Unter den Tieren nicht. Warum? Sie haben kein Bedürfnis, das Leiden in eigene Tätigigkeit aufzunehmen.

Ist das eine Erklärung?

Nein, es ist eigentlich das, was der Anthropologe zu erklären hätte; siehe oben. 

Die Wissenschaftslehre setzt es dagegen voraus: indem sie das Gefühl, durch das die Dinge sich dem Menschen kundtun, auffasst als den Widerstand, den sie seinem primären Tätigsein entgegensetzen. 

Dies ist wahr: Wann immer wir wirklich etwas tun, stoßen wir auf die Dinge der Sinnenwelt und erleiden ein Ge- fühl. Doch nicht immer, wenn wir etwas fühlen, haben wir - willentlich, versteht sich - etwas getan, das ist gar nicht wahr. Lassen wir diese Feinheit als vernachlässigbar beiseite?

Für den Mediziner wäre das ohne Sinn, aber die Transzendentalphilosophie entwirft nicht das Bild des Ganzen Menschen, sondern will die Vernunft aus ihrem Entwicklungsgang verstehen. Sie beachtet nicht Alles, sondern all das, was in ihre Entwicklung eingeht. Das sind nicht die Halsschmerzen beim Schnupfen, sondern die Erfahrun- gen, die ich - mache. Es wird nicht gesagt: Alle Gefühle werden angeschaut und bestimmt, weil sie ursprünglich von der Tätigkeit des Subjekts verursacht wurden, und werden zu Erfahrungen fortbestimmt; sondern: Zu Erfah- rungen werden solche Gefühle, die das Subjekt anschaut und bestimmt, weil sie ihm als Resultat seiner eigenen ursprünglichen Tätigkeit widerfahren, und aus den Erfahrungen wird die Vernunft.

Das bestimmen- und Erfahrungen-machen-Wollen ist vorausgesetzt. Der Transzendentalphilosophie reicht aus, dass sie es offenkundig voraussetzen darf. Woher es kommt und warum sie es darf, muss und kann sie nicht sel- ber klären. Das ist Sache der historischen Realwissenschaften.
JE

Montag, 27. Mai 2019

Bestimmt als unbestimmt.


Das Unbestimmte wird bestimmt als ein Unbestimmtes, was nichts anderes bedeutet denn: als ein zu-Bestim- mendes. - Das Bestimmbare ist kein Bedeutungsloses. Denn es ist nicht zuerst unbestimmt, das Ich entschließt dann sich zum Bestimmen, und dadurch wird es zu einem ein Bestimmbaren; sondern indem das Ich schon zu handeln (=anzuschauen) beginnt, wird [etwas] überhaupt erst für das Ich - und eo ipso ein Bestimmbares. Vorher war es für das Ich nicht da. (Ob für einen andern, könnte nur er uns sagen.)

Transzendentalphilosophie ist keine Entwicklungspsychologie. In der Realgeschichte eines Individuums kommt das nicht vor: Zuerst denkt das Individuum 'überhaupt', und danach verdichtet es sein Denken zu 'diesem'. Die Wissenschaftslehre ist keine historische Nacherzählung, sondern ein genetisches Modell, in dem es kein vor- und nacheinander gibt, sondern lediglich wechselseitige Bedingungen. 


8. 6. 17


Was gar nicht bemerkt wurde, ist so gut wie gar nicht da. Es ist daher nicht dieses noch jenes, noch auch nur unbestimmt. Soll ein Ich überhaupt gedacht werden, muss es als ein bestimmen-Wollendes gedacht werden. Was immer es bemerkt, kommt ihm als ein zu-Bestimmendes vor - und daher als ein bestimmbares Unbestimmtes.

Die Betrachtung ist keine logische, denn die müsste von Begriffen ausgehen, die als solche jedoch schon... be- stimmt sind. Dargestellt werden soll jedoch das Bestimmen selbst, die bestimmende Tätigkeit. Die Bedeutungen, deren Auseinander-Hervorgehen sichtbar werden soll, können nicht voraus gesetzt, sondern müssen in actu ge- setzt, nämlich aus eigner Kraft vorgestellt werden. 

Wobei natürlich aus nichts nichts werden kann. Was immer gesetzt wird, muss einen Vorläufer vor-gesetzt be- kommen; und wenn es am Ende, d. h. vor allem Anfang ein bloß-gedachtes Vermögen ist; eine prädikative Qua- lität, die gewissermaßen nur darauf wartet, dass einer kommt und sie sich zuschreibt.




Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Sonntag, 26. Mai 2019

Die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters.


Der Mensch ist 'bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis': woher weiß Fichte das? Nach seiner Lehre ist der Mensch, sofern er Vernunftwesen ist, nur bestimmt als das, wozu er sich selbst bestimmt. Wenn er sagt 'So ist es', kann es sich entweder um die Feststellung eines empirisch Vorgefundenen handeln, oder um ein Postulat: 'So soll es sein.' 

Tatsächlich handelt es sich hier um beides; es ist die historisch vorgefundene Tatsache des autonomen bürger- lichen Subjekts; und der Entschluss des theoretischen Philosophen, dies empirisch Gegebene als seinen prakti- schen Zweck anzusehen. Die Wissenschaftslehre ist die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters.

19. 7. 17


Anthropologie kann nicht sein die Wissenschaft von dem, was der Mensch ist. Zuerst müsste man doch be- stimmen, ab wann man die frühen Hominiden als Menschen ansehen will, und das setzt voraus - das Wissen, was ein Mensch ist. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Was der Mensch ist, kann nicht heraus gefunden wer- den, wie es eine positive Wissenschaft täte, sondern nur hinein erfunden. Und wenn's auch ein noch so rudimen- tärer Anhaltspunkt wäre - ein Postulat wäre es in jedem Fall.

Man wird dann sehen, wohin - oder wie weit - eine so postulierte Prämisse führt - und das Resultat vergleichen mit dem, was der Mensch, nach dessen Bestimmung ja gefragt wurde, bislang schonmal geworden ist. Passen Aus- gangsspunkt und Jetztzustand zusammen - was keine empirische Feststellung wäre, sondern ein sinnhafte Inter- pretation -, so beweist das gar nichts, es könnte künftig immer noch dementiert werden. Doch bislang wurde es nicht dementiert, und es ist weise, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. 

