Montag, 7. Juli 2014

Wahr ist, was ich selber geschaffen habe.


Rainer Sturm, pixelio.de  

Veri criterium sit id ipsum fecisse.
Kriterium des Wahren ist, es selber geschaffen zu haben.
_______________________________________________________
Giambattista Vico, Liber Metaphysicus;
De antiquissime Italiorum sapientia liber primus, München 1979, S. 44/45



Sonntag, 6. Juli 2014

Wahr sein.


Jens Goetzke  / pixelio.de

"…(das und das und das…) ist zweifellos wahr." – Die Frage war aber nicht, was alles wahr sein mag. Die Aufzählung könnte bis ans Ende der Zeit nicht abgeschlossen werden. Die Frage ist vielmehr, woran man erkennt, ob etwas wahr ist.

[Man könnte sich Wahrheit als ein universell vorkommendes Stöffchen vorstellen, das den Dingen (Gegen- ständen, Sachverhalten, Gedanken…?) in unterschiedlich starker Dosis "beigegeben ist". Dann wäre Wahrheit ein Seiendes neben andern Seienden, denen es sich mitteilt oder nicht, und die ihm gegenüber folglich auch gleichgültig sein könnten: zugleich weder wahr noch unwahr; und das wäre ein Widersinn.]

Unter Wahrheit ist also nur der Modus, die Qualitas des Wahrseins zu verstehen. Die Sachen "stehen" in diesem Modus oder nicht, tertium non datur. Es ist der Modus des Geltens: Nur Aussagen können gelten oder "wahr sein", Dinge nicht. Aussagen über Dinge können wahr sein oder nicht.

"Wahr ist eine Aussage, wenn sie mit dem Sachverhalt übereinstimmt." – Das ist eine rein verbale Bestimmung. Sie hat keinen eigenen Inhalt. Denn was soll Übereinstimmung - 'adaequatio' – bedeuten? Das war doch gerade die Frage!

Um etwas zu bedeuten, bedürfte sie eines Dritten, eines Kriterion, eines Prüfsteins – und der wäre dann "das Wahre".

Gibt es einen solchen Prüfstein? - Offenbar nicht.

Muss es ihn geben, damit etwas wahr oder unwahr sein kann? - Offenbar.

Muss alles wahr oder unwahr sein? – Die Frage stellen heißt sie beantworten.

in 2007


Samstag, 5. Juli 2014

Das Bedürfnis ist thetisch.

 
 

'Bedürfnis' ist bei Marx eine dynamische Kategorie. Es ist das poietische Vermögen, durch welches das Subjekt sich selbst als Subjekt 'setzt': 


1. Landläufig ist 'Bedürfnis' ein Mangel, der aufgefüllt, ein Loch, das noch gestopft werden muss. Je bedürftiger der Mensch, umso ärmer. Aber nicht bei Marx: "Der Reichtum besteht stofflich betrachtet nur in der Mannig- faltigkeit der Bedürfnisse." Grundrisse, S. 426. Bedürfnis ist kein Mangel, sondern ein Vermögen. 

2. Die Erzeugung des neuen Bedürfnisses "ist die erste geschichtliche Tat": Deutsche Ideologie (Feuerbachkapitel), MEW 3, S. 28. Einige Zeilen zuvor hatten Marx/Engels schon einmal eine 'erste geschichtliche Tat' vermerkt, nämlich den Gebrauch von Werkzeugen. Zwar nicht logisch, aber doch historisch verstanden, läuft es freilich auf dasselbe hinaus. Es sind die Erfindung und der Gebrauch von Werkzeugen, die es dem Menschen erlauben, sein vor-gesetztes Naturbedürfnis über-zu-erfüllen – und Raum schaffen für das Erfinden weiterer Bedürfnisse. "Ihre Bedürfnissse, also ihre Natur", heißt es später in der Deutschen Ideologie, und von einer selbsterzeugten Natur ist also die Rede: generatio aequivoca.*

'Bedürfnis' nimmt bei Marx systematisch denselben Platz ein wie bei Fichte Trieb bzw. Streben, und entspricht der Husserl'schen Intentionalität.**


*) MEW 3, S. 44  

in 2010

**) Und nicht zu vergessen: Platos Eros, der ewig 'nach Schönheit strebt, weil er sie nicht hat'.  


 

Vorstellen und begreifen.


