Fichte-Brevier.




Nein, dies ist keine Sammlung markiger Kalendersprüche. Es geht um Fichtes Philosophie. Natürlich ist meine Auswahl tendenziös: So, wie ich die Wissenschaftslehre verstehe, stelle ich sie dar, anders geht's ja nicht. Und da es sich dabei um eine lebende, aktuelle, fortschreitende Philosophie handelt, ist ihr Verständnis strittig. Mein Brevier ist ein Beitrag zum Streit.




...allein hier soll nicht abstrahiert, sondern angeschaut werden.
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Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 36

Darin lag der Fehler aller bisherigen Philosophen, dass man diese Erkenntnis als übersinnlich ansah; da [hier: während] doch unser Bewusstsein von der Wirklichkeit anhebt.
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ebd.,  S. 131


...dass auf die Freiheit des Willens mein ganzes Denken aufgebaut ist.

E. Picault, Prometheus unbound 


...da doch jedem, der nur eine Sylbe von mir gelesen, bekannt seyn muss, dass auf die Freiheit des Willens mein ganzes Denken aufgebaut ist...
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Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen [1801] SW VIII, S. 70











Mein Ich ist kein Spiegel, sondern ein Auge.
  
Foto: Fabian Lackner, Fotocommunity

Das Ich der bisherigen Philosophen ist ein Spiegel, nun aber sieht der Spiegel nichts, darum wird bei ihnen das Anschauen, das Sehen nicht erklärt, es wird bei ihnen nur der Begriff des Abspiegelns gesetzt. Dieser Fehler kann nur gehoben werden durch den richtigen Begriff vom Ich. Das Ich der Wissenschaftslehre ist kein Spiegel, es ist ein Auge. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 54 




Das Ich ist Tätigkeit, nicht Substanz.
   Himi  / pixelio.de

Das ich ist nicht Seele, die Substanz ist; jeder denkt sich bei dem Ich noch etwas im Hinterhalte. Man denkt, ehe ich so und so es machen kann, muss ich sein. Diese Vorstellung muss gehoben werden. Wer dies behauptet, behauptet, dass das Ich unabhängig von seiner Handlungen sei. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 29



Über den Witz. 
Maria Reinfeld, pixelio.de

Witz ist eine sehr ernsthafte Sache.
Erste Wissenschaftslehre von 1804, Stuttgart 1969, S. 8 


Witz ist die Mittheilung der tiefen, d.h. der in der Region der Ideen liegenden Wahrheit, in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit. –  In ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit, sage ich, und insofern ist der Witz der Mittheilung derselben Wahrheit in einer Kette des bündigen Räsonnements entgegengesetzt.

Wenn z.B. der Philosoph eine Idee in allen ihren einzelnen Bestandtheilen Schritt vor Schritt zerlegt, jeden dieser Bestandtheile, einen nach dem andern, durch eines jeden eigenthümlichen Grenzbegriff bestimmt, und von ihm unterscheidet, so lange bis die ganze Idee erschöpft ist: so geht er den Weg der methodischen Mittheilung, und beweiset mittelbar die Wahrheit seiner Idee.

Gelingt es ihm nun etwa noch zum Beschlusse das Ganze in seiner absoluten Einheit in einen einzigen Lichtstrahl zu fassen, der es wie ein Blitz durchleuchte und abgesondert hinstelle, und jeden verständigen Hörer oder Leser ergreife, dass er ausrufen müsse: ja wahrhaftig so ist es, jetzt sehe ich es mit einemmale ein; so ist dies die Darstellung der aufgegebenen Idee in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit, oder die Darstellens derselben durch den Witz: und hier zwar durch den directen oder positiven Witz. 
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Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW VII, 5. Vorlesung, S. 75f.



Nota. - So geht es natürlich auch: Er gibt erst seinen Witz zum Besten und erklärt ihn danach; oder irgendein anderer, der ihn verstanden hat.
Didaktisch ist das sogar geschickter. JE.



Aufstellung.
Rainer Sturm, pixelio.de 

Die Wissenschaftslehre stellt zuerst auf ein Ich, dies will sie aber nicht analysieren; dies würde eine leere Philosophie sein, sondern sie lässt dieses Ich nach seinen eigenen Gesetzen handeln und dadurch eine Welt konstruieren, dies ist keine Analyse, sondern eine immer fortschreitende Synthese. Übrigens ist es richtig, dass man in der Philosophie von einem Postulate ausgehen müsse; auch die Wissenschaftslehre tut dies und drückt es durch Tathandlung aus.
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Wissenschaftslehre nova methodoNachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 28



Anfangen. 
Petra Schmidt, pixelio.de


Der erste Grundsatz ist ein Postulat. So wie der Unterricht in der Geometrie ausgeht von dem Postulate, den Raum zu beschreiben, so muss auch in der Philosophie ein Leser oder Zuhörer so etwas tun. Wer den ersten Satz versteht, der wird in die philosophische Stimmung versetzt. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 28

 

Nur Handeln ist wirklich 
Petra Bork  / pixelio.de

Anschauung des Wirklichen ist nur möglich durch Anschauung eines wirklichen Handelns des Ich, also alle Erfahrung geht aus vom Handeln, es ist nur durch sie möglich [sic]. Ist kein Handeln, so ist keine Erfahrung, und ist diese nicht, so ist kein Bewusstsein. … Nur meiner Tätigkeit kann ich mir bewusst werden, aber ich kann mir derselben nur bewusst werden als einer beschränkten. …Die Erfahrung bezieht sich auf Handeln, die Begriffe entstehen aus Handeln und sind nur um des Handelns willen da, nur das Handeln ist absolut. … Im Handeln erst komme ich auf Objekte. …Der Urgrund alles Wirklichen ist daher die Wechselwirkung oder Vereinigung des Ich und NichtIch.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 60f.


Widerstand. 
Kunstart.net  / pixelio.de

Handlung ist Tätigkeit, der unaufhörlich widerstanden wird, und nur diese Synthesis des Widerstandes ist es, durch die eine Tätigkeit des Ich anschaubar wird.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 63



Einbildungskraft.
  knipseline  / pixelio.de

Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt - ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproduziert, indem das Ich Unvereinbares vereinigen will, jetzt das Unendliche in die Form des Endlichen aufzunehmen versucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder außer derselben setzt, und in dem nämlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht - ist das Vermögen der Einbildungskraft.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, S. 215




Schweben. 
Carl Spitzweg, Drachensteigen

Die Einbildungskraft setzt überhaupt keine feste Grenze; denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt; nur die Vernunft setzt etwas Festes, dadurch, daß sie erst selbst die Einbildungskraft fixiert. Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt. ... Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt: sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch dieses Schweben hervor. ...