Die Prämisse, die die Wissenschaftslehre gewählt hat, ist die vom ursprünglichen sich-selbst-Setzen und Be- stimmenwollen, alias von der Vernünftigkeit des Menschen.

In jedem Moment der Geschichte wird wieder gefragt, ob sich diese Prämisse angesichts von Allem, was ge- schehen ist, denn halten ließe. Die Frage ist verständlich, aber unberechtigt. Denn nach allen offenkundigen Abwegen sind sie doch jedesmal wieder übereingekommen, auf den Weg der Vernunft zurückzukehren. Und das ist nicht bloßer Lippendienst, sondern soweit unter den gegebenen Bedingungen möglich, sind tatsächlich neue Fortschritte geschehen. Dass der Weg der Vernunft ein breiter, gerader und ebener wäre und ohne Mühe gangbar - wer hätte das je behauptet?

Aber dass ihn die Menschheit je aus den Augen gelassen hätte, kann auch niemand behaupten. Nämlich zu- mindest nicht in dieser einen Hinsicht: die Absicht auf "vollständige und systematische Kenntnis",  mit andern Worten, die Wissenschaft, hat nie geruht. Historisch könnte man sagen: Die Menschen haben sich selbst dazu be- stimmt.


Samstag, 25. Mai 2019

Bestimmen ist das Einbilden von Qualitäten.

Kandinsky, 1914 

'Bestimmen' ist das Schlüsselwort der Wissenschaftslehre. Ist es ein Begriff?

- Der quasi-ontologische Grundstein ist Tätigkeit, und was ist Tätigkeit? Es ist im weitesten Sinn das Übergehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten. Worauf bezieht sich aber 'bestimmen'? Nicht aufs Sein; das ist oder ist nicht. Sondern auf Gelten oder auf Bedeutung oder das, was man an einem Seienden als sinnhaft finden kann. 

Doch anders als das da-Sein lässt sich Geltung nicht formalisieren. Nichts bedeutet "überhaupt", sondern immer nur dieses oder jenes; und nur diesem oder jenem. Es ist etwas Neues, das hinzukommt - zwar aus Bedin- gungen 'hervor gegangen', aber nicht aus ihnen zusammengesetzt. Mit andern Worten: Logisch, nämlich aus defi- nierten Begriffen und geprüften Verfahren, lässt es sich nicht herleiten. Darum nennt Fichte seine Darstellungs- weise eine genetische: Es sind sinnhafte, qualitative Setzungen, die sich nicht 'aus einander entwickeln', sondern die ein Tätiger generieren muss, wenn sie geschehen sollen, und deren sinnhafter Implikationen er sich erst in nach- träglicher Reflexion gewiss wird.

Qualitäten lassen sich nicht definieren, dazu müssten sie in Relation stehen, aber dann wären sie relativ und nicht qualitativ. Man kann sie nur anschauen, indem man sie einbildend selbst hervorbringt.

13. 6. 17


Zum Bestimmen brauche ich ein Etwas. Etwas muss da sein, damit ich es nicht nur bestimmen, sondern überhaupt erst bestimmen wollen kann. Es begegnet mir als gegeben, darum stelle ich es mir als ein Seiendes vor. Etwas bestimmen heißt, ihm eine Qualität zuschreiben. Die erste Qualität, die ich ihm zuschreibe, ist, dass es dieses Eine sei; dass ich es nämlich in der Fülle des Mannigfaltigen identifiziere und - beachte. Das ist Anschau- ung. Anschauen ist der erstmögliche Bestimmungsakt.

Was mir die Gewissheit seines Daseins anzeigt, ist aber ein Gefühl. Es wird mir vermeldet durch das System meiner Sinnlichkeit. Im Fühlen bin ich nicht tätig, sondern leidend. Aber ich kann nicht Fühlen, ohne anzu- schauen. Beides geschieht uno actu. Erst die Reflexion unterscheidet beide; so, als ob das eine zuerst und das andere danach stattfände. 

Das eine setzt das andere aber nicht der Zeit, sondern seiner... Bestimmung nach voraus. Es ist eine qualitätive Unterscheidung. Ob zwischen beiden eine Zeit verstreicht, ob beides an verschiedenen Stellen meines Sin- nesapparats geschieht oder andere faktische Bestimmungen, wären Sache der Neurophysiologie und empiri- schen Psychologie; mit Philosophie hat es nichts zu tun. In der Philosophie geht es um logische Bedingungen; allerdings nicht um begriffslogische, sondern um vorstellungslogische. Doch anders als die Begriffe, die ich als gegeben annehmen kann, muss ich mir meine Vorstellungen selber machen. Es ist Tätigkeit von Anfang bis... nein: Tätigkeit ohne Ende.





Freitag, 24. Mai 2019

'Nichts ist so beständig wie der Wandel.'

Eisenbahn im Sonnenaufgang
aus spektrum.de, 23.05.2019

Was ist eigentlich Veränderung?
In Motivationsseminaren wird man häufig mit Floskeln zur Veränderung erschlagen. Doch was steckt eigentlich philosophisch dahinter?

von Matthias Warkus

»Leben heißt Veränderung. Stillstand heißt Rückschritt. Nichts ist so beständig wie der Wandel.« Kaum etwas ist ein so beliebtes Rednerklischee wie diese Sätze. Dass sich alles ändert (und das auch noch immer schneller), gilt als ausgemacht. In der Wirtschaftslehre gibt es mit dem »Change Management« sogar eine eigene Disziplin, die sich damit beschäftigt, wie Unternehmen und andere Organisationen mit der ständigen Veränderung klarkommen sollen.

Aber was heißt Veränderung überhaupt? Müsste man nicht einmal wissen, was sie ist, bevor man sie überall vermutet? Sobald sich die Frage danach stellt, was etwas so Allgemeines wie Veränderung überhaupt oder eigentlich ist, sind wir wie so oft mitten in der Philosophie.