A.Dreher  / pixelio.de

Das Wunder ist, dass wir Sachen begreifen, die wir uns nicht vorstellen können.

Im bloßen Begriff geht der anschauliche Anteil der Vorstellung verloren. Das stammt offenbar aus der Reflexion. In der Reflexion unterscheidet der Vorstellende sich-selbst von seiner Vorstellung; und die Vorstellung von ihm-selbst. Nicht nur das Subjekt wird verselbständigt, sondern sein Objekt: Im Vorstellen sind Ich und das Vorgestellte noch ungeschieden. Im Vorstellen2 des Vorstellens1  verdreifacht sich die Vorstellung: in das Vorgestellte, in den Vorstellenden und in den Vorstellungsakt – als dem tätigen Verhalten des einen zum andern. Dabei müssen die Anschauung als das Was und der Anschauende als der Wer der Vorstellung verloren gehen (können) und das Wie des Vorgestellten sich verselbständigen (können).

Der springende Punkt ist offenbar die Symbolisierung – als der Sprung aus dem analogen in den digitalen Modus der Repräsentation. Sie entsteht bereits im Übergang vom unmittelbaren Anschauen zum Wieder-Hervorholen aus dem Gedächtnisfundus; das nämlich so lange prekär und zufällig blieb, als der Gedächtnisspeicher nicht geordnet war. Wie soll ich eine gehabte Anschauung wiederfinden in all dem Chaos, ohne einen hervorstechenden Anhaltspunkt? Das ist schwerer als ein Element in einem tausendteiligen Puzzle aufzufinden, von dem ich immerhin Größe und Umriss kenne.

Ob das Symbolisieren eher aus der Vorratshaltung oder eher aus den Erfordernissen der Mitteilung entstanden ist, ist unerheblich, weil die selber mit- und auseinander entstanden sein werden. Man könnte annehmen, dass die ersten Symbolisierungen aus dem Herausgreifen besonders augenfälliger 'Aspekte' hervorgegangen sind, die so zu Merkmalen werden – immer noch im analogen Modus.

Der Übergang zum bloßen Zeichen ohne anschaulichen Nachahmungsanteil macht die Digitalisierung der Vorstellung in specie aus. Es handelt sich offenbar um Lautzeichen, um Wörter; um die Entstehung der Sprache. Denn zwar nicht für das Vorstellen selbst, aber sehr wohl für das diskursive Denken in Begriffen, das notfalls ohne jedes anschauliche Residuum auskommt, ist die Ausbildung von Sprachen die Bedingung: eines artikulierten Systems, eines "Spiels" mit vereinbarten Figuren und Regeln.

Wobei die Anschauung offenbar nicht wirklich verloren geht, sondern nur einstweilen abgelegt wird – in den Gedächtnisspeicher, wo es aufgehoben ist und aus dem es durch Aufrufen des zugeordneten digits zu jeder Zeit reaktiviert und vergegenwärtigt werden kann.

*

Der Übergang vom analogen in den digitalen Modus bleibt das eigentliche Mysterium des Geistes – von dem wir allerdings wissen, dass es wirklich stattgefunden hat. Der Schritt vom Lautzeichen zum Schriftzeichen und vom Wortzeichen zum mathematischen Symbol erscheint demgegenüber nur als die geschäftsmäßig Leistung eines tüchtigen Handwerkers. Auch das Übersetzen ganzer Operationsstränge in mathematische Formeln bleibt in diesem Rahmen.

Anschauung ohne Begriff sei blind, meinte Kant, aber Begriffe ohne Anschauung seien leer. Das bezog sich auf die Philosophie der Wolffs und Baumgartens, der er selber angehangen hatte und die so verfuhr, als wenn eine Sache schon verstanden sei, wenn man nur ein Wort durch so und so viele andere 'definiert' hatte; und die arglos darauf vertraute, aus dem Kombinieren von Begriffen materiale Erkenntnisse synthetisieren zu können.

