Mittelbar, d. h. inwiefern ihre Kenntnis mit der Kenntnis des Lebens
vereinigt ist, hat sie auch einen positiven Nutzen. Für das unmittelbar
praktische pädagogische im weitesten Sinn des Worts: Sie zeigt, wie man
die Menschen bilden müsse, um moralische, echtreligiöse, legale
Gesinnungen in ihnen hervorzubringen und nach und nach allgemein zu
machen.
Für die theoretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt,
Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur
fragen müsse. –
Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts
überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt,
indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal lediglich von sich
selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt. ____________________________________________ J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen[S. 123]
Was soll denn nun eine Philosophie, und wozu bedarf es der
spitzfindigen Zurüstung derselben, wenn sie gesteht, dass sie für das
Leben nichts andres sagen, zu demselben [sich] nicht einmal als
Instrument bilden kann; daß sie nur Wissenschaftslehre, keineswegs
Weisheitsschule ist?
Ich
erinnere auch hier an die oft gegebene Antwort. Ihr Hauptnutzen ist
negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für
Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern
daran, daß sie zu viel enthält. ____________________________________________ J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 122]
Es
ist das unmittelbare Gefühl der Gewißheit und Notwendigkeit eines
Denkens. – Wahrheit ist Gewißheit: und woher glauben die Philosophen ... zu wissen, was gewiß ist? Etwa durch die
theoretische Einsicht, daß ihr Denken mit den logischen Gesetzen
übereinstimmt? Aber woher wissen sie denn, daß sie sich in diesem
Urteile über die Übereinstimmung nicht wieder irren? Etwa wieder durch
theoretische Einsicht? Aber wie denn hier? – Kurz, da werden sie ins
Unendliche getrieben, und ein Wissen ist schlechthin unmöglich. –
Überdies, ist denn Gewißheit ein Objektives, oder ist es ein subjektiver
Zustand? Und wie kann ich einen solchen wahrnehmen, außer durch das
Gefühl? _______________________________________________ J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 146]
Nota. - Er nennt es Gefühl. Es ist aber nichts Physiologisches; kein sinnliches Gefühl. Ein intellektuelles Gefühl also. Das Urteil tritt mit der Wahrnehmung selbst ein, es gibt das eine nicht ohne die andere und die andere nicht ohne das eine. Eine Deliberation geschiehtnicht.
Wie nennen wir Urteile, die notwendig von einem Gefühl der Zustimmung oder der Ablehnung begleitet sind? Richtig: Wir nennen sie ästhetisch. JE
... Die
nächstliegende Bemerkung: Das Problem ist, dass die Universitäten zu
Ausbildungsstätten für Berufskarrieren geworden sind. Bologna war ein
Höhe-, aber vermutlich nicht einmal der Schlusspunkt.
Allerdings
waren die Universitäten als Ausbildungsstätten für Berufskarrieren
entstanden. Ärzte, Juristen und Theologen brauchten einen
Universitätsabschluss. In der Neuzeit kamen die leitenden Staatsbeamten
hinzu; wer den Fürsten ihre Reiche verwalten sollte, brauchte eine
umfassende Allgemeinbildung - denn gegen die Juristen und Theologen
würde er bestehen müssen.
Die
besondere Ausprägung der deutschen Universitäten, deren
universalistisches Ideal im 19. Jahrhundert zum Vorbild der westlichen
Welt wurde, verdanken sie dem spezifisch deutschen Bildungs-Begriff. 'Tatsächlich ist die Entgegensetzung von Bildung und dem Lernen
nützlicher Realien für sozialölkonomische Zwecke eine deutsche
Erfindung. Sie wurde zur identitätsstiftenden nationalen Leitidee, denn eine
solche brauchten wir.
Die andern großen Nationen mußten ihre Identität
nicht aus der Reflexion konstruieren, sie konnten sie anschauen: in
einem lebendigen verbindlichen Menschenbild, in dessen
charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar
sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt
den beengten Blick auf den nächstliegenden Vorteil mit einer
kontinentalen Weite des Horizonts. Die tausendfach zersplitterten
Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorgebracht, und schämten sich seiner: Er mußte sich erst einmal bilden.'
Die erste Realisierung dieses Ideals wurde die Humboldt'sche
Universität in Berlin, ihr erster gewählter Rektor wurde der
idealistische Philosoph Fichte - der seinerseits das erst hundert Jahre
später in Angriff genommene Programm der Landerziehungsheime entworfen hat. Wandervogel und Deutsche Reformpädagogik wurden zu unmittelbaren Erben der deutschen Bildungsidee.