Ganz naiv könnte man sagen: Veränderung ist, wenn etwas erst irgendwie ist und später nicht mehr (oder umgekehrt). Es ist nun ganz gängig, das Etwas einen Gegenstand zu nennen und das "Irgendwie-Sein" eine Eigenschaft. Veränderung wäre also zu konstatieren, wenn ein Gegenstand eine Eigenschaft hat und später nicht mehr – oder umgekehrt. Dass ein Gegenstand eine Eigenschaft hat oder nicht, wird seit der Hinwen- dung der Philosophie zur Sprache Ende des 19. Jahrhunderts wiederum meistens darauf heruntergebrochen, dass ein wahrer Satz einem Subjekt ein Prädikat zuschreibt.

Damit können wir griffig definieren, was Veränderung ist: der Unterschied im Wahrheitswert zwischen zwei Sätzen, die einem Gegenstand zu verschiedenen Zeitpunkten dieselbe Eigenschaft zuschreiben. Ein Beispiel: Die Sätze »Frankreich war 1788 ein Königreich« und »Frankreich war 1794 ein Königreich« sind gleich bis auf die Nennung unterschiedlicher Zeitpunkte und die Tatsache, dass der erste wahr, der zweite dagegen falsch ist. In dieser präzisen Form geht diese Definition von Veränderung übrigens auf den großen britischen Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell (1872-1970) zurück, der sie 1903 erstmals so formulierte.

Seither gibt es unterschiedliche philosophische Diskussionslinien über Veränderung. Anhänger dieser etwa Definition versuchen zu klären, welche Randbedingungen man zu ihr hinzufügen muss, damit sie »wirkli- che Veränderung« wiedergibt. Es ist nämlich zunächst so, dass vernünftigerweise nicht jeder Gegenstand sich verändern kann. Wenn mir beispielsweise eine Teetasse herunterfällt, dann kann das bedeuten, dass der Satz »5 war gestern die Anzahl meiner Teetassen« falsch, der Satz »5 ist heute die Anzahl meiner Teetas- sen« jedoch wahr ist. Heißt das nun, dass die Zahl 5 sich geändert hat? Ich vermute, die meisten würden sagen, dass das eine absurde Vorstellung wäre. Veränderung kann nicht beliebige Gegenstände betreffen. Aber welche sind denn dann veränderungsfähig?

Auch kann nicht jede Eigenschaft eine Veränderung ausmachen. Verrücke ich meinen Schrank, dann mag der Satz »Mein Schrank war gestern einen Meter von der Wand entfernt« falsch, der Satz »Mein Schrank ist heute einen Meter von der Wand entfernt« wahr sein. Aber der Schrank ist ja immer noch derselbe, er steht nur an einer anderen Stelle. Eigenschaften, die bloße Beziehungen zwischen Gegenständen beschrei- ben, so vermuten viele, sind also für Veränderungen nicht relevant; Veränderung soll ihnen zufolge nur da vorliegen, wo intrinsische Eigenschaften wechseln, also solche, die Gegenstände quasi ohne fremde Hilfe haben. Das Problem ist nun, dass es regalmeterweise Literatur über die Frage gibt, wann Eigenschaften intrinsisch sind.

Ich muss mich hier ein bisschen bremsen, weil ich über das Thema promoviert habe und die Kolumne nicht zu lang werden soll. Mir persönlich scheint es jedenfalls sinnvoller, über Veränderung als ein Handeln zu reden: Veränderung ist dann, grob gesagt, ein Handeln, das ein anderes Handeln ermöglicht oder verun- möglicht. Aber darum soll es hier gar nicht in erster Linie gehen.

Mir war vor allem wichtig, eines zu zeigen: Im Endergebnis führt hier der Versuch zu großen Schwierig- keiten, eine alltägliche Intuition über einen allgemeinen Begriff (»Veränderung ist, wenn etwas irgendwie ist und dann nicht mehr«) so weit wie möglich zu präzisieren. Solche Präzisierungen zu versuchen und ge- gebenenfalls immer wieder an ihnen zu scheitern, damit beschäftigt sich die Philosophie – jedenfalls viel mehr als mit der Produktion unverbindlicher Sprüche à la »Leben heißt Veränderung«. 


Nota. - Egal, welcher Ausdrücke er sich bedient: Wer sagt, dass sich etwas ändert, unterscheidet eo ipso zwischen einer Substanz, die so heißt, weil sie den Phänomenen zugrunde liegt, und einer Azidenz - die so heißt, weil sie hinzu kommt. Die Wörter mögen ihm fehlen, aber dass er unterscheidet, macht seine Vorstel- lung aus: nämlich von etwas, das geschieht. Das muss man verstehen; das, was ist, bräuchte man nur anzu- schauen.

Was man aber als Substanz und was man als Akzidens auffasst, ist freilich eine Frage der Perspektive. Die Idee, das Ewige Werden als das eigentlich zu Grunde Liegende , stand fast am Anfang der Philosophiege- schichte. Sie hatte zum Preis, das Werden als bloßen Schein, nämlich als Ewige Wiederkehr auffassen zu müssen. Mit andern Worten: Werden und Vergehen als Substanz und das scheinbar Bleibende als Akzidenz aufzufassen, ist pragmatisch unergiebig. 

Doch damit ist eigentlich alles gesagt. Pragmatisch ergiebig, nämlich für Schlussfolgerungen (und womög- lich die Lebensführung) brauchbar ist dies: Veränderung ist sinnvoll nur als Folge absichtsvoller Tätigkeit aufzufassen (weshalb unsere animistisch gesonnenen Vorfahren hinter allem Geschehen willensgegabte Subjekte annahmen). Das war der historische Ausgangspunkt der Vernunftentwicklung, er führte zur Aus- bildung des Kausalitätsprinzips als harter Kern der Vernunft, und schließlich in der Transzendentalphiloso- phie zu seiner kritisch-dialektischen Überwindung.

Dem Verfasser des Obigen sei gesagt: Mit dem Definieren und semantischen Drehen und Wenden von Be- griffen lässt sich gedanklich nicht viel ausrichten. Es ist ohne Ende und klingelt lediglich im Ohr. Es geht um das, was man sich vorstellen kann, will, muss. 

Bei den Begriffen kann man nach Belieben immer wieder vor und zurück und zu den Seiten. Bei den Vor- stellungen ist es anders. Da kann eine nur aus einer anderen hervorgehen, doch andersrum kann man - und muss daher auch - nur die andere als der einen vorausgesetzt denken. Mit andern Worten, das Vorstellen hat eine Richtung: Es geht vom relativ Unbestimmten zum relativ Bestimmteren; es kommt neuer Sinn hinzu. Während die Begriffe einander erschöpfen. An den Begriffen ist nämlich die tätige Seite ausgelöscht, wäh- rend zum Vorstellen immer der Vorstellende und sein Tun hinzugedacht wird.
JE



 

Donnerstag, 23. Mai 2019

Semantische Ebenen.