Im praktischen Felde geht die Einbildungskraft fort ins Unendliche, bis zu der schlechthin unbestimmbaren Idee der höchsten Einheit, die nur nach der vollendeten Unendlichkeit möglich wäre, welche selbst unmöglich ist. ... 

Ohne Unendlichkeit des Ich - ohne eine absolutes, in das Unbegrenzte und Unbegrenzbare hinausgehende Produktions-Vermögen desselben ist auch nicht einmal die Möglichkeit der Vorstellung zu erklären. Aus dem Postulate, daß eine Vorstellung sein solle, welches enthalten ist in dem Satze: das Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich, ist nunmehr dieses absolute Produktionsvermögen synthetisch abgeleitet und erwiesen. 
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, S. 217f.





Der ästhetische Sinn.
Gabi Schoenemann, pixelio.de 

Der Wille scheint dem ästhetischen Sinn frei; dem gemeinen als Produkt des Zwangs, z. B. jede Begrenzung im Raum ist Resultat der Begrenztheit des Dings durch andere, denn sie werden dabei gepresst; jede Ausbreitung ist auch Resultat des inneren Aufstrebens in dem Körper, allenthalben Fülle, Freiheit, ersterer ist unästhetisch, letzterer ist der ästhetische. 

Das ist ästhetischer Sinn, aber die Wissenschaft ist etwas anderes. Die Wissenschaft ist der Form nach transzendental, sie ist Philosophie, sie beschreibt die ästhetische Ansicht, in solcher Ästhetik muss dann nicht ein schöner Geist sein; die ästhetische Philosophie ist ein Hauptteil der Wissenschaft und ist der ganzen anderen Philosophie, die man die reelle nennen könnte, entgegengesetzt. 

Der Einteilungsgrund ist der Gesichtspunkt, welcher verschieden ist. In materialer Absicht liegt sie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie in der Mitte. Sie fällt nicht mit der Ethik zusammen, denn unsrer Pflichten sollen wir uns bewusst werden; allein die ästhetische Ansicht ist natürlich und instinktmäßig und dependiert nicht von der Freiheit. Dieser Gesichtspunkt ist der, durch den man sich auf den transzendentalen erhebt, so folgt, dass der Philosoph ästhetischen Sinn, d. h. Geist haben müsse; er ist deshalb nicht notwendig ein Dichter, Schönschreiber, Schönredner; aber derselbe Geist, durch dessen Ausbildung man ästhetisch wird, derselbe Geist muss den Philosophen beleben, und ohne diesen Geist wird man es in der Philosophie nie zu etwas bringen; sonst plagt man sich mit Buchstaben und dringt nicht in das Innere. - Finitum d. 14. März 1799
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 244.




Nur als eine Suche kann die Idee angeschaut werden. 
Angelika Schramm, pixelio.de

Der Begriff des Ideals ist eine Idee. Sie ist ein Begriff von etwas, das gar nicht begriffen werden kann; z. B. der Begriff von der Unendlichkeit des Raums. Dies scheint ein Widerspruch zu sein, welcher so gelöst wird: Vom Objekte ist kein Begriff möglich, aber von der Regel, nach welcher es durch ein Fortschreiten ins Unendliche hervorgebracht werden müsste, z. B. der unendliche Raum; jeder Raum, der aufgefasst wird, ist endlich, wir geben daher nur acht, wie wir es machen würden, wenn wir den unendlichen Raum auffassen wollten. Man denkt sich die Regel weg, so bleibt das Suchen übrig, und das ist das Objekt der Anschauung, von der hier geredet wird.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 84




Ursprünglich ist nur Materie. 
Harald Schottner, pixelio.de

…es ist nicht möglich, auf den Raum zu reflektieren, ohne auf das Objekt, das im Raume ist, zu reflektieren; denn der Raum ist die subjektive Bedingung des Objekts, und der Raum ist bedingt durch die Reflexion auf das Objekt.. Es ist nicht möglich, auf das Objekt zu reflektieren, ohne auf den Raum, aber es gibt auch keinen Raum ohne Objekt, sonach sind beide im Bewusstsein notwendig vereinigt; ursprünglich ist kein Objekt und kein Raum gegeben allein, sondern zugleich. Objekt im Raum aber heißt Materie; folglich ist ursprünglich Materie. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 113




Der Platz des Christentums.
Wassilij WereschtschaginNacht auf der Golgatha

Das Christentum ist Lebensweisheit, oder Popularphilosophie, und kann nichts anderes sein wollen, ohne seinen Rang zu verlieren und sich dem Streit der philosophischen Systeme auszusetzen; sich dem Rechte auszusetzen, daß man Demonstrationen von ihm verlangt...
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 132]




Real ist die Wechselwirkung. 

Der Kritische Idealismus ist kein Materialismus oder Dogmatismus. Kein Materialismus, der von Dingen ausgeht, kein Idealismus, der von einem Geiste als Substanz ausgeht. Kein Dualismus, der vom Geist und von den Dingen an sich als abgesonderten Substanzen ausgeht. Der kritische Idealismus geht aus von ihrer Wechselwirkung als solcher, oder als Akzidenz beider (Substanz und Akzidenz sind Formen unseres Denkens.) Dadurch wird er der Notwendigkeit enthoben, eines von beiden zu leugnen. 

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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 62




Vom Ich als Idee. 
Mensi / pixelio.de

Das Ich als Idee, ist das Vernunftwesen, inwiefern es die allgemeine Vernunft teils in sich selbst vollkommen dargestellt hat, wirklich durchaus vernünftig und nichts als vernünftig ist; also auch aufgehört hat Individuum zu sein, welch/ches letztere es nur durch sinnliche Beschränkung war: ... Die Welt bleibt in dieser Idee, als Welt überhaupt, als Substrat mit diesen bestimmten mechanischen und organischen Gesetzen...

Die Idee des Ich hat mit dem Ich als Anschauung, nur das gemein, daß das Ich in beiden nicht als Individuum gedacht wird; im letzteren darum nicht, weil die Ichheit noch nicht bis zur Individualität bestimmt ist, im ersteren umgekehrt darum nicht, weil durch die Bildung nach allgemeinen Gesetzen die Individualität verschwunden ist. Darin sind aber beide entgegengesetzt, daß in dem Ich als Anschauung nur die Form des Ich liegt und auf ein eigentliches Material desselben, welches nur durch sein Denken einer Welt denkbar ist, gar nicht Rücksicht genommen wird; da hingegen im letzteren die vollständige Materie der Ichheit gedacht wird.