Das war eine durch und durch bürgerliche Idee. Durch und durch
bürgerlich waren auch die Naturwissenschaf- ten, die man damals so zu
nennen begann, und die universalistische Bildungsidee öffnete ihnen die
Hörsäle der Universitäten. Deutschland war im 19. Jahrhundert Heimstatt der Wissenschaft. Wollte wer 'inder Wissenschaftmitreden', wurde er am besten ein deutscher Professor; aber ein deutscher Doktor war das mindeste; natürlich war die Universität ein Sprungbrett für die Berufslaufbahn.
Auch die Philosophie kam seit den siebziger Jahren des 19. Jahunderts
wieder zu Ehren, als Sahnehäubchen auf den Realwissenschaften, das
niemand wirklich brauchte, aber über Alles ein weihevolles Licht goss. Den Natur- wisschenschaften zeigte sie sich erkenntlich, indem
sie sich an deren strengen Wissenschaftsbegriff anschmieg- te: Seither
ist deutsche Universitätsphilosophie philologisch, pedantisch und für
Außenstehende unverständlich. Und das durfte sie ruhig werden, denn es
entstand eine beispiellose Menge neuer Lehrstühle; und ein Studien- rat an
deutschen Gymnasien war regelmäßig Dr. phil. Ein Studium der Philosophie - gern auch neben einem Brotstudium - diente der Vorbereitung auf einen Erwerbsberuf. Immer weniger der Sache, immer mehr der Form nach.
Das konnte dauerhaft nicht ohne Folgen für das Was der akademischen Philosophie bleiben. Tonnenideologie und Kästchendenken wucherten wie in allen andern Erwerbszweigen, und nach einem Überblick suchten nur drei- einhalb Außenseiter. Das Ergebnis: Ein Denkstil, der wie zu Wolff-Baumgartens Zeiten sein Genügen in immer neuen, immer spitzfindigeren Definitionen findet,
spielt sich gegen die 'kontinentale', 'historische' und philologische
Flohknackerei als denkerischer Stoßtrupp auf und nennt sich wie zum
Hohne auch noch "syste- matisch".
Ausufernde Form und dünner Inhalt sind nicht an sich das Problem
heutiger philosophischer Dissertationen. Es ist der Gehalt, der nichts
als Wiederkäuen gestattet - und sei es 'ganz von vorne an'. Der Gehalt
einer Philo- sophie, die sich zu Recht so nennt, bleibt aber immer:
Von der Wirklichkeit weißt du gar nichts, sondern nur von dem, was in deinem Bewusstsein vorkommt, und das sind Vorstellungen. Die mögen ja richtig sein, das wollen wir gerne unterstellen. Aber wie das möglich ist – das
würden wir doch schon herausfinden wollen. Dieses Herausfinden heißt
Philosophieren. Das ist ein eng gefasster Begriff von Philosophie, er
ist rein kritisch;
aber er ist hart und haltbar. Unmittelbar taugt er zu nichts, da haben
die Nörgler Recht. Doch mittelbar taugt er zu allem und ohne ihn taugt
nichts: Er ist der Prüfstein, an dem sich Alles bewähren muss. Aber um das Vorstellen selber geht es. Die brauchbaren Begriffe sind bloß De- rivate, die seien euch geschenkt.
Kritische Philosophie
eignet sich nicht zum Wiederkäuen. Und wer nur einen Titel will, den
wird das Wieder- käuen nicht verdrießen. Philosophie war Jahrhunderte
lang keine Sache der Universität und braucht es auch nicht zu bleiben.
Nachtrag
Der Richtigkeit halber sei aber angefügt, dass Philosophie als
selbständiges wissenschaftliches Fach im heutigen Sinn allerdings an derUniversität,
mit der Universität neu-entstanden ist: im hohen Mittelalter, und aus
diesem Grund heißt diese ihre Entwicklungsetappebis heute Scholastik. Sie war viel weniger steril, als man es redens- artlich glauben macht; der Universalienstreit war
ein Wendepunkt der Geistesgeschichte, von einer 'Ersten Auf- klärung' ist gar die Rede; und dass er andernorts nicht
stattgefunden hat, merkt man den außereuropäischen Kulturen bis heute
an. Vor allem aber genügte sie sich damals nicht selbst, denn die
Universität war kein Elfen- beinturm: Sie stand in unmittelbarer
Konkurrenz zur Theologie und war beinahe politisch - und in Gestalt
Wilhelm von Ockhams mehr als nur beinahe.