 
1. Die Sonne scheint.
2. Ich weiß, dass die Sonne scheint.
3. Ich sage, dass ich weiß, dass die Sonne scheint.
4. Er hört, dass ich sage, dass ich weiß, dass die Sonne scheint.

Und so weiter ins Unendliche. Doch so weit ich es auch treibe, der Form nach ist es immer wieder nur das eine Verhältnis von zweiter zur ersten semantischen Ebene.


Der Sache nach ist es immer ganz was Anderes.




Mittwoch, 22. Mai 2019

Reflektieren und die Einbildungskraft.

Spiegelung in Baby-Auge

Wir nehmen keine Erscheinungen wahr. Wir nehmen keine Bedeutungen wahr. Wir nehmen Dieses oder Das wahr. Was ist Dies oder Das? Eine Erscheinung, die etwas bedeutet. Könnte sie mir nichts bedeuten, würde sie mir nicht erscheinen.*

Die Unterscheidung geschieht nicht in der Anschauung, sondern in der Reflexion. Wahrnehmung ist das Pro- dukt beider. Die Reflexion rechnet auf eine Bedeutung. Wenn sie keine erkennen kann, fragt sie; sogar, wenn sie döst. Reflexion ist Absicht.

Bis sie in Diesem oder Jenem ein 'Ding' erkennt, hat sie noch tüchtig zu tun.

April 20, 2009

*) Der von Schiller so genannte ästhetische Zustand entsteht bei einem absichtsvollen Absehen von aller Bedeu- tung. Er wird möglich durch Bildung und entstand ursprünglich wohl aus dem Befremden. Er ist ein ge- wünschtes und gesuchtes Befremden.

Nota I. - Absehen auf das eine heißt absehen von allem andern. Reflektieren und Abstrahieren sind dasselbe - jeweils von hinten und vorn.
26. 2. 15


Nota II. - Dies zum gestrigen Eintrag: Reflektieren heißt passend machen. -  Ich habe eine Absicht und ich habe einen Gegenstand. Was zuerst da war, ist egal. Einiges an dem Gegenstand kommt meiner Absicht entgegen, einiges widersteht ihr. Ich achte auf das Günstige, von dem Ungünstigen sehe ich ab. Zuerst in meiner Vor- stellung; dann nehme ich meine Hände und mach das Ding passend. 

Es ist nichts anderes als was Nietzsche sagt; aber es klingt nicht so böse: Logik stammt nicht aus dem Denken selbst, sondern aus der Reflexion auf das Denken. Und ihr einziger Zweck ist das Reflektieren.
22. 11. 18


Nota III. - Reflektieren heißt nach Bedeutung fragen, nach Bedeutung suchen und Bedeutung zuschreiben. Es ist eine Tätigkeit der Einbildungskraft. Schon bloße Anschauung erfortert Einbildungskraft: Ihr Gegenstand ist ein Gefühl, dieses ist schlechthin gegeben und wird als solches bloß erlitten; doch was es ist, muss die Einbildungs- kraft an ihm finden. Es muss ihm Qualitäten anerfinden. Das kann sie kaum tun, ohne es mit anderem zuvor Ge- fühlten in ein Verhältnis zu setzen, und so wird das, als was es eingebildet wurde, festgehalten und eingegrenzt, 'bestimmt'. Es wird zum Begriff. 

Der lässt sich mitteilen und macht eine denkende Gesellschaft möglich, aber das steht schon auf einem andern Blatt. Es gehört schon zu unserer Geschichte und muss aus den uns überlieferten Denkmälern rekonstruiert werden und nicht, wie unsere vor-vernünftige Vor-Geschichte, aus Denkexperimenten spekulativ erraten.
JE






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Dienstag, 21. Mai 2019

Reflexion ist immer dabei.

uschi dreiucker, pixelio.de

Unterscheiden zwischen 'der Sache' und ihrer 'Bedeutung' ist Reflexion. Es setzt voraus, dass die Bedeutungen der Sachen nicht schlechterdings gegeben sind, sondern erfragt werden mussten. 

Die Emergenz der Reflexion ist also nicht verschieden von der Emergenz der Vorstellung selbst. Nämlich von der Anschauung, die von der Einbildungskraft als diese fixiert und ins Gedächtnis aufgehoben wurde. Die Vor- stellung verdoppelt die Sache zu einem Bild der Sache, das von ihr unterschieden und unter einem Zeichen archi- viert werden kann. Das wiedergefundene Bild bedeutet die Sache. 

Es handelt sich um ein und denselben Vorgang. Die verschiedenen Worte, mit denen wir ihn beschreiben, be- zeichnen verschiedene logische, aber nicht Zeitmomente - nicht eins nach dem andern, sondern je in dieser oder anderer Hinsicht.

Und ist der elementare Akt des Bildens einmal gelungen, lässt er sich prinzipiell allezeit wiederholen. Vom Bild lässt sich nun wiederum ein Bild machen, und immer so fort. Die Reflexion schläft nie. Sie schlummert höch- stens mal, aber sie ist immer dabei.

13. 9. 2013 


Nachtrag. Reflektieren ist nichts anderes, als was alle unsere Tätigkeit ist: Bestimmen. Es ist "immer dasselbe", doch indem es mal an diesem, mal an jenem schon erreichten Punkt der Bestimmtheit ansetzt, ist es eben nicht dasselbe, nämlich materialiter nicht.

Und es geschieht immer aus Freiheit: Ich hätte es jedesmal ebensogut auch unterlassen können. Der moderne bürgerliche Mensch ist in eine ganze Welt schon bestimmter Bedeutungen hineingeboren, die ihm selbstver- ständlich geworden sind. Mit andern Worten, er reflektiert habituell. Und doch mit Freiheit! 