Von dem ersten geht die ganze Philosophie aus, und es ist ihr Grundbegriff; zu dem letzteren geht sie nicht hin; nur im praktischen Teile kann diese Idee aufgestellt werden, als höchstes Ziel des Strebens der Vernunft. Das erstere ist, wie gesagt, ursprüngliche Anschauung, und wird auf die zur Genüge beschriebene Weise Begriff: das letztere ist nur Idee; es kann nicht bestimmt gedacht werden, und es wird nie wirklich sein, sondern wir sollen uns dieser Idee nur ins Unendliche annähern.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, S. 517f.


Nota. - Das Ich als Idee wäre eines, das ausschließlich in unsere Welt gehört. Aber ein solches kann nicht sein. Ob man sich ihm 'ins Unendliche annähern' soll, wäre noch zu diskutieren - aber nicht in der theoretischen Philosophie. 
JE

 

 

Bildsamkeit ist der Charakter der Menschheit. 
Annamartha, pixelio.de

…daß der Mensch als solcher nicht Zögling der Natur ist, / noch es sein soll. Ist er ein Tier, so ist er ein äußerst unvollkommenes Tier, und gerade darum ist er kein Tier. [S. 81f.] ... Jedes Tier ist, was es ist: der Mensch ist ursprünglich gar nichts. Was er sein soll, muß er werden: und da er doch ein Wesen für sich sein soll, durch sich selbst werden. Die Natur hat alle ihre Werke vollendet, nur von dem Menschen zog sie die Hand ab, und übergab ihn gerade dadurch an sich selbst. Bildsamkeit, als solche, ist der Charakter der Menschheit. [S. 80]
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Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796] SW. Bd. III, S. 81f., 80




So produziert die Vernunft sich selbst. 
Albrecht E. Arnold, pixelio.de

Durch diese äußerste Hülflosigkeit ist der Mensch an sich selbst und zuvörderst die Gattung an die Gattung gewiesen. Wie der Baum durch das Abwerfen der Frucht seine Gattung erhält, so erhält der Mensch, durch Pflege und Erziehung der Hülflosgeborenen, sich selbst, als Gattung. So producirt die Vernunft sich selbst, und so nur ist der Fortschritt derselben zur Vervollkommnung möglich. So werden die Glieder aneinander gehängt, und jedes künftige erhält den Geisteserwerb aller vorhergegangenen.
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Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796] SW. Bd. III, S. 82



Nota. - Vernunft ist die Kompensation der erworbenen Mangelhaftigkeit.
JE 



Transzendental oder ideal. 
Lupo  / pixelio.de

...einer sonderbaren Verwechselung. Es ist die des Ich als intellektueller Anschauung, von welchem die WL ausgeht, und des Ich als Idee, mit welchem sie schließt. Im Ich, als intellektueller Anschauung, liegt lediglich die Form der Ichheit, das in sich zurückgehende Handeln, welches freilich auch selbst zum Gehalte desselben wird... Das Ich ist in dieser Gestalt nur für den Philosophen, und dadurch, daß man es faßt, erhebt man sich zur Philosophie. Das Ich als Idee ist für das Ich selbst, welches der Philosoph betrachtet, vorhanden; und er stellt es nicht auf als seine eigene, sondern als Idee des natürlichen, jedoch vollkommen ausgebildeten Menschen... 
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Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, S. 517




Vom transzendentalen Standpunkt.
André Kertész, 1929

Die soeben beschriebene... Philosophie steht auf dem transzendentalen Standpunkt und sieht von diesem auf den gemeinen Gesichtspunkt herab; das ist das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass sie nicht will Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben ein Denksystem zustandebringt, sie schafft selbst nichts. Dieses Ich steht auf dem gemeinen Standpunkt. ...

Der Mensch kann sich auf den transzendentalen Standpunkt erheben nicht als Mensch, sondern als spekulativer Wissenschaftler. Es entsteht für die Philosophie selbst ein Anstoß, in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären. Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten; - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegengesetztes. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unsern eignen Grund- sätzen kein Mittel, zu ihm über/zugehen. Es ist faktisch bewiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und der gemeinen Ansicht: dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichts- punkt erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen [als] gemacht (alles in mir), auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 243f.




Zwei Arten zu denken. 
daniel stricker, pixelio.de

Es gibt zwei sehr verschiedene Standpunkte des Denkens; den des natürlichen und gemeinen, da man unmittelbar Objekte denkt, und den des vorzugsweise so zu nennenden künstlichen, da man, mit Absicht und Bewußtsein, sein Denken selbst denkt. Auf dem ersten steht das gemeine Leben, und die Wissenschaft; auf dem zweiten die Transzendentalphilosophie, die ich eben deshalb Wissenschaftslehre genannt habe, Theorie und Wissenschaft alles Wissens, keineswegs aber selber ein reelles und objektives Wissen
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 111.]




Nur eine Gehhilfe.

Foto: christoph wesemann 

Unser System ... läßt sich ebensowenig einfallen, das gemeine und allein reelle Denken selbst zu erweitern, / sondern will dasselbe lediglich darstellen und erschöpfend umfassen. Wir denken im philosophischen, das objektive Denken. Unser philosophisches Denken bedeutet nichts und hat nicht den mindesten Gehalt; nur das in diesem Denken gedachte Denken bedeutet und hat Gehalt. Unser philosophisches Denken ist lediglich ein Instrument, durch welches wir unser Werk zusammensetzen. Ist das Werk fertig, so wird das Instrument als unnütz weggeworfen. 
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 114f.]



Sehhilfe.
birgitH  / pixelio.de

Ausdrücklich und ganz bestimmt durch das Nichtphilosophieren, d. h. dadurch, daß man zur philosophischen Abstraktion sich nie erhoben oder von der Höhe derselben sich wieder in den Mechanismus des Lebens [und] gemeinen Denkens hineinversetzt, entsteht uns alle Realität; und umgekehrt, sowie man sich zur Spekulation erhebt, verschwindet diese Realität gänzlich. Nun ist das Leben Zweck, keinesfalls das Spekulieren; das letztere ist nur Mittel. Und es ist nicht einmal Mittel, das Leben zu bilden; es liegt in einer ganz anderen Welt. Was auf das Leben Einfluß haben soll, muß selbst aus dem Leben hervorgegangen sein. Es ist lediglich Mittel, das Leben zu erkennen. 
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 118]





Als ob ich die Welt selber gemacht hätte.
Franz Gertsch, Bromelia,Guadeloupe 2012 

Ich mache mich deutlicher. Auf dem transzendentalen / Gesichtspunkt wird die Welt gemacht, auf dem gemeinen ist sie gegeben: auf dem ästhetischen ist sie gegeben, aber nur nach der Ansicht, wie sie gemacht ist. Die Welt, die wirkliche Welt, die Natur, denn nur von ihr rede ich, - hat zwei Seiten: sie ist [1.] Produkt unserer Beschränkung; sie ist [2.] Produkt unseres freien, es versteht sich, idealen Handelns (nicht etwa unserer reellen Wirksamkeit). In der ersten Ansicht ist sie selbst allenthalben beschränkt, in der letzten selbst allenthalben frei. Die erste Ansicht ist gemein, die zweite ästhetisch. ...