Brechen konnte sie freilich nicht mit dem Dogma. Dazu bedurfte es des Einbruchs der Mathematik in die Philosophie. Galileo
war kein Universitätsgelehrter, Descartes, Spinoza, Newton und Leibniz
ebensowenig. Zur Universitätsangelegenheit wurde sie erst wieder durch Christian Wolff, der die genialen Essays von Leibniz systematisierte und
bis zu Kants Kritiken das darniederliegende deutsche Geistesleben
beherrschte. Nach eige- nem Verständnis Speerspitze der Aufklärung,
erschien sie aber in ihren haarspalterischen Distinktionen und
Definitionen schon der folgenden Generation als eine 'Zweite Scholastik',
und mit der Kritischen Philosophie brach das Denken wieder aus dem universitären Elfenbeinturm aus.
Aber
auch das nur kurz. An kleinlicher Scholastik und zugleich an
systematischem Totalitarismus stellte das Hegel'sche System alles
Vorangegangene in den Schatten. Als es zusammenbrach, blieb für die
Philosophie nur verbrannte Erde. Allerdings war die Universität unterdessen zu ungeahnten Würden gekommen - siehe oben.
Mit andern Worten, das Verhältnis der Philosophie zur Universität war
immer ein zyklisches, um nicht zu sagen: ein spasmisches.
Universitätsphilosophie ist dem Wesen der Dinge nach schulmäßig - in
Form und Gehalt. Neue Vitalität hat sie stets nur erfahren durch
Abstandnahme vom Hochschulbetrieb und nicht durch den Versuch, ihn
auszubessern.
"Damit sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische
Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens
entstehen kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige
Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische
Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine Beziehung zum Staate –
kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und
gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen
durften." Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen;Kapitel 32/8
aus Süddeutsche.de, Ein Doktortitel fürs Wiederkäuen In Deutschland werden mehr Doktorarbeiten denn je
geschrieben - aber sie interessieren kaum noch. Das Beispiel der
Philosophie zeigt, warum die Promotion in der Krise ist.
Von Maximilian Sippenauer
Nachdem Goethes Dissertation abgelehnt wurde,
machte ihm der Dekan einen Vorschlag zur Güte: Er möge doch über ein
paar Thesen disputieren, was Goethe - wie er in "Dichtung und Wahrheit"
schreibt - mit "großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit" tat. Doch so
sehr es Goethe amüsierte, dass ihm ein wissenschaftlich redundanter
Beitrag von zwölf Seiten den Doktortitel einbrachte, so wuchs darüber
auch seine tiefe Skepsis gegenüber einer
institutionalisierten Wissenschaft.
Die Stellung der Promotion,
des akademischen Gesellenstücks, war schon immer ein guter Seismograf
für den Zustand des forschenden Denkens. Nach Goethes Zeiten wurde sie
professioneller und anspruchsvoller; doch heute muss man vor allem für
die Geisteswissenschaften sagen: Die Promotion steckt in der Krise.
Spätestens seit den Universitätsreformen im Zuge des
Bologna-Prozesses, der eine europäische Vereinheitlichung bringen
sollte, übernimmt die Promotion eine undankbare Scharnierrolle zwischen
einer Post-Bologna-Realität im Studienalltag - der in diesen Tagen
überall wieder beginnt - und dem Humboldt'schen Ideal von Wissenschaft.
Ein bis ins Detail ausdefiniertes Studium,
das schnell fit machen soll für den Arbeitsmarkt, trifft auf eine
extrem uneinheitlich organisierte Universitätswelt.
Bei der Promotion
müssen diese inkompatiblen Vorstellungen von Wissen und Wissenschaft
irgendwie zusammenfinden; mit gravierenden Folgen nicht nur für die
Promovierenden, sondern auch für die Produktion von Wissenschaft.
Die Zahl der Promovierenden ist heute so hoch wie noch nie. Im Wintersemester 2014/15 arbeiteten in den Geisteswissenschaften knapp 35 000 Menschen in Deutschland an einer Doktorarbeit.
Während aber immer mehr Doktoranden und Studierende hinzukamen,
stagnierte die Zahl fester Universitätsstellen. Also gibt es viel, viel
mehr Promovenden als Posten. Trotz dieser kurzsichtigen Stellenpolitik
setzt die Politik unverdrossen Promotionsanreize, schreibt neue
Stipendien aus, subventioniert Sonderforschungsbereiche.
"Man produziert einfach Menschenmaterial"
Was dies bedeutet, wird am Beispiel der Philosophie besonders
deutlich. "Man betreibt in einem Großprojekt wie einem Exzellenz-Cluster
meistens den Unsinn, dass man vierzig Doktoranden für drei Jahre
beschäftigt, in denen sie irgendetwas schreiben müssen", kritisiert
Markus Gabriel, Professor für Philosophie an der Universität
Bonn. "Sehr wahrscheinlich aber schafft es davon kein einziger zur
Professur. Man produziert einfach Menschenmaterial, um die deutsche
Philosophie dann im Ausland feilzubieten."