Nicht gedacht hat er an die moderne Physik, die sowohl im Makro- wie im Mikrobereich in mathematischen Formeln Sachverhalte beschreibt, die als wirklich gelten, bei denen sich aber niemand mehr etwas vorstellen kann, weil sie jenseits unserer Anschauungsmöglichkeiten liegen. Und es lassen sich daraus operativ Hypothesen entwickeln, die ihrerseits durch Experimente verifizierbar sind: Es lässt sich aus Begriffen materiales Wissen konstruieren! Allerdings immer nur mittelbar, durch Rückschluss; nie direkt.
Vorstellen können wir uns nur einen Raum mit drei Dimensionen – und die Zeit gesondert daneben. Ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum können wir im Begriff denken; aber wenn es sich einer vorstellen will, muss er hilfsweise auf ganz unzulängliche Analogien aus unserer dreidimensionalen Anschauung zurückgreifen. Dem theoretischen Physiker unserer Tage wird das Operieren mit mathematischen Symbolen und Formeln so geläufig geworden sein, dass er sich darin zu Hause fühlt und meint, er könne sich 'dabei was vorstellen'. Doch dann müsste er es einem Außenstehenden veranschaulichen können. Und das geht mit einem Partikel, das zugleich, aber ebenso ausschließend eine Welle ist, genau so wenig wie mit einem Raum, der selber Zeit ist.

Hier wird als Begriff im Gedächtnisspeicher etwas abgelegt, dem nie ein anschauliches Substrat zugrunde lag. Es werden begriffliche Kombinationen der ersten Ordnung in mathematische Formeln gefasst und durch einen Begriff zweiter Ordnung ausgezeichnet, durch den sie ihrerseits abrufbar sind. Aber eine Anschauung, so residual sie sei, schiebt sich nicht dazwischen. Da wird nichts vorgestellt.

*

Wenn Ihnen einer sagt, er könne sich unterm Urknall etwas vorstellen, erliegt er einer Täuschung. Er hat an die Stelle einer mathematischen Formel ein mythisches Bild geschoben, und das ist allerdings anschaulich. Überführen können sie ihn, wenn Sie ihn auffordern, sich die letzte Sekunde  - oder Nanosekunde – vor dem Urknall vorzustellen. Da könnte er nämlich nur den flüchtigen Schatten von Gottvater 'anschauen'.

Und recht besehen reichen auch die mathematischen Formeln gar nicht bis in den Urknall hinein, sondern immer nur bis ganz kurz – 'unendlich nah' – davor. Drinnen lässt sich nicht einmal mehr etwas denken. Aber dass es in der Sekunde – oder Nanosekunde – davor Nichts gegeben haben sollte, können wir schon gar nicht denken, weil wir uns dabei… nichts vorstellen können. 

im Sommer 2013





Donnerstag, 3. Juli 2014

Umfang und Inhalt.


Rainer Sturm  / pixelio.de 

"Die Bedeutung der Wörter ist ihre Verwendung im Sprachspiel." – Das ist salopp ausgedrückt. Um den springenden Punkt zu vertuschen? Die Bedeutung der Wörter bildet sich aus durch ihre Verwendung im Sprachspiel: Das wäre korrekt. Denn es lässt die Frage offen, wo die Wörter her gekommen sind; oder besser: Es stellt die Frage! Erst das Sprachspiel, dann die Bedeutungen? Oder doch: erst die Bedeutungen, dann das Sprachspiel?! 

Einen Begriff nennen wir ein Wort, dessen Bedeutung durch seine Verwendungen in den Sprachspielen so fest gestellt ist, dass sie in den verschiedensten – na ja, in verschiedenen Sprachspielen fungieren kann. Ob ich nun 'Bedeutung' sage oder 'Verwendung im Sprachspiel' – dieses bleibt: Beide befinden sich in der Spannung zwischen dem Gehalt – 'intensio' – und dem Umfang – 'extensio' – des Begriffs. Wobei die Intensio nichts anderes ist, als was die Scholastiker intentio nannten: 'das, was beabsichtitgt ist, das, worauf abgesehen wird'. Die Extensio, das ist offenbar der Umkreis der (sinnlich begegnenden) Phänomene, die unter die Absicht des Begriffs fallen, die also im Begriff 'mitgemeint' sind. So, dass die Intensio die Qualitäten festlegt, die 'gemeint' sind; und die Extensio die Phänomene zählt, denen diese Qualitäten zugesprochen werden. So, dass weiterhin die Zahl der gemeinten Phänomene zunimmt in dem Maße, wie die Zahl der gemeinten Qualitäten abnimmt, und wiederum abnimmt in dem Maße, wie die Intensität (Stärke, Tiefe, nicht: Menge!) der jeweiligen Qualität zunimmt. (Und ohne Qualitäten geht es nicht.)