Wer der ersten Ansicht nachgeht, der sieht nur verzerrte, gepreßte, ängstliche Formen; er sieht die Häßlichkeit; wer der letzten nachgeht, der sieht kräftige Fülle der Natur, er sieht Leben und Aufstreben; er sieht die Schönheit. So bei dem Höchsten. Das Sittengesetz gebietet absolut, und drückt alle Naturneigung nieder. Wer es so sieht, verhält sich zu ihm als Sklav. Aber es [das Sittengesetz] ist zugleich das Ich selbst; es kommt aus der inneren Tiefe unseres eigenen Wesens, und wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst. Wer es so ansieht, sieht es ästhetisch an. Der schöne Geist sieht alles von der schönen Seite; er sieht alles frei und lebendig. ...

Wo ist die Welt des schönen Geistes? Innerlich in der Menschheit, und sonst nirgends. Also: die schöne Kunst führt den Menschen in sich selbst hinein, und macht ihn da einheimisch. Sie reißt ihn los von der gegebenen Natur, und stellt ihn selbständig und für sich allein hin. ... Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität / eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks... 
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Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 353ff.





Als Regulativ, als pädagogische Regel.

Eigentliche Philosopheme einer Transzendentalphilosophie sind an sich tot und haben gar keinen Einfluß in das Leben, weder guten noch bösen; ebenso wenig als ein Gemälde gehen kann. Auch ist es ganz gegen den Zweck dieser Philosophie, sich den Menschen als Menschen mitzuteilen. Der Gelehrte als Erzieher und Führer des Volks, besonders der Volkslehrer, soll sie allerdings besitzen, als Regulativ, als pädagogische Regel, und nur in ihm werden sie insofern praktisch; nicht aber sie ihnen selbst mitteilen, welche sie gar nicht verstehen noch beurteilen können. (Man sehe meine Sittenlehre.) Aber daß  er sie treu und mit Eifer anwende, wird dieser gute Wille schon vorausgesetzt, aber nicht etwa durch sie hervorgebracht: ebenso wie bei dem Philosophen von Profession Unparteilichkeit, Wahrheitsliebe [und]Fleiß schon vorausgesetzt, nicht aber durch sein Philosophieren erst erzeugt wird.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 134]




Man kann leben, ohne zu spekulieren. 
Bild aus hauntedgallery

Worin man befangen ist, was man selbst ist, kann man nicht erkennen; man müßte aus demselben herausgehen, aufhören, es zu sein, sich auf einen Standpunkt außerhalb desselben stellen. Dieses ist die Spekulation; dieser Standpunkt außer dem wirklichen Leben ist sie. Nur inwiefern es diesen höhern Standpunkt und diese beiden entgegengesetzten Standpunkte gab, ist es dem Menschen möglich, sich selbst zu erkennen. Man kann leben und vielleicht der Vernunft ganz gemäß leben, ohne zu spekulieren; man kann leben, ohne das Leben zu er/kennen. Aber man kann das Leben nicht erkennen, ohne zu spekulieren. 
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 119f.]





Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. 
Rembrandt, Die Anatomie des Dr. Tulp

Was soll denn nun eine Philosophie, und wozu bedarf es der spitzfindigen Zurüstung derselben, wenn sie gesteht, dass sie für das Leben nichts andres sagen, zu demselben [sich] nicht einmal als Instrument bilden kann; daß sie nur Wissenschaftslehre, keineswegs Weisheitsschule ist?

Ich erinnere auch hier an die oft gegebene Antwort. Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 122]





Indem sie den Menschen auf seine Füße stellt. 
Leonardo, Kanon 

Mittelbar, d. h. inwiefern ihre Kenntnis mit der Kenntnis des Lebens vereinigt ist, hat sie auch einen positiven Nutzen. Für das unmittelbar praktische pädagogische im weitesten Sinn des Worts: Sie zeigt, wie man die Menschen bilden müsse, um moralische, echtreligiöse, legale Gesinnungen in ihnen hervorzubringen und nach und nach allgemein zu machen. Für die theoretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse. – Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal lediglich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 123]





Nur, was aus dem Leben kommt, hat Realität.
Jacob Jordaens, Drei Musiker

Unsere Philosophie macht umgekehrt das Leben, das System der Gefühle, des Begehrens zum Höchsten und läßt der Erkenntnis überall nur das Zusehen. Es ist nach ihr ein solches System der Gefühle bestimmt: es ist freilich mit ihnen ein Bewußtsein verknüpft; und dies gibt eine unmittelbare, nicht eine durch Folgerungen erschlossene, durch freies, auch zu unterlassendes Räsonnement erst erzeugte Erkenntnis. Nur diese unmittelbare Erkenntnis hat Realität, ist, als aus dem Leben kommend, etwas das Leben bewegendes: und wenn philosophisch die Realität einer Erkenntnis erwiesen werden soll, muß ein Gefühl – ich will mich hier noch dieses Worts bedienen und werde über den Gebrauch desselben sogleich noch bestimmtere Rechenschaft geben – aufgezeigt werden, an welches diese Erkenntnis sich unmittelbar anschlösse.

Das freie Räsonnement kann jene Erkenntnis nur durchleuchten, läutern, verknüpfen und trennen, das Mannigfaltige derselben, und dadurch den Gebrauch desselben sich erleichtern und sich fertiger darin machen: aber sie [sic] kann es nicht vermehren. Unsere Erkenntnis ist uns mit einem Male, für alle Ewigkeit gegeben, und wir können dieselbe nur weiter entwickeln, den Stoff nur aus eben diesem Stoff vermehren.

Nur das Unmittelbare ist wahr: und das Vermittelte ist wahr, inwiefern es sich auf jenes gründet, außerdem Schimäre und Hirngespinst.

*) Das Leben ist die Basis: und wenig bedeuten die Worte.  

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 138f.]