Er müsste den unbedingten Reflex zwar willentlich unterdrücken, um die Reflexion und ihre gewohnten Bah- nen zu umgehen. Das aber kann er. Es ist nichts anderes als das absichtliche sich-Versetzen in das, was Schiller den ästhetischen Zustand nennt. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, aus der gattungsmäßigen Denk- und Vor- stellungsroutine auszubrechen. Mit ein wenig Einbildungskraft (Die haben wir.) können wir das Gegebene set- zen als noch nicht bestimmt, und dadurch wird es ästhetisiert. Der ästhetische Sinn ist das Unterpfand transzen- dentaler Freiheit.



Montag, 20. Mai 2019

Analog anschauen, digital repräsentieren.

Wolfgang Dirscherl, pixelio.de

Eben kommt eine Meldung, wonach der Unterschied zwischen Arbeits- und  Langzeitgedächtnis (u. a.) der sei, dass die Erinnerungsgehalte im ersteren analog, im zweiten aber digital abgespeichert würden. Eine digitale Form der Repräsentation der Welt im neuronalen Gewebe selbst? Das wäre eine wahre Revolution in der Hirn- forschung.

Leider wird es aber wohl so sein, dass nur wieder die Begriffe schludrig verwendet wurden. Darum dieser Eintrag.


Aus einer Diskussion in einem online-Forum; im Juni 2010:

...weil 'digital' einen Sinn nur im gegensätzlichen Verhältnis zu 'analog' hat. Allerdings wird das Analoge als solches erst kenntlich, seit sich das Digitale sozusagen 'rein' ausgebildet hat.
 

Das nächstliegende Beispiel ist natürlich das Zifferblatt der Uhr. Bei der analogen Uhr wird die Abfolge der einzelnen 'Zeitpunkte' nicht durch ein den 'Punkten' gänzlich äußerliches Symbol 'bezeichnet'; sondern der Ver- lauf der Zeit wird durch die Eigenbewegungen der Zeiger 'gezeigt': Die Bewegung der Zeiger ist ein 'Abbild' der 'verlaufenden' Zeit. Der Zeiger repräsentiert die Zeit. Die Unterteilungen am Umkreis des Zifferblattes sind lediglich 'Anhalts'-Punkte.

Um ein digitales Zifferblat zu 'verstehen', muss ich die Bedeutung der Zahlen vorher kennen - und muss dann die Abfolge der Zeit'punkte' in meinem Kopf in das Bild der 'verlaufenden' Zeit übersetzen. Auf einem analogen Zifferblatt sehe ich, wie die Zeit verläuft. Ich muss keine Zahlen kennen, ich muss die Unterteilung des Tages in Stunden nicht kennen. Ein Fünfjähriger sagt: Wenn der große Zeiger da steht, ist die Mittagsruhe vorbei; dann kann ich wieder spielen.
 

In einem Spielfilm wird das Geschehen in bewegten Bildern 'gezeigt'; in dem Roman, der dem Drehbuch zu- grundelag, wurde das Geschehen durch Worte 'bezeichnet'. Ich muss die Bedeutung der Schriftzeichen in mei- nem Verstand in Lautbilder umsetzen, die Lautbilder zu Wörtern zusammenfassen und mir deren 'Bedeutung' re/präsentieren. Und das alles muss ich vor meinem inneren Auge in bewegte Bilder übersetzen: Ich muss mir etwas vorstellen. Im Film konnte ich etwas anschauen.

Eine wesentliche Prämisse hat die digitale Repräsentationsform: Sie setzt voraus, dass die Zeit nicht 'fließt', sondern aus identifizierbaren Punkten 'zusammengesetz' ist. Ebenso kann 'der' Raum nur als Addition von einzeln bezeichneten (und als solchen bekannten) 'Räumen' vorgestellt werden. Das innere Bild, das ich 'mir mache', muss aus vorab bekannten Daten – Maßeinheiten
zusammengesetzt werden. Die digitale Information muss ich erst noch 'entziffern'. - In der analogen Darstellung ist sie sofort als ganze 'da'.

Grob gesagt: Die analoge Darstellungsweise hat den Vorteil der Fülle. Die digitale Darstellungsweise hat den Vorteil der Genauigkeit. Die eine ist unmittelbar, die andere ist Vermittlung.

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.... Nein, so kann es nicht sein: dass 'unser Denken auch in kleinsten Schüben erfolgt, also digital'. Ein Digit - von lat. digitus=(Zeige)finger - besteht aus zweierlei: zuerst aus einem Bedeutungsgehalt, und dann aus einem 'Zeiger', der auf ihn hinweist.

Es kann einen Bedeutungsgehalt geben, auf den kein Zeiger weist. Das dürfte auf die große Masse unserer Denkleistungen im Laufe eines Tages zutreffen. Sie kommen wie sie gehen. Man kann sie nicht behalten: Denn dazu müsste ich sie mit einem Zeiger versehen, durch den sie in meinen Gedächtnisspeicher einordnen kann. Mit einer kleinen Minderzahl von Denkleistungen machen wir genau das: Wir zeichnen sie durch Zeiger ('Be- griffe') aus und können uns seither wieder an sie erinnern.

Umgekehrt kann es nicht sein: dass schon ein Zeiger da wäre, bevor noch ein Bedeutungsgehalt da war, auf den er weisen könnte. 



Allerdings sind im erlernten Begriffsystem eines sprachmächtigen Kulturmenschen tausende solcher Zeiger 'schon da' - nämlich gebunden ans das, auf was sie zeigen -, so dass in diesem Netz eine große Masse von den aus meiner Einbildungskraft sprudelnden 'Bedeutungen' sozusagen 'von alleine' hängenbleiben.

Die 'kleinsten Schübe' werden durch die begrifflichen Zeiger in das Sprudeln 'von außen' hineingetragen. An- schauung ist Anschauung und Reflexion ist Reflexion. Erst das Denken, dann das Denken des Denkens.

Es würde mich interessieren, wie die Bilder in unserem Gedächtnis gespeichert sind. Erst dann könnte ich sagen: Das kann sein, das kann nicht sein.

(Dies "Quale" fasziniert mich…)

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.... Das mit dem Speichern ist mir deswegen so wichtig, weil wir dann auch den "Zeigefinger" besser verstehen könnten. Es besteht der Verdacht, dass in unserem Gedächtnis mehr gespeichert ist, als wir uns erinnern kön- nen. Es kommt manchmal nur zufällig ans Tageslicht, manchmal unter besonderen Bedingungen wie z.B. wäh- rend einer psychoanalytischen Sitzung oder in Hypnose.