Gabriel plädiert stattdessen für mehr fixe Professuren, etwa wie
in Frankreich. Diesen solle aber ein kleineres Kontingent an
Promovierenden zugeordnet werden. Statt zwanzig hätte ein Professor etwa
vier vollfinanzierte Doktoranden zu betreuen. Diese könnten sich voll
auf ihre Dissertationen konzentrieren und hätten realistischere
Aussichten auf eine Anstellung.
Die Dissertation selbst zählt kaum
Es geht aber nicht nur um faire Berufsverhältnisse. Das
eigentliche Dilemma, das aus dem prekären Ungleichgewicht zwischen
Stellen- und Anwärterzahlen resultiert, ist, dass der enorme
Konkurrenzdruck unter den Promovierenden zu einer fast schon
wissenschaftsschädlichen Arbeitsweise führt. Wer heute eine akademische
Karriere anstrebt, für den ist "genau das zu tun, worin sein tiefstes
philosophisches Interesse liegt", wie Gabriel die Funktion der Promotion
beschreibt, meist der falsche Weg. Statt sich auf die Dissertation zu
konzentrieren, verbringen Doktoranden heute schon ihre Zeit auf
Konferenzen und versuchen, sich frühzeitig in Zeitschriften
zu profilieren.
Dies bedauert auch der Philosophie-Doktorand Guido Barbi, der in
München und Berkeley studiert hat und nun an einer Dissertation über das
Thema Technokratie arbeitet. "Für eine Uni-Karriere ist es
entscheidend, in den bestmöglich platzierten internationalen
Zeitschriften zu publizieren. Das Endprodukt Dissertation wird wenig
gelesen und zählt als Einstellungskriterium kaum. Wichtiger sind
quantitative Kriterien: Wie viele Artikel hat man geschrieben, wo sind
sie erschienen, wie oft wurden sie zitiert?" Während der Promotion werde
man, so Barbi, schrittweise vom kreativ denkenden Jungakademiker zu
einer Publikationsmaschine umtrainiert.
Doch hat sich die Doktorarbeit
als Monografie, an der über Jahre gedrechselt wird, nicht überholt?
Sind kumulative Promotionen, in denen man eine Reihe von Aufsätzen
anfertigt, nicht zeitgemäßer? Und ist es nicht sinnvoll, als
Jungakademiker in Essays an aktuellen Debatten zu partizipieren? Auch
Lukas Köhler, bis vor Kurzem Post-Doc an der Hochschule für Philosophie
München und nun Mitglied des Bundestages für die FDP, sieht die
Bedeutung schnellerer Debatten. Nur sähe das in Realität anders aus:
"Wissenschaftlich gesehen ist das Veröffentlichen von Aufsätzen
kontraproduktiv. Denn die Art und Weise, wie Paper heute zu schreiben
sind, erlaubt kaum Neues. Im Prinzip werden in diesen Texten nur alte
Gedanken reproduziert."
Ein Grund dafür ist die Gatekeeper-Position der
wissenschaftlichen Zeitschriften. In dem ausdifferenzierten und nie ganz
zu überblickenden Bereich der Philosophie
soll Qualität mittels Peer-Review garantiert werden. Hierzu prüfen zwei
oder drei Peer-Leader, renommierte Professoren des Fachs, ob das
komplett anonymisierte Paper zu einer Publikation taugt.
Klingt erst einmal seriös. Doch das Vorgehen hat einen Haken. Es
treibt die Diskurse nicht voran, sondern in die Breite. "Wenn die harte
Währung für eine Unikarriere die Veröffentlichungen sowie gute Netzwerke
sind, dann investiert man dafür die meiste Zeit. Und zwar
effizienterweise, indem man sich dem Jargon anpasst", meint Köhler. "Das
heißt, man schreibt wie alle anderen und über dieselben Themen; und man
rezipiert natürlich die Topautoren, die die Peer-Review durchführen."