Es reproduziert sich in jedem Begriff die Doppeltheit des Bewusstseins, dass dem sinnlich Gegebenen eine Bedeutung zu-gedacht wird, und keines ohne das andere gedacht werden kann; also der 'Begriff' (oder das 'Ding', das er 'erfasst') immer in einer Schwebe vorkommt zwischen Umfang und Gehalt. 

[vgl. Cassirer. Inhalt und Umfang d. Begriffs, 1936]

aus e. Notizbuch; um 2002? 


 

Mittwoch, 2. Juli 2014

Das Ästhetische bildet sich aus als Gegensatz zum Ökonomischen.


Rainer Sturm, pixelio.de 
 
Das Ästhetische steht eo ipso in Gegensatz zum diskursiven Denken – insofern jenes Ökonomie der Vorstellung ist; nämlich als Produktion von bezweckten Ergebnissen (‚Schlüssen’) aus vorliegendem Stoff (‚Gründen’), und zwar sparsam: die Gründe müssen zureichen, aber man bemüht davon nicht mehr als nötig; beides zusammen: das Argument muß zwingend sein. Denn das bedeutet: jederzeit reproduzierbar.

Sieht man ab zuerst auf die Zwecke der Vorstellung, ergibt sich das Bild der Teleologie. Sieht man dagegen ab auf die hinreichenden Gründe, ergibt sich das Bild der Kausalität – beide sind Vorder- und Rückseite desselben Vorstellungskomplexes, der sich, d. h. den wir Rationalität nennen. In jedem Fall geht es um das Hervorbringen, Ableiten oder Konstruieren der Vorstellungsgehalte; nicht, wie im ästhetischen Erleben, um wahr&wertnehmen uno actu. Darum kann man es, anders als jenes, wollen – und muß es wollen, weil es „nicht von alleine kommt“. 

aus Rohentwurf, 9. 


Nachtrag, Nov. 2013

Rationalität, schrieb ich, könne und müsse man wollen - im Gegensatz zum ästhetische Erleben, das "von alleine kommt". Das habe ich inzwischen berichtigt. Theoretisch, in der transzendentalen Darstellung, kommt das ästhetische Erleben 'von alleine'. Aber wir historischen, wirklichen Menschen, denen in unserer modernen bürgerlichen Welt das rationelle Absehen auf nahe wie fernere Zwecke habituell geworden ist, müssen uns erst zusammenreißen und die Zwecke absichtlich beiseite schieben, um das ästhetische Erleben als solches frei zu legen. An sich - d. h. vor der rationellen Bewusstseinsstellung der modernen Menschen - war das ästhetische Erleben zwar 'da'; aber nicht als solches, sondern unkennntlich vermengt in den breiten Strom der noch ungeteilten Wahrnehmung. Vor dem Sieg der Rationalität; weshalb es noch heute als Quell des Irrationalen erscheinen mag, der es gar nicht ist.


 

Dienstag, 1. Juli 2014

Was ich soll.


Lothar Sauer

Maß der Postulate ist nicht ihre Realisierbarkeit. Das Maß der Postulate ist ihre Tauglichkeit, mir im Leben als Leitfaden zu dienen. Ich kann mein Leben so führen, dass es Andern aus Interesse gefällt. Dann bin ich ein nützliches Glied der Gemeinschaft. Und ich kann es so führen, dass es mir selber ohne Interesse gefällt. Was ich wählen soll, lässt sich aus keinem Begriff ermitteln. Es muss sich zeigen und kann immer nur unmittelbar angeschaut werden, Schritt für Schritt. Was sich am Ende daraus ergibt, wird der Sinn meines Lebens gewesen sein.