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.... 'Wie' das gespeichert - und noch viel interessanter: 'wie' es dann wieder aufgerufen wird, das kann einstwei- len keiner sagen, und es gibt theoretische Gründe für die Annahme, dass man es niemals wissen wird. Die Hirn- forscher teilen uns mit, dass schon ganz einfache 'Gehalte' nicht etwa in dieser oder jener bestimmten Nerven- zelle (Neuron) gespeichert werden, sondern bereits in 'Assemblies' von etlichen Dutzend, die über weit entfern- te Hirnregionen verteilt und durch Synapsen mit einander verschaltet sind.

So schon für das 'Denken'. Vollends mysteriös wird es aber beim 'Denken des Denkens', der Reflexion. Die Hirnforschung hat buchstäblich nicht die leiseste Vorstellung davon, wie sie zustande kommt.

Vor zehn Jahren (siehe ‘Vom Gehirn zum Bewußtsein’, in: Elsner, N., u. Gerd Lüer (Hg.), “Das Gehirn und sein Geist”, Göttingen 2000) ist das Wolf Singer immerhin noch als ein Problem aufgefallen, aber seine gemut- maßte 'Lösung' war höchst zweifelhaft: Die Reflexion käme durch 'Iteration', das heißt die sehr rasche, sehr häufige Wiederholung immer desselben Vorstellungsakts zustande - so als würde die Vorstellung über ihre eigenen Füße stolpern.

Das hatte wenig Plausibilität für sich, aber immerhin hat der Forscher noch das Problem gesehen. Doch in demselben Aufsatz hat er auch erstmals sein seitheriges Steckenpferd angekündigt: die Attacke wider das Ich und seine Freiheit und die Behauptung durchgängiger kausaler Determiniertheit. Und dieses reitet er seither ohn’ Unterlass, und da hat er das störende Thema Reflexion schnell wieder beiseite gelegt.

Und schon sind wir wieder bei digital und analog: Denn eine 'Stelle', eine 'Instanz', einen 'Arbeitsgang' oder sonstwas, wo die analoge Anschauung in eine digitale Repräsentation 'umgerechnet' wird (und zurück!), und die man eben 'ich' oder 'Bewusstsein' oder 'Reflexion' nennen könnte, die muss es geben: weil dieses Umrechnen ja tatsächlich geschieht. Solange Singer nicht zeigen kann, dass und womöglich wie dieser Akt durch etwas Voran- gegangenes 'determiniert' sein könnte, hat er gar kein Recht, auf die Annahme eines Ich zu verzichten.
 

Der Übergang von analog zu digital ist nämlich genau das, dessen Möglichkeit er bestreitet: Er ist ein Bruch. Der Bruch besteht in der Einführung des Verneinungs- und vor allem des Frage-Modus, die beide nur in der digita- len Repräsentationsweise möglich sind, nicht aber in der ihr zu Grunde liegenden analogen. Wie soll der Umstand, dass ich verneine oder gar: ob ich frage, denn 'determiniert' sein? Er ist ja die Entdeterminierung selbst.

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... Das ist allerdings der entscheidende Unterschied: Auf analoge Weise kann ich keine Verneinung wiedergeben. 'Ein Pferd' kann ich mühelos 'zeigen' – ich brauche nicht einmal einen Fotoapparat, ein paar Bleistiftstriche rei- chen. Aber wie soll ich 'kein Pferd' zeigen? Kein Pferd sieht ganz genauso aus wie keine Suppenschüssel oder - keine Verneinung. Für 'nein' und 'nicht' brauche ich ein Digit, dessen Bedeutung jedermann vorab schon kennt.

Und wie ist es dann erst beim Fragemodus! Wie soll ich 'was ist ein Pferd' bildlich darstellen – ohne Fragezei- chen?! Die Fülle der Anschauung ist der digitalen Zersetzung alles Wirklichen und Gedachten in Millionen Be- deutungsatome an Reichtum haushoch überlegen. Sobald wir uns aber klarmachen, dass uns 'die Welt' immer noch vielmehr Fragen aufgibt als sie beantwortet, erkennen wir, dass der Digitalmodus die Bedingung allen Wissens ist. Begriffe ohne Anschauung sind leer, sagt Kant, aber Anschauung ohne Begriff ist blind.


Nota, Nov. 2013:

Nicht damit zu verwechseln: der Umstand, dass eine Sinneszelle Reize allerdings 'im Takt' aufnimmt, in der kleinsten neuronalen Zeiteinheit von (soundsoviel) Millisekunden. Es ist wie in einem Kinofilm: Das Celluloid- band ist aus ein paar Millionen einzelnen Bilder zusammengesetzt. Wenn sie rasch hintereinander abgespult werden, 'erscheinen' sie wohl in diskreten 'Sprüngen', aber nicht mir:  Ich nehme sie als stetigen Fluss wahr. Denn natürlich hat zwar die Filmkamera ein paar Millionen Mal ihre Bilder 'geschossen'. Aber es war ein stetiger Fluss, den sie 'aufgenommen' hat.


Nota, April 2019 

Keine Reflexion ohne vorangehende Repräsentation; keine Repräsentation ohne Vereinzelung und Fest-Stel- lung. In den angeschauten Fluss der Erscheinungen mag ich eintauchen und mitschwimmen und dies und das erleben. Die Erscheinung selbst hingegen muss ich mir 'als solche' vorstellen. Oder richtiger: Zu einer Erschei- nung wird sie überhaupt erst, indem ich sie mir vorstelle, indem ich ein Kontinuum in eine Folge von Ein/heiten zerdenke.

Das ist ein Segen des Computerzeitalters, dass es die Unterscheidung von analog und digital habituell werden lässt. Das kann auf die Dauer seine Auswirkungen auf Hirnforschung und Anthropologie nicht verfehlen.



Sonntag, 19. Mai 2019

Wie kam der Mensch zum Reflektieren?

  Jusepe Ribera, St. Peter
 
aus derStandard, 17. 5. 2019

... In Brasilien zeichnete das Team um Melissa Berthet die Laute von Titi-Affen (Springaffen) auf, nachdem die Wissenschafter ein ausgestopftes Raubtier – einen Raubvogel oder eine Raubkatze – am Boden oder im Blätterdach in unmittelbarer Nähe der Gruppe platziert hatten. Später spielten sie der Gruppe die aufgezeich- neten Laute wieder vor, um die Reaktionen der Affen zu beobachten. Demnach konnten die Tiere durch die Laute Informationen über den Typ des Raubtiers und seinen Standort vermitteln, schienen dabei jedoch keine Kategorisierung zu verwenden, wie es beim Mensch der Fall ist.

"Wir neigen dazu, die Ereignisse, die uns umgeben, in Kategorien einzuteilen, auch wenn die Unterschei- dung zwischen diesen Kategorien tatsächlich unklar ist", sagte Berthet. "Zum Beispiel bilden die Farben eines Regenbogens ein Kontinuum, aber Menschen bevorzugen es, über sieben Farbbänder zu sprechen", so die Forscherin.

In ähnlicher Weise würden Menschen in der den Affen präsentierten Situation dazu neigen, vier Kategorien zu unterscheiden: bodenlebendes Raubtier am Boden, Flug-Raubtier am Boden, bodenlebendes Raubtier im Blätterdach, Flug-Raubtier im Blätterdach.

Nicht so bei den Affen: Sie stellen diese vier Situationen als Kontinuum dar, und zwar durch Lautfolgen aus Kombinationen von Schreipaaren, die aus Schrei A und/oder Schrei B bestehen können. Je weniger Kombi- nationen von zwei B-Schreien in der Lautfolge vorhanden sind, desto mehr schauen die zuhörenden Affen in die Luft, um dort nach einem Raubtier zu suchen. Aber sobald die Anzahl der Kombination mit zwei B-Schreien zunimmt, schauen die Affen eher zum Boden. Diese als probabilistisch bezeichnete Informati- onsübermittlung wurde bisher bei keiner anderen Tierart beschrieben. ...
 


mein Kommentar:

Die Auffassung der Erscheinungen der Welt als eindeutig zu Unterscheidende nennen wir die digitale, die Auffas- sung der Erscheinungen als gleitendes Kontinuum nennen wir eine analoge. Um die digitale Wahrnehmung so wiederzugeben, dass ein Anderer sie identifizieren kann, braucht man ein unmissverständliches Zeichen, ein digit, am besten ein - Wort. Eine analoge Wiedergabe bedarf eines kontinuierlichen Signalsystems.

Was war eher da - die digitale Wahrnehmungsweise des Menschen oder seine sprachliche Mitteilungsweise? Ich wage mal eine Spekulation: Es war die Wiedergabe durch spezifische Wortzeichen, die durch Äonen das unser Bewusstsein geprägt, nämlich überhaupt erst möglich gemacht hat, und diese Bewusstseinsverfassung hat ihrer- seits unsere Wahrnehmung geprägt.

Und siehe da: Eine 'vernünftige' Weltanschauung, und darunter verstehen wir seit gut 200 Jahren eine, die die Phänomene einander als Ursachen und Wirkungen zuordnet, ist nur bei einer digitalen Unterscheidung der Wahrnehmungen möglich: Eine Erscheinung muss als diese Eine spezifiziert worden sein, um ihr 'diese eine' Ur- sache zuschreiben zu können. Wessen Wahrnehmung aus ineinander übergehenden Bildern besteht, muss sich mit erfahrungsmäßiger Wahrscheinlichkeit bescheiden.


Merke: Die Unterscheidung nach Ursache und Wirkung ist reflexiv, sie schaut sich um: 'Da' ist die Erscheinung, die Ursache muss als hinter ihr verborgen angenommen werden - als schon geschehene, und durch sie ist sie bestimmt. Der probabilistische Blick in die Welt sieht nach vorne, er erwartet etwas; doch das Etwas ist analog, nur ungefähr, noch unbestimmt.

JE 

*


Nachtrag.

Das könnte zu einem Aha-Erlebnis der Anthropologie werden. Die Hirnforscher stehen ratlos vor der Tatsache der Reflexion. Wir denken nicht nur dieses und jenes, sondern wir denken uns, wir denken, dass wir denken, wir denken Dieses als ein Anderes. Aus ihren bildgebenden Verfahren können sie weder ersehen, wo, noch wie das geschieht. Sie können sich vor allem nicht vorstellen, was es ist.
 

Überliefert war die Auffassung, dass es für jede spezifische Leistung des Erkenntnisapparats eine spezialisierte Region im Gehirn gäbe, die für sie und sonst nichts zuständig wäre. Die schematische Unterscheidung zwischen Broca- und Wernicke-Zentrum ist wohl inzwischen von der Vorstellung zweier spezifischer neuronaler Verbün- de ersetzt, die zwar um einern Schwerpunkt herum gruppiert, aber über einen größeren Raum verteilt sind. Es sind dynamische Verbünde zwischen vielen einzelnen Neuronen; das macht sie so plastisch.

Und es bleibt dabei: Nur wir Menschen verfügen darüber, die Tiere nicht.

Man stellt sich leicht vor, wie nach dem zuerst entwickelten 'technischen' Broca-Areal sich stetig das 'semanti- sche' Wernicke-Areal ausgebildet hat: Die Struktur folgte der peiristischen Funktion. Kaum vorstellbar ist hin- gegen, die Struktur sei durch ein oder zwei plötzliche Mutationssprünge fix und fertig entstanden und habe die Individuen veranlasst, sie in Funktion zu nehmen.

Dass das begriffliche und eo ipso reflektierende Denken immanent aus der Evolution des Gehirngewebes ent- sprungen sei, ist aber nur unter letzterer Hypothese vorstellbar. Begreifen heißt: ein Phänomen so weit eingren- zen und fest-stellen, dass es mit einem anderen Phänomen nicht mehr verwechselbar ist. Eingrenzen lassen sich die Phänomene allerdings nicht durch ihre sinnlichen Qualitäten: Die gehen stetig ineinander über, wie die Farben des Regenbogens. Um sie immerhin grob unterscheiden zu können, muss man sie unter übersinnliche Bedeutungen fassen: namentlich unter die Zwecke, zu denen man sie brauchen wollen kann.

Wird auf den Unterschied gemerkt, entsteht im sinnlichen Kontinuum ein semantischer Bruch. Der schreit gera- dezu nach dem Beachtetwerden, und aus dem Wahrnehmen eines Unterschieds wird die Bedeutung eines Gegen- satzes. Und das ist Reflexion. Denn der Gegensatz stellt sie Dinge so dar, als ob sie gegeneinander tätig würden. Die aus festgestellten Begriffe starr gefügte Welt wird dynamisiert.

Nicht aus der veränderten Struktur des Hirngewebes wäre die Funktion des Sprechens entstanden, sondern mit der sich ausbildenden Sprachfunktion wäre eine Veränderung der Gewebestruktur einhergegangen.

Das ist ein Modell; wie gut es sich zu einer empirisch überprüfbaren theoretischen Hyposthese entwicklen lässt, können nur Fachleute beurteilen. Es würde immerhin einige offene Fragen klären und sollte daher versucht werden, meine ich.

 



 

Samstag, 18. Mai 2019

Kriterium des Wahren.

Rainer Sturm, pixelio.de

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Kriterium des Wahren ist, es selber geschaffen zu haben.
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Giambattista Vico, Liber Metaphysicus; 
De antiquissime Italiorum sapientia liber primus, München 1979, S. 44/45


Nota. - Vicos Philosophie war ausdrücklich gegen Descartes gerichtet. Dessen rationalistischer Auffassung nach wäre das Wahre mit den Mitteln der Mathematik zu erkennen, denn die sei es, in der die res cogitans mit der res ex- ensa zusammenhinge und die beider Abkunft vom selben Schöpfer ausweise. Vicos Ablehnung war eine fromme; niemandem käme es zu, dem Schöpfer in die Karten zu blicken, denn erkennen könne jeder nur, was er selber ge- macht hat.

Im 20. Jahrhundert galt der schon zu Lebzeiten kaum beachtete Vico als der Vorläufer von Diltheys "verstehen- der" hermeneutischen Geisteswissenschaft. Das ist nicht falsch, aber pointierter ist die Einsicht, er habe der... Transzendentalphilosophie den Weg gewiesen. Pointierter, weil ja doch Descartes als der gilt, der die Erkennt- nisfähigkeit im ego cogito gegründet habe. Dessen eingedenk wird man hinzufügen: Aber Vico hat es mit dem ego facio überboten.

Allerdings hat er der Tanszendentalphilosophie den Weg über Kant hinaus zu Fichte gewiesen. Populär wurde Vicos Philosophie dann doch noch in der vereinfachten Formel Verum et factum convertuntur.
JE 


 

Freitag, 17. Mai 2019

Das Verfahren der Wissenschaftslehre.

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Das ist das Verfahren der Wissenschaftslehre: Statt freihändig Begriffe zu definieren und daraus ein System zu bauen, sucht sie in den wirklichen Vorstellungen der 'endlichen' Vernunftwesen die ihnen zu Grunde liegenden anschaulichen Voraussetzungen auf, und erst, wenn sie an den Punkt gerät, hinter den es nicht hinausgeht, kehrt sie ihren Gang um und setzt, was sie zuvor analytisch auseinandergelegt hatte, synthetisch wieder zusam- men; daran, ob auf diesem Weg die wirkliche Vorstellungswelt der 'endlichen Vernunftwesen' hinreichend re- konstruiert werden kann, entscheidet sich ihre Richtigkeit.
20. 6. 17


Der erste, kritisch-analytische Gang der Wissenschaftslehre endet erst dort, wo es sachlich nicht weitergeht: Es ist die Stelle, wo das Ich sich setzte, indem es sich ein/em Nichtich entgegesetzte. Auf Grund gestoßen war sie damit freilich noch nicht; erst auf die obere Fläche eines doppelten Bodens. Denn wenn etwas 'sich setzt', dann muss es wohl da gewesen sein, bevor es das tat. Doch 'da' lässt sich nichts auffinden. 

Ich sage, da war ein Vermögen, aber das ist bloß ein Wort. Es ist der dogmatische Reflex eines, der sich immer ein Seiendes vorstellen muss, um sich überhaupt etwas vorstellen zu können. Der dialektische Haken ist: Ein Sein muss aber vorgestellt werden, um 'sein' zu können. Nicht so das Handeln. Es mag 'da' oder auch 'so' sein, ohne dass es sich einer vorstellt. Wenn er es sich aber vorstellt, muss er es sich so vorstellen, als ob ihm ein Sein - ein Han- delnder - vorausgegangen sei. Das Handeln selbst in seiner Verlaufsform konnte er immer nur anschauen. Doch das ist selber eine Handlung. Und so weiter, runter ins Unendliche.

Man muss sich einen Ruck geben und den unendlichen Regress stoppen. Man muss sich entschließen, das anschau- liche Handeln selbst als das Ursprüngliche aufzufassen, von dem alles Wahrnehmen seinen Ausgang nimmt. Das ist der Grund, auf dem die Transzendentalphilosophie bauen muss, weil sie anderswo nicht bauen kann. Wenn sie von da aus das ganze wirklich gewordene System der Vernunft rekonstruiert, wird es im Ergebnis doch nicht mehr dasselbe sein. Ein Weltbild, das auf dem Handeln... nicht beruht, sondern unablässig neu aufbaut, ist ein anderes, als eines, dem ein seiendes Sein zu Grunde liegt. Denn dieses könnte ruhen.
JE 

Donnerstag, 16. Mai 2019

Begriffe entstehen durch Handeln und um des Handelns willen.

klettern

Der Kantische Satz: Unsere Begriffe beziehen sich nur auf Objekte der Erfahrung, erhält in der Wissenschafts- lehre die höhere Bestimmung: Die Erfahrung bezieht sich auf Handeln, die Begriffe entstehen durch Handeln und sind nur um des Handelns willen da, nur das Handeln ist absolut. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 61


Nota. - Erfahrungen mache ich, indem ich handle, anders würde ich weder der Dinge gewahr, noch ihrer Bedeu- tung. Ihre Bedeutung: das ist die Rolle, die sie in meinen möglichen Handlungen spielen können. Diese fasse ich zusammen und stelle sie fest im Begriff. Ob etwas ist und was es ist, erscheint nur in Handlungen. Handeln ist, bevor Etwas 'ist'. Es ist das eigentliche Sein.
JE