A priori, a posteriori 

Ich frage vielmehr auch: ist denn irgend etwas a priori, das nicht eben darum notwendig a posteriori sein müsse; und kann denn irgend etwas a posteriori sein, außer darum, weil es a priori ist? 
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Annalen des philosophischen Tons... [1797] SW, Bd. II, S. 474




Ein ästhetischer Trieb. 
Thomas Max Müller  / pixelio.de

Der Erkenntnistrieb zielt ab auf Erkenntnis, als solche, um der Erkenntnis willen. ... Der praktische Trieb geht auf die Beschaffenheit des Dinges selbst, um seiner Beschaffenheit willen. ...nur daß im ersten Falle [Erkenntnistrieb] die Vorstellung sich nach dem Dinge, und im zweiten [prakt. Trieb] das Ding sich nach der Vorstellung richten soll. Ganz anders verhält es sich mit dem Triebe, den wir eben den ästhetischen nannten. Er zielt auf Vorstellungen, und auf bestimmte Vorstellungen ledigleich um ihrer Bestimmung und um ihrer Bestimmung als bloßer Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung ihr eigner Zweck... Ohne alle Wechselbstimmung mit einem Objekte steht eine solche Vorstellung isoliert, als letztes Ziel des Triebes, da, und wird auf keine Ding bezogen, nach welchem sie, oder welches sich nach ihr richte. 
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 279





Die einzige Grundkraft. 
Urs Flükiger, pixelio.de 

Lediglich durch den Trieb ist der Mensch ein vorstellendes Wesen. Könnten wir ihm auch, wie einige Philosophen wollen, den Stoff seiner Vorstellungen durch die Objekte geben, die Bilder durch die Dinge von allen Seiten her auf ihn zuströmen lassen, so bedürfte es doch immer der Selbsttätigkeit, um dieselben aufzufassen und sie auszubilden zu einer Vorstellung. ... Es bedarf dieser Selbsttätigkeit, um diese Vorstellungen nach willkürlichen Gesichtspunkten zu ordnen: ... um sie wiederzuerkennen und von allen ähnlichen zu unterscheiden.... Inwiefern der Trieb solchergestalt auf Erzeugung einer Erkenntnis ausgeht, in welcher Rücksicht wir ihn auch um der Deutlichkeit und der Kürze willen den Erkenntnistrieb nennen können, gleichsam, als ob er ein besonderer Grundtrieb wäre - welches er doch nicht ist; sondern er und alle besonderen Triebe und Kräfte, die wir noch so nennen dürfen, sind lediglich besondere Anwendungen der einzigen unteilbaren Grundkraft im Menschen...
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 278




Das Menschengeschlecht muss erst zu einem gewissen Wohlstand gekommen sein... 
Clara Peeters, Still Life, c.1625

Selbst die Erkenntnis wird zunächst nicht um ihrer selbst willen, sondern für einen Zweck außer ihr gesucht. Auf der ersten Stufe der Bildung, des Individuums sowohl, als der Gattung, überschreit der praktische Trieb, und zwar in seiner niederen, auf die Erhaltung und das äußere Wohlsein des animalischen Lebens gehenden Äußerung, alle übrigen Triebe; und so fängt denn auch der Erkenntnistrieb damit an, bei jenem zu dienen, um in diesem Dienst sich zu einer selbständigen Subsistenz auszubilden. 


Mit der Kargheit der Natur, oder mit dem Andringen unseres eigenen Geschlechts gegen uns im Kampfe, haben wir nicht Zeit, bei der Betrachtung der Dinge um uns herum zu verweilen; emsig fassen wir die brauchbaren Beschaffenheiten derselben auf, um Nutzen von ihnen zu ziehen, unter unaufhörlicher Besorgnis der Nachteile in der Ausübung, die uns die unrichtige Ansicht derselben zuziehen möchte; mit Hastigkeit eilen wir fort von dieser erstürmten Erkenntnis zur Bearbeitung der Dinge, und hüten uns sehr, einen Augen-blick bei de Erwerbung des Mittels zu verlieren, den wir zur unmittelbaren Erreichung des Zwecks anwenden könnten. 

Das Menschengeschlecht muss erst zu einem gewissen äußeren Wohlstande und zur Ruhe gekommen, die Stimme des Bedürfnisses von innen, und er Krieg von außen muss erst beschwichtigt und beigelegt sein, ehe dasselbe auch nur mit Kaltblütigkeit, ohne Absicht auf das gegenwärtige Bedürfnis und selbst mit der Gefahr sich zu irren, beobachten, bei seinen Betrachtungen verweilen, und unter dieser mäßigen und liberalen Betrachtung den ästhetischen Eindrücken sich hingeben kann.
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 285




Trieb. 
Rainer Sturm, pixelio.de

Dieser Trieb äußert also im allgemeinen sich durch seine Wirkung; von dieser schließen wir auf die Ursache im selbtsttätigen Subjekt zurück, und lediglich auf diese Weise gelangen wir sowohl zur Idee vom Dasein jenes Triebes, als zur Erkenntnis seiner Gesetze.

Nicht immer befriedigt wird der Trieb, inwiefern er nicht auf bloße Erkenntnis des Dinges, wie es ist, sondern auf Bestimmung, Veränderung und Ausbildung desselben, wie es sein sollte, ausgeht, und praktisch heißt; dieses in engster Bedeutung, denn der Strenge nach ist aller Trieb praktisch, da er zur Selbsttätigkeit treibt, und in diesem Sinne gründet alles im Menschen sich auf den praktischen Trieb, da nichts in ihm ist, außer durch Selbsttätigkeit: - oder, inwiefern er ausgeht auf eine gewisse bestimmte Vorstellung, bloß um der Vorstellung willen, keineswegs aber um eines Dinges willen, das ihr entspreche, oder auch nur um der Erkenntnis dieses Dinges willen; welchen letzteren Trieb, da er in seiner Allgemeinheit noch keinen Namen hat, wir vorläufig so bezeichnen wollen, wie man bisher einen Zweig desselben bezeichnet hat, und ihn den ästhetischen Trieb nennen.
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 279



Aus dem Überfluss. 
Petra Dirscherl, pixelio.de

Aber gerade der Umstand, dass wir mit der Erfahrung unser Leben anfangen müssen, eröffnet uns, wie oben gesagt worden ist, den einzig möglichen Übergang zum geistigen Leben. Sowie jene dringende Not gehoben ist, und nichts mehr uns treibt, den möglichen Geisteserwerb gierig zusammenzuraffen, um ihn gleich wieder für den notwendigen Gebrauch ausgeben zu können, erwacht der Trieb nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen. 

Wir fangen an, unser geistiges Auge auf den Gegenständen hingleiten zu lassen, und erlauben ihm, dabei zu verweilen; wir betrachten sie von mehreren Seiten, ohne gerade auf einen möglichen Gebrauch derselben zu rechnen; wir wagen die Gefahr einer zweifelhaften Voraussetzung, um in Ruhe den richtigen Aufschluss abzuwarten. Es bemächtigt sich unser der einzige Geiz, der edel ist, Geistesschätze zu sammeln, bloß um sie zu haben, und uns an ihrem Anblick zu ergötzen, gesetzt auch, wir bedürften ihrer nicht zum Leben, oder sie wären nicht mit dem Stempel ausgeprägt, der allein Kurs hat; wir wagen es, bei unserem Reichtume gleichgültiger gegen den möglichen Verlust, etwas anzulegen an Versuche, die uns misslingen können. Wir haben den ersten Schritt getan, uns von der Tierheit in uns zu trennen. Es entsteht Liberalität der Gesinnungen, - die erste Stufe der Humanität.

Unter dieser ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände, indes unser Geist sicher ist und nicht über sich wacht, entwickelt sich ohne alles unser Zutun unser ästhetischer Sinn an dem Leitfaden der Wirklichkeit. Aber nachdem der Pfad beider eine Strecke weit zusammengegangen ist, reisst sich am Scheidewege wohl auch der erstere los, und geht seinen Gang unabhängig und ungeleitet von der Wirklichkeit. 
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 288f.




Nur der Sinn für das Ästhetische ist es... 
Jan Vermeer, Lautenspielerin am Fenster

Sehen Sie in diesem Beispiele eine kurze Geschichte der Entwickelung unseres ganzen ästhetischen Vermögens. Während der ruhigen Betrachtung, die nicht mehr auf die Erkenntnis dessen, was längst erkannt ist, absieht, sondern die gleichsam nochmal zum Überflusse an den Gegenstand geht, - entwickelt, unter der Ruhe der Wissbegierde und des befriedigten Erkenntnistriebes, in der unbeschäftigten Seele sich der ästhetische Sinn. ...

Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt; das Genie kehrt darin ein, und deckt durch die Kunst, die dasselbe begleitet, auch uns anderen die verborgenen Tiefen desselben auf. 
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 290, 291




Die Kunst macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen.  
Joshua Reynolds, Selbstbildnis 


Die schöne Kunst bildet nicht, wie der Gelehrte, nur den Verstand, oder wie der moralische Volkslehrer, nur das Herz; sondern sie bildet den ganzen vereinigten Menschen. Das, woran sie sich wendet, ist nicht der Verstand, noch ist es das Herz, sondern es ist das ganze Gemüt in Vereinigung seiner Vermögen; es ist ein drittes, aus beiden zusammengesetztes. Man kann das, was sie tut, vielleicht nicht besser ausdrücken, als wenn man sagt: sie macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen. - 

Der Philosoph erhebt sich und andere auf diesen Gesichtspunkt mit Arbeit, und nach einer Regel. Der schöne Geist steht darauf, ohne es bestimmt zu denken; er kennt keinen anderen, und er erhebt diejenigen, die sich seinem Einfluß überlassen, ebenso unvermerkt zu ihm, daß sie des Übergangs nicht bewußt werden.
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System der Sittenlehre [1798] SW IV, S. 353



Thetisch, antithetisch, synthetisch. 
 

Die jetzt aufgezeigte Handlung* ist thetisch, antithetisch und synthetisch zugleich. Thetisch, inwiefern sie eine - schlechterdings nicht wahrzunehmende - entgegengesetzte Thätigkeit ausser dem Ich setzt. ... Antithetisch, inwiefern sie durch Setzen oder Nicht-Setzen der Bedingung eine und ebendieselbe Thätigkeit des Ich ihr selbst entgegensetzt. Synthetisch, inwiefern sie durch das Setzen der entgegengesetzten Thätigkeit, als einer zufälligen Bedingung, jene Thätigkeit als eine und ebendieselbe setzt. 
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Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen. SW Bd. 1, S. 337-338

*) ['Tathandlung'] 





Selbstvergessen ist der Charakter der Wirklichkeit. 
Jean Siméon Chardin, Der Junge mit dem Kreisel.

Jenes halbe, träumende und zerstreute Bewußtsein, jene Unaufmerksamkeit und Gedankenlosigkeit, die ein Grundzug unseres Zeitalters, und das kräftigeste Hindernis einer gründlichen Philosophie ist, ist eben der Zustand, da man sich selbst nicht ganz in den Gegenstand hineinwirft, sich in ihm vergräbt und vergißt; sondern zwischen ihm und sich selbst herumschwankt und zittert.

...Sonach wäre der gesuchte Grund deiner Urteile über Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit gefunden. Das Selbstvergessen wäre Charakter der Wirklichkeit; und in jedem Zustande des Lebens wäre der Focus, in welchen du dich hineinwirfst und vergissest, und der Focus der Wirklichkeit Eins und dasselbe. Das sich dir selbst Entreißende wäre das wirklich sich begebende und deinen Lebensmoment füllende. 
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Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über da eigentliche Wesen der neuesten Philosophie [1801] 
SW. Bd. II, S 337f.




Einen Akt der Freiheit begreifen wollen. 
Erhard Ruhland  / pixelio.de

Es würde aber unrichtig sein, wenn man hierbei mit seinem Urteile stehen bleiben und behaupten wollte, er könne auch keinen anderen Charakter haben, als er habe. Er soll schlechthin sich einen anderen bilden, wenn sein gegenwärtiger nichts taugt, und er kann es; denn dies hängt schlechthin ab von seiner Freiheit. Hier ist etwas Unbegreifliches; und es kann nicht anders sein, weil wir an der Grenze aller Begreiflichkeit, bei der Lehre von der Freiheit in Anwendung auf das empirische Subjekt, stehen. ... Begreifen heißt, ein Denken an ein anders anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mechanismus. Einen Akt der Freiheit begreifen wollen, ist absolut widersprechend. Eben wenn sie es begreifen könnten, wäre es nicht Freiheit. 
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J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 181f.



Über Moralität und Begriffe. 
Rolf Handke  / pixelio.de

...denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen...
Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 355 


...ich kann sonach von dem, was ich sollte, keinen Begriff haben, ehe ich es wirklich tue.
ebd, S. 181 


Nota. - Der ästhetische Sinn ist noch keine Tugend, weil er 'ohne alle Begriffe von selbst kommt'. Sittlichkeit verlangt aber nach Begriffen. Doch kann ich von meiner Pflicht 'keinen Begriff haben', ehe ich sie wirklich tue -? Wie ich es drehe und wende, das ist ein Widerspruch. Anscheinend ist der ästhetische Sinn doch der Wegbereiter, der Begriff kommt erst im Nachhinein, als Richter.
JE  



Das Eine Prinzip. 
Bernd Kasper, pixelio.de

Ich kann – dies liegt in meinem Denken – von dem einen Prädikate zu dem andern nicht fortgehn, sie nicht zueinander zählen und sammeln, ohne etwas Daurendes, welchem diese Prädikate insgesamt zukommen, voraus zu setzen; es eben gerade durch dieses Denken zu erzeugen: ob ich [es] gleich, eben weil ich es dem Zusammenhange und den Gesetzen des Denkens nach mit Notwendigkeit erzeuge, nicht für mein Produkt ansehe. 
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 170] 




So als ob Vernunft in der Natur wäre. 
Michael Rittmeier, pixelio.de

…das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft kann also kein andres sein, als dieses: das Mannigfaltige der empirischen Wahrnehmung so zu beurteilen, als ob es unter gewissen Sätzen der Einheit stehe, die ihm ein anderer Verstand in der Absicht gegeben habe, um eine zusammenhängende Erfahrung aus denselben für uns möglich zu machen. 


