Dienstag, 14. Mai 2019

Anschauung, Begriff und Aktualität der Kritik.

Magnus Enckell

Den sinnlichen Anteil an der Anschauung nennt Fichte Gefühl, Leiden: ein unfreier Zustand. Anschauen ist - als ein Reflektieren auf das Gefühl - ein Handeln, und geschieht aus Freiheit. (Kant hatte zwischen Anschauung und Sinnlichkeit noch nicht unterschieden.

Die Scheidelinie zwischen anschauen und denken markiert der Begriff. Und zwar geht es nicht darum, ob ich ihn 'richtig' gebrauche, so wie alle anderen in derselben Situation; sondern dass ich ihn mir vorsetze als Regel, wonach ich ihn konstruieren soll. Ich habe meine Anschauung gefasst heißt: Ich habe sie so auseinandergelegt, wie ich sie bei nächster Gelegenheit wieder zusammenzusetzen mir vornehme. Nun erst habe ich sie. Denn als Begriff ist er aus dem Zeitverlauf ausgeschieden, er ist 'im Raum' verfügbar geworden wie ein Rechenchip. Ich kann mit ihm operieren, ohne meine Einbildungskraft neu bemühen zu müssen; die vertrüge nämlich keine (Re-) Konstrukti- onsvorschrift

Empirisch handelt es sich wohl um den Akt der Digitalisierung. Jedoch: Die Transzendentalphilosophie be- schreibt nicht einfach, was geschieht, sondern will seinen Sinn deuten. Das ist kein bloßes Übersetzen aus der einen Sprache in die andere. Es ist - übrigens in beiden Richtungen - mehr als das.

Und nie vergessen: Wir treten in der Wissenschaftslehre aus der Vorstellung nie hinaus. Sie bleibt überall im- manent, sie ist Selbstaufklärung des Vorstellens. (Aber außerhalb des Vorstellens ist nichts weiter. - Oder alles, was es gibt, gibt es in der Vorstellung und durch die Vorstellung. Was ich mir nicht vorstellen kann, kann ich mir nicht einmal vorstellen.)

11. 7. 17 


Es sieht nur so aus, als wollte ich Fichte eine Geringschätzung des Begriffs andichten. Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik, Kant nahm als seinen Gegenstand das rationalisitische Weltsystem der Leibniz-Epigonen Wolff und Baumgarten, das ein halbes Jahrhundert lang die deutsche Philosophie beherrschte. Es war ein bloßes Begriffssystem. Alles schien begriffen, sobald es nur definiert werden konnte. Die Begriffe waren wahrer als die Er- scheinungen, in ihnen schimmerte durch, was die Dinge an sich waren.

Nach Kant war Stoff des Wissens das Erfahrene - im Begriff ist festgehalten, was die Intelligenz angeschaut hat. Aber die Intelligenz verfügt über Instrumente - 'Formen', in die sie die Anschauung fassen kann; Kategorien und Anschauungsweisen, das Apriori der Erfahrung. Die Frage, woher die kommen, versagte er sich, wohl um 'dem Glauben Platz zu schaffen'. So aber standen sie nun da: nackt und bloß, selbst wieder nur als Begriffe ohne er- fahrenen Stoff. 

Also war die Kritik noch nicht vollständig gewesen. Die Wissenschaftslehre führte die Kritik fort bis zu dem Punkt, wo das Vorstellen selbst begann. Ob sie von diesem Punkt aus das historisch gegebenen System der Vernunft bündig bis zu seinem Schluss- oder besser Flucht-Punkt rekonstruiert, ist diskutabel. Doch die eventuelle Voll- endung des Systems in der Vorstellung ist die eine Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Die andere, die ihr bis in alle Ewigkeit erhalten bleibt, ist die... aktuelle Kritik des historisch gegebenen Vernunftsystems. Und die be- steht, kurz gesagt, in nichts anderem als dem Vergleich der in den realen (Geistes- oder Natur-) Wissenschaften geltenden Begriffe mit ihren eigenen, durch transzendentale Rekonstuktion gewonnenen kritischen Begriffen. Die sind es, die in der aktuellen Auseinandersetzung mit den mehr oder minder dogmatischen Schulen ihre Realität ausmachen.




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