Gedruckt wird nur, was Schlüsselbegriffe enthält
Diese Mechanismen machten eine unkonventionelle Arbeit
schlichtweg riskanter. Doktorand Barbi sagt: "Oft werden unorthodoxe
Gedanken zunächst nicht als suspekt betrachtet. Wenn sie jedoch
erfordern, sich vom gängigen Jargon abzusetzen, wird der Gedanke als
formal unzulänglich angesehen und die Publikation verwehrt." Es gibt
also sprachliche Zusammenhänge aus Schlüsselbegriffen, Schlüsselzitaten
und Schlüsselquellen, die bedient werden müssen, damit ein Essay
problemlos in den Journals erscheint und durch die Algorithmen der
Suchmaschinen bestmöglich erfasst wird. Diese bestimmen die Rankings auf
Webseiten wie Academia.edu. Wer dort oben steht, wird häufiger zitiert,
gilt damit als relevanter und hat bessere Karrierechancen. Hegt man ein
philosophisches Erkenntnisinteresse, ist das natürlich völliger Unsinn.
Die Konsequenzen für die philosophische Praxis sind fatal. "Peer-Review in der Philosophie
ist die Vortäuschung von Qualitätskontrolle", so Gabriel. "Kein
einziger großer Philosoph wäre je mit einem seiner relevanten Texte in
ein solches Journal gekommen. Immanuel Kant hätte unter heutigen
Bedingungen nicht publizieren können. Seine 'Kritik der reinen Vernunft'
wäre nie bei Oxford University Press erschienen, 'Was ist Aufklärung?'
vielleicht noch in der Süddeutschen."
Zugrunde liegt dem Journalsystem ein wesentliches Missverständnis. "Die Philosophie, wie vor 2500
Jahren im Westen und Osten konzipiert, ist fundamental inkompatibel mit
einem ideologischen Verständnis von Wissenschaft. Aber in der Logik
gibt es keine Entdeckungen wie die neuer Proteinvariationen in der
Biologie." Dieser quasiwissenschaftliche Ansatz beeinträchtige auch die
Sprache. "Heute wird in Deutschland so getan, als werde in dem anonymen,
stillosen Stil der Peer-Review-Journals von Tatsachen berichtet. Dabei
wird in den USA, entgegen den Vorurteilen, auch
sprachlich experimentiert."
Überhaupt sind schnelle Journaldebatten kein Allheilmittel. "Will
man sich etwas ausdenken, was eine Wirkungskraft wie etwa Saul A.
Kripkes 'Name und Notwendigkeit' hat, dann braucht man Zeit. Bis Kripke
dieses Buch schreiben konnte, hat er zehn Jahre nur über Semantik
nachgedacht." Die Doktorarbeit
ist als so ein Raum konzipiert: Hier folgt man über zwei oder drei
Jahre, abseits von Hektik und Karrieresorgen, seinem genuinen Interesse.
De facto aber fließt ein Großteil dieser Energie, so sind sich
Professor, Post-Doc und Doktorand einig, in wissenschaftlich redundante
Vorträge und Aufsätze, allenfalls als rhetorische Fingerübungen
entschuldbar, tatsächlich jedoch selten mehr als ein strategisches
Aufmerksamkeitsheischen. Dies bläht die Diskurse immer weiter auf. Ein
Teufelskreis, der bei der Promotion
nicht endet. "Eine Universitätskarriere bei uns heißt, sich dem Diskurs
und seinen Freiheit und Kreativität einschränkenden Mechanismen bis zur
entfristeten Stelle zu fügen", erklärt Gabriel. "Und diese wenigen,
fixen Posten kommen sehr spät. Etwa in einem Alter um die vierzig." Bis
dahin würden etliche Arbeiten aus Karriereerwägungen produziert.
Die deutsche Philosophie zeichnete immer ein besonderes
Verhältnis von Sprache und Denken aus. Sie war damit zugleich
jargonkritisch und jargonanfällig. Wenn aufgrund struktureller
Bedingungen Promovieren heute bedeutet, sich einem
quasiwissenschaftlichen Jargon anbiedern zu müssen, ist die Gefahr groß,
dass das kritische Gegengewicht im Denken bereits in seinen Anfängen
verkümmert. Eine Gefahr, vor der schon Denker wie Weber, Heidegger oder
Adorno warnten. "Was Heidegger als das Gestell bezeichnet hat, ist ja
die Horrorvision einer Groko des Denkens, die überall einzieht", so
Gabriel. "Der philosophische Betrieb heute ist Heideggers Albtraum."
Nota. - Die nächstliegende Bemerkung: Das Problem ist, dass die Universitäten zu Ausbildungsstätten für Berufskarrieren geworden sind. Bologna war ein Höhe-, aber vermutlich nicht einmal der Schlusspunkt. Allerdings waren die Universitäten als Ausbildungsstätten für Berufskarrieren entstanden. Ärzte, Juristen und Theologen brauchten einen Universitätsabschluss. In der Neuzeit kamen die leitenden Staatsbeamten hinