Transcendentalia.

Daillion
  
Das Blog Philosophierungen war ursprünglich das Vorzimmer und die Einführung in meine Arbeit an Fichtes Wissenschaftslehre. Als ich dazu überging, die Wissenschaftslehre nova methodo im Wortlauf wiederzugeben und absatzweise zu kommentieren, verlegte ich all meine andern Be- merkungen hier auf diese Seite. So wurden eigentlich zwei Blogs in einem daraus; der eine ein bisschen näher an meinem Vordenker dran, der andere etwas unbefangener nach meinem eige- nen Probieren; doch der Sache nach gehören sie wirklich zusammen. Einige meiner Leser wer- den sie nebeneinander verfolgen. Doch für die, die es nicht tun, bringe ich an dieser Stelle einen Teil der Kommentare, die ich am andern Ort einzelnen Textstellen aus der Wissenschaftslehre beigegeben habe.

Es möchte sein, dass das eine oder andere ohne diesen Zusammenhang sogar einleuchtender klingt als mit. Doch wo nicht, wäre es mir lieb, wenn der Leser sich Verständnis suchend doch noch jenem andern Ort zuwendet.

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"Leib und Seele"


Als Leib bin ich Ding der Sinnenwelt in Raum und Zeit, als Einbildungskraft schaffe ich eine intelligible Welt. Als Leib fühle ich, als Einbildungskraft schaue ich an. Als Leib bin ich beschränkt, als Einbildungskraft bin ich frei. Denn das Anschauen des Gefühls - reale Tätigkeit - bindet nur einen Teil meiner Einbildungskraft. Der überschießende Teil - ideale Tätigkeit - geht ins Unendliche fort.
 
Nicht zu übersehen: Am Anfang steht der Leib. Wäre ich nicht durch ihn beschränkt, fände die Einbildungskraft kein Motiv, über das sie hinausgehen kann. Die Beschränktheit fühle ich nicht, ehe ich über sie hinausgehe. Merke: Zur Freiheit muss ich mich bestimmen.


Du sollst wollen.


Es geht der Wissenschftslehre darum zu verstehen - einsehen, woher und wozu -, wie das von uns historisch vor- gefundene System der Vernunft entstanden ist. Dass es entstanden ist, ist uns vorausgesetzt, dass es entstehen musste, braucht daher nicht erwiesen zu werden. Darzulegen sind die Bedingungen der Möglichkeit seines Entstehens. Und zwar vollständig: Zeigt sich in der Darstellung eine Lücke, so muss sie gefüllt werden.

Soll das Wollen des Ich, soll die Bestimmbarkeit von Ich und Nichtich nicht zufällig sein, sondern notwendig, dann muss ein Objektivum angenommern werden. Also doch ein metaphysisches Müssen von außerhalb? Nein nein. Sondern das zufällige Wünschen muss zum Wollen festgestellt werden, indem es einen Grund findet. Aber eben im Ich selbst. 

Es ist geschehen, dass die Menschen sich eine Welt als Inbegriff des Bestimmbar-zu-Bestimmenden vorgestellt haben. Es muss also gedacht werden, dass sie sich als bestimmen-sollend vorgefunden haben, um sich als bestim- men-wollend bestimmen zu können. Nämlich aus Freiheit.

Nicht gedacht muss werden, dass irgendwann alle empirischen Individuen sich als bestimmensollend gefühlt haben. Es soll nicht gezeigt werden, wie alle Menschen vernünftig geworden sind. (Sind sie es?) Sondern es solle gezeigt werden, wie es möglich war, dass aus der Menge der Menschen heraus eine 'Reihe vernünftiger Wesen' und ipso facto eine intelligible Welt entstanden sind, in der diese miteinander verkehren. 

Allerdings behauptet die Vernunft seither, im Namen Aller zu sprechen. Um sich damit durchzusetzen, wird sie mehr aufbieten müssen als bloß vernünftige Gründe; denn die überzeugen nur die schon Überzeugten.




Nur Erklärungsgrund

Wenn man überhaupt von einem An-sich reden könne, dann wäre es das reine Wollen, hatte es zuvor geheißen. Nicht freilich als ein metaphysisches Subjekt vor aller Erscheinung, sondern als bloßes Gedankending: Noume- non.

Wozu ein solches Gedankending? Als Erklärungsgrund. Wenn aber ein Realgrund im Sinne von Ursache und Wir- kung nicht gemeint wäre - was dann? Es kann nur eine nachträgliche Sinn-Bestimmung sein. Der Zielpunkt, auf den die Rekonstruktion des Vorstellungsgangs hinauslaufen soll, ist gegeben - ein Zustand, in der Vernunft gilt (gelten soll: das ist dasselbe). Was Vernunft aber ist - woher sie kommt, woraus sie besteht, worin ihr Zweck liegt - sollte die Kritik erst herausfinden: Es ist Selbstbestimmen des Wollens zu einer Übereinstimmung der Vernunft- wesen. Ad quem - Übereinstimmung, a quo - Wollen; das sind die beiden Pole derselben Sache.

Doch was im Nachhinein aussieht wie das Ergebnis einer Analyse, war im Anfang eine Synthesis par excellence: ein Postulat. 




Individuum


Auch Individuum ist das Ich nur, sofern es vernünftig ist. Aber es unterscheidet sich von den anderen vernünf- tigen Wesen dadurch, dass es sein Wollen zu diesem bestimmt hat. Denn wenn dem anders wäre, geriete es nicht in die Pflicht, seine Freiheit selber an der Freiheit der Andern beschränken zu sollen.



 

Erkennen heißt einen Sinn finden.


Erkenntnis kann ich nur haben, sofern ich reell wirksam werde. Reell wirksam werden kann ich nur, wenn ich mir von meinen Zwecken einen Begriff mache. Von meinen Zwecken kann ich mir Begriffe nur machen, soweit ich Erkenntnis habe. - Das ist der Zirkel.

Merke: Hier werden Begriffe verknüpft! Lediglich Begriffe: In ihnen steckt nur, was in sie hineindefiniert wurde; nichts treibt sie über sich hinaus. Der Begriff ruht. 

Nun wissen wir aber, dass der Begriff nur die tote Form einer lebendigen Tätigkeit ist: des Vorstellens nämlich. Das Vorstellen ist nicht zufällig, so dass es auch unterbleiben könnte. Es ist von einem Gefühl des Sollens ge- tragen, welches das Gefühl des Bestimmen-Sollens ist: Das Vorgefundene wird nicht einfach als bestimmbar aufgefasst, sondern als etwas zu-Bestimmendes; seine Unbestimmtheit ist der Mangel an ihm, der schlechter- dings behoben werden soll.

So muss ich es mir vorstellen, wenn es möglich sein soll, aus besagtem Zirkel auszbrechen und mit dem Be- stimmen fortzufahren. Möglich muss es aber gewesen  sein, denn wir wissen, dass es wirklich geworden ist.

Um mir das Gefühl des Sollens vorstellen zu können, muss ich mir ein Wollen-überhaupt denken, das seinerseits dem wirkenden Ich zu Grunde gedacht wird.

Es handelt sich nicht um die metaphysische Konstruktion, 'wie alles so kommen musste, wie es gekommen ist'; sondern um die kritische Suche, wie man sich alles vorstellen muss, wenn man einen Sinn darin finden will. Ob man aber einen Sinn darin finden will, entscheidet die Freiheit - oder auch, "was man für ein Mensch ist". 


 

Bedingt notwendig.

 
Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik. Die Gegebenheit, das Positive, von dem die Wissenschaftslehre ausgeht, ist die Vernunft; die Tatsache, dass seit dem 17. Jahrhundert die Vernünftigkeit aller Verkehrenden als verbindende Grundlage und Bedingung des Verkehrs Aller mit Allen gilt.

Die Kritik will wissen, ob und wie die Gültigkeit der Vernunft begründet und gerechtfertigt ist. Da sie als ein- ziges Werkzeug selbst nur über die Instrumente der Vernunft verfügt, muss sie gewissemaßen hinter ihren Schat- ten springen: 'sich selbst bei ihrer Entstehung zusehen'. Um ihr bei ihrem tatsächlichen Aufkommen in der menschlichen Geschichte zuzusehen, ist es zu spät - und wäre seinerseits in den Resultaten verfangen, die sie erst noch rechtfertigen will. Es muss daher im Modell re-konstruiert werden, 'wie es gewesen sein muss' - näm- lich nicht den kontingenten Tatsachen, sondern dem notwendigen Sinne nach.

Kant hatte begonnen, das Instrumentarium der Vernunft zu inventarisieren. Aber er war bei dem stehen geblie- ben, was er das Apriori nannte. Fichte ist seinen Weg weiter gegangen. Er hat alle näheren Bestimmungen aus der Forschritten der Vernunft 'rückgängig gemacht' und aus den Vernunftbegriffen abgezogen, um schießlich auf den Schluss-, d. h. den Ausgangspunkt zu stoßen, von dem nichts weiter abstrahiert werden kann - das sich selbst (auseinander) setzende Ich. 

Von da an geht die Reise zurück: Es wird rekonstruiert, 'wie es gewesen sein muss', als das Ich Schritt für Schritt das ganze System der Vernunft aus sich hervorgebracht hat. Es ist keine Konstruktion mit Lineal und Zirkel aus dem terminus a quo, sondern ein Aufsuchen des rechten Wegs zu einen terminus ad quem. Die Notwen- digkeit, die hier stattfindet, ist keine kausale, sondern eine teleologische. Bedingt nicht aus ihrem Ursprung, son- dern auf ihren Zielpunkt hin. Es ist das Paradox einer Notwendigkeit aus Freiheit. 




Das Was und die Verhältnisse.


Etwas bestimmen heißt, es zu einem andern in ein Verhältnis setzen. Erst dann nämlich kann ich es begreifen. 'So, wie es ganz allein für sich erscheint', mag ich es anschauen. Das ist kein rezeptiver, kein 'leidender', sondern ein quali- fizierender Akt: Ich bilde ihm eine Washeit, ein Quale ein. Das dauert, solange ich anschaue. Es schwindet mit meiner Aufmerksamkeit. Um es in meinem Gedächtnis wiederfinden und erneut ein-bilden zu können, hätte ich es mit einem Merkmal ausstatten sollen, mit dem ich es unter meinen wiederholt bewährten Erinnerungs- bildern lokalisieren kann: in ein Verhältnis setzen. Das nenne ich begreifen, den Begriff kann ich 'mir merken' und kann ihn vor allen Dingen einem andern mitteilen. Anders könnte eine 'Reihe vernünftiger Wesen' sich nie ausgebildet haben.

In bestimmtem Gegensatz zum Begreifen steht seither - das Anschauen. Ich neige als schlechthin Wollender dazu, was immer in meinen Gesichtskreis tritt zu bestimmen, indem ich es mit meinen schon gehabten oder neu erfundenen Absichten 'ins Verhältnis setze'. Wenn ich dagegen 'lediglich anschauen' will, muss ich dieser Neigung widerstehen. Ich muss mich gewollt in den "ästhetischen Zustand" versetzen, wie Schiller ihn nennt. 




Mein Vorstellen und die Begriffe.


Man fasse das Fortschreiten im Bestimmen als Stufengang auf. Auf jeder Stufe hinterlässt das lebendige Vor- stellen als ein Caput mortuum, als 'Gedächtnisspur', einen Begriff. Aber nicht auf den Begriff wird aufgebaut, er 'ruht' ja und bewegt sich nicht. Fortgeschritten wird immer nur im lebendigen Vorstellen. Die Begriffe werden jeweils abgelegt - und wie dann daraus im Verkehr des vernünftigen Wesen untereinander ein reelles System als Bild der Welt entsteht, geht die Transzendentalphilosphie nicht mehr an.

Nicht die Begriffe sind das Wahre der Vorstellung, sondern das Vorstellen ist das Wahre des Begreifens.

Die Darstellung muss, das wiederholt Fichte immer wieder, diskursiv verfahren - also in paradoxaler Form das lebendige Vorstellen durch Verknüpfung ruhender Begriffe beschreiben. Sie kann das Paradox nicht vermeiden, sondern immer wieder nur daran erinnern.

Fichte führt nun stets den Stufengang des Bestimmens als lebendiges Vorstellen vor. Aber sein Vorgehen ist ja ein doppeltes: Das reale Vorstellen ist stets von der idealen Anschauung begleitet - es wird reflektiert. Und beim Reflektieren stößt es - nein: er, Fichte - wieder auf die abgelegten Begriffe. Aber die macht er jetzt doch zum Prüfstein und Maßstab des Vorstellens, wenn er nämlich jedesmal darlegen will, dass und wie die neue Vor- stellung schon in der ihr vorangegangenen Vorstellung unbemerkt angelegt und vorausgesetzt war: Dann destilliert er nämlich aus der Definition des vorangegangenen Begriffs die Bestimmung der neuen Vorstellung.

Entsprechend konstruiert wirkt daher manch eine seiner Deduktionen; er entwickelt dann nicht eine Vorstellung aus der andern, sondern kombiniert Begriffe. Das jeweils im einzelnen Fall auseinanderzulegen ist mühselig, es schwirrt einem der Kopf. Es wäre schon ein Wunder, wenn Fichte sich nicht gelegentlich verheddert hätte; zu- mal er die Unterscheidung selber nie so scharf ausgesprochen hat.

27. 12. 16 


Eigentlich wollte ich hierfür Beispiele sammeln. Dann kam mir die Idee, einem eingefleischten Philologen die dankbare Aufgabe schmackhaft zu machen, in der Nova methodo nach Beispielen systematisch zu suchen. Dabei würden in F.'s Deduktionen voraussichtlich allerlei Unsauberkeiten im Detail zutage treten. Immerhin hat er wiederholt gesagt, er wolle sein' Lebtag nichts bewiesen haben, wenn man ihm in seinen Herleitungen auch nur einen Schnitzer nachweisehn könne...

Nun war es Fichtes persönliches Anliegen, die Wissenschaftslehre quasi wasserdicht zu beweisen. Wir Leser dür- fen uns aber fragen: Wozu soll das gut sein? Sie hat überhaupt nur als Ganze Bestand - oder eben nicht. Und einem Unwilligen beweisen kann man sie sowieso nicht: Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist. Die Brauchbarkeit (und wozu) der Wissenschaftslehre lässt sich überhaupt nicht an ihrer diskursiven Darstellung, die grundsätzlich und immer problematisch sein muss, beurteilen, sondern daran, ob der Vorstellungskomplex, den sie umfasst, den Denkenden, der sie sich zu eigen macht, in die Lage versetzt, sowohl philosophische Sätze als auch Resultate der realen Wissenschaften systematisch auf ihren Bestand zu prüfen.

Bewähren kann sich die Transzendentalphilosophie immer nur praktisch. Und ihre Praxis ist Kritik.


Eine feste Terminologie könne er, solange er noch mit dem Aufbau der Wissenschaftslehre beschäftigt sei, nicht einführen, denn um Begriffe bestimmen zu können, müsse das System bereits abgeschlossen sein (sagt Fichte irgendwo am Anfang der Nova methodo). 

Doch wie soll man sich den 'Abschluss' wohl vorstellen? Den Anfang des Systems - der postulierte Grund-Satz, aus dem alles her- und herausgeleitet werden soll - haben wir (hat er) uns selbst gegeben. Aber ein Schlusspunkt ist schlechterdings nicht zu fassen, nämlich als Begriff: Denn das Verfahren der Vernunft ist unendliches Bestim- men, macht sie an einem Bestimmten Halt, hört sie auf, sie selbst zu sein. Vernunft ist nur actu, anders ist sie nicht. 

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