Dieser Verstand müsste also einen Begriff von einer uns möglichen Erfahrung des Mannigfaltigen durch die Gesetzgebung des Naturbegriffs in der Natur unbestimmt gelassenen gehabt haben, der zugleich den Grund ihrer Wirklichkeit enthalten hätte. So einen Begriff von einem Dinge aber heißt ein Zweck. – 

Nun aber wird durch dieses Prinzip der Urteilskraft ein solcher Verstand so wenig vorausgesetzt, dass es vielmehr vor’s erste sehr denkbar ist, ein solches Verhältnis unter den Mannigfaltigen der empirischen Wahrnehmung sei gar nicht anzutreffen, und dass wenn etwas dergleichen angetroffen wird, es uns sehr zufällig scheint: die Urteilskraft setzt dadurch gar nichts über ein Objekt außer sich fest, sondern sie gibt durch dieses Prinzip nur sich selbst ein subjektives Gesetz von hypothetischer Gültigkeit; wie sie verfahren müsse, wenn sie dieses Mannigfaltige in eine systematische Erfahrung ordnen wolle, und wie dieses Mannigfaltige sich müsse betrachten lassen, wenn uns eine Erkenntnis desselben möglich sein solle. Sie setzt also keinen Zweck der Natur voraus, sondern sie macht es sich nur zur Bedingung der Möglichkeit einer zu erwerbenden Erfahrung, dass die Objekte der in der Natur sich als übereinstimmend mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge müssen betrachten lassen, welche nur nach Zwecken möglich ist. Die Übereinstimmung aber heißt Zweckmäßigkeit der Form nach: weil aus der bloßen Form der Zweck- mäßigkeit eines Dinges sich noch nicht auf einen wirklichen Zweck schließen lässt; indem dieser allemal eine verständige Ursache voraussetzt.

Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat, deren Prinzip er ist. Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf/ Zwecke, nicht beilegen; sondern diesen Begriff nur brauchen, um über die die Verbindung der Erscheinungen in ihr nach empirischen Gesetzen, zu reflektieren. Auch ist dieser Begriff von der praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst, oder auch Sitten) ganz unterschieden, ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird. 
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Versuch eines erklärenden Auszugs [aus der 'Kritik der Urteilskraft'] GA II/1, S. 333f.; Rechtschreibung angepasst 



Nichts ist reell, das nicht auf Wahrnehmung gründet. 
Stebchen, pixelio.de

Ich habe bisher im Gegenteile geglaubt, daß Schwärmerei, Wahnsinn, Raserei darin bestehe, daß man seine Erdichtungen für wirkliche Gegenstände hält, und der gesunde Verstand darin, daß man nichts für wirklich hält, das sich nicht auf eine innere oder äußere Wahrnehmung gründet. ... 

Diesem System ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, inwiefern die Metaphysik das System reeller, durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse sein soll, leugnet z. B. Kant, und ich mit ihm, die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich. Er rühmt sich, dieselbe mit der Wurzel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu retten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Bewenden haben. 
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 113f.]





Vernunft ist nur möglich, weil meine Vernunft die Vernunft der Andern voraussetzt.
RainerSturm  / pixelio.de 

§ 3. Zweiter Lehrsatz

Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich nicht zuschreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen. 

Beweis

I.                  

a. Das vernünftige Wesen kann, nach dem §1. geführten Beweise, kein Object setzen (wahrnehmen und begreifen), ohne zugleich, in derselben ungetheilten Synthesis, sich eine Wirksamkeit zuzuschreiben.

b. Aber es kann sich keine Wirksamkeit zuschreiben, ohne ein Object, auf welches diese Wirksamkeit gehen soll, gesetzt zu haben. Das Setzen dieses Objects, als eines durch sich selbst bestimmten, und insofern die freie Tätigkeit des vernünftigen Wesens hemmenden, muss in einem vorhergehenden Zeitpunct gesetzt werden, durch welchen allein derjenige Zeitpunct, in welchem der Begriff der Wirksamkeit gefasst wird, der gegenwärtige wird.

c. Alles Begreifen ist durch Setzen der Wirksamkeit des Vernunftwesens; und alle Wirksamkeit ist durch eine vorhergegangenes Begreifen desselben gedingt. Also ist jeder mögliche Moment des Bewusstseyns, durch einen vorhergehenden Moment desselben, bedingt, und das Bewusstseyn wird in der Erklärung der Möglichkeit schon als wirklich vorausgesetzt. Es lässt sich überhaupt nur durch einen Cirkel erklären; es lässt sich sonach überhaupt nicht erklären, und scheint unmöglich. ...
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 30





Vernünftigkeit bedarf einer Aufforderung.
Caravaggio, Amor vincit omnia

Der Grund der Unmöglichkeit, das Selbstbewusstseyn zu erklären, ohne es immer schon als vorhanden voraus- zusetzen, lag darin, dass um seine Wirksamkeit setzen zu können, das Subject des Selbstbewsstseyns schon vorher ein / Object, bloss als solches, gesetzt haben musste; und wir somit immer aus dem Momente, in welchem wir den Faden anknüpfen wollten, zu einem vorherigen getrieben wurden, wo er schon angeknüpfte seyn musste.

Dieser Grund muss gehoben werden.

Er ist aber nur so zu heben, dass angemommen werde, die Wirksamkeit des Subjects sey mit dem Objecte in einem und demselben Moment synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjects sey selbst das wahrgenommene und begriffene Object, das Object sey kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjects, und so seyen beide dasselbe. ...

Beide sind vollkommen vereinigt, wenn wir uns denken ein Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmuung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschliessen.

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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 31ff.

Nota. - Sie verstehen meine Illustration nicht? Dann denken Sie nur, es sei nicht Caravaggios Cupido, sondern Platos Eros; dann geht's.
JE




Das Sittengesetz ist nicht gegeben, sondern wird gemacht.
Andrea Mantegna, Sieg der Tugenden über das Laster

...daß das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zutun in uns sei, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird.  
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System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192





Übereinstimmung ist der Zweck der Vernunft.
Foto: picture alliance / dpa / Stockfoto

Religion zwar ist Angelegenheit aller Menschen, und jeder redet da mit Recht hinein und streitet: dies ist Bestimmung des Menschen und Anlage, um allmählich Übereinstimmung, den großen Zweck der Vernunft, hervorzubringen.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 136]
 



 

Nota. - Mit andern Worten - Vernunft ist immer da an ihrem Platz, wo Übereinstimmung angebracht ist. Alles andere liegt nicht in ihrem Zweck.
JE




Das sittliche Gefühl und der Begriff.
  





Franz Xaver Messerschmidt 


Er sagt: Ist das sittliche Gefühl von der Bildung der Vernunft nicht abhängig? /... Ich antworte ohne weiteres: So wie er die Begriffe nimmt, keineswegs. Die Vernunft, von der er hier redet, ist die theoretische, [die] des Erkenntnisvermögens. Dies sagt aus nur, daß und wie etwas sei: Von einem Handeln, einem Handelnsollen, einem Postulate liegt in ihr schlechterdings nichts, und ich möchte den Künstler sehen, der mir so etwas heraus- analysierte, wenn er es nicht erst hineinlegt.

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 140]




Gewiss. 
Lupo  / pixelio.de

Zuförderst über den Doppelsinn des Wortes Gefühl, der auch Herrn E. an meiner Meinung irrig gemacht. Das Gefühl ist entweder sinnlich und das des Bittern, Roten, Harten, Kalten usw., oder intellektuell. Herr E. und mit ihm alle Philosophen seiner Schule scheint die letztere Art gänzlich zu ignorieren, nicht zu beachten, daß auch eine solche Gattung angenommen werden müsse, um das Bewußtsein begreiflich zu machen.

Ich habe es hier mit dem ersten nicht zu tun, sondern mit dem letztern. Es ist das unmittelbare Gefühl der Gewißheit und Notwendigkeit eines Denkens. – Wahrheit ist Gewißheit: und woher glauben die Philosophen der entgegengesetzten Schule zu wissen, was gewiß ist? Etwa durch die theoretische Einsicht, daß ihr Denken mit den logischen Gesetzen übereinstimmt? Aber woher wissen sie denn, daß sie sich in diesem Urteile über die Überein- stimmung nicht wieder irren? Etwa wieder durch theoretische Einsicht? Aber wie denn hier? – Kurz, da werden sie ins Unendliche getrieben, und ein Wissen ist schlechthin unmöglich. – Überdies, ist denn Gewißheit ein Objektives, oder ist es ein subjektiver Zustand? Und wie kann ich einen solchen wahrnehmen, außer durch das Gefühl?
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 146]





Ein intellektuelles Gefühl. 

Es ist klar, daß dieses Gefühl nur mein Denken begleitet und nicht eintritt ohne dieses. – Daß das Gefühl eine Wahrheit geben solle, ist unmöglich und würde keinen Sinn haben. Es, dieses Gefühl der Gewißheit und Wahrheit, begleitet nur ein gewisses Denken.

Es ist klar, daß, wenn ein solches Denken die Bedingung der Vernünftigkeit selbst ist und das Gefühl der Gewißheit unabtrennlich einfaßt, alle Menschen über dieses Gefühl übereinkommen müssen und es jedem anzumuten ist, wenn es ihm auch nicht anzudemonstrieren wäre, welches in Absicht des Unmittelbaren überhaupt nirgends stattfindet. 

Es ist dieses Gefühl ein intellektuelles Gefühl.

Es ist dies der Grund aller Gewißheit, aller Realität, aller Objektivität.

Das Objekt ist ja nicht durch die sinnlichen Gefühle: denn auch diese sind nur Prädikate desselben, die schon ein Objekt, schon eine Erfassung dessen, was eigentlich nur subjective [sic] ist, voraussetzen. Es ist  durch das Denken. – Drum ist dieses nicht ein bloßes Denken. Woher das in ihm entsprechende [sic]? Aus dem intellektuellen Gefühle. .../
 

Es begleitet das Denken, daß zu der Realisation des durch unsere moralische Natur uns gesetzten Zweck[es] der absoluten Selbstständigkeit der Vernunft Annäherung möglich sei, und daß die pflichtmäßige Erfüllung unsrer Schuldigkeit in unsrer Lage, lediglich um der Pflicht willen, Bedingung der Annäherung sei. 
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 147; 149]



 
So oder gar nicht.
aus Mehr Wirklichkeit
 
Ich denke, es ist möglich, daß die Vernunft ihrem Zwecke entgegengehe und sich ihm annähere. Dies möchte etwa als ein willkürliches Denken, ein bloßes problematisches Setzen, ein Denken, das weiter auch nichts für sich hat als die bloße Denkmöglichkeit, Nicht-Undenkbarkeit, erscheinen. – Dieses Denken ist in einem gewissen Zusammenhange des Denkens notwendig: und dies ergibt erst eine logische Notwendigkeit. – Setzte ich mir den Zweck wirklich in meinem Handeln, so setzte ich ihn freilich in irgendeiner zukünftigen Zeit als wirklich: dies geht aus der Logik hervor. /

Aber beide Gemütsbestimmungen scheinen gegenseitig voneinander abzuhängen – und man hat es häufig so betrachtet -, beide miteinander zu stehen und zu fallen, und es zeigt sich kein Drittes. Ich soll und kann den Zweck der Sittlichkeit mir nicht vorsetzen, wenn ich nicht schon von seiner Ausführbarkeit überzeugt bin, hat man häufig gesagt, und so das erste vom letzten abhängig gemacht. – Ich kann ihn nicht für ausführbar halten und werde es nicht, wenn ich ihn mir nicht setze, kann man sowohl sagen. Warum soll ich ihn mir setzen?

Kurz: im bloßen logischen Verhältnisse ist beides nur unter Bedingung gewiß – und sonach keins. Es muß eine unmittelbare Gewißheit eintreten. Diese ist ein Gefühl, ich soll schlechthin diesen Zweck mir setzen: und ihn schlechthin für ausführbar halten: ihn für ausführbar halten und ihn setzen. Beides ist Ein Denken, nicht zwei: Keins ist die Folge vom andern: sondern beides ist Eins: und daß dies wahr und gewiß und unfehlbar ist, ist Notwendigkeit, die ich nur fühle, nicht erschließe aus andern Sätzen. /

Da es unmittelbare, nur fühlbare Gewißheit ist, so kann man es keinem andemonstrieren: aber bei jedem sicher voraussetzen, indem diejenigen, die es haben und die über den Zusammenhang des menschlichen Wissens nachdenken, erkennen, daß jedes andere Wissen sich nur darauf gründet: und daß jeder, der etwas weiß, unvermerkt und ihm vielleicht selbst unbekannt, von jenem Wissen ausgegangen ist. Es läßt sich jedem anmuten, daß er sich, welches von der Freiheit abhängt, mit sich selbst gehörig bekannt machen, in sich einkehren solle, wo er denn ohne allen Zweifel es in sich finden wird.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 149ff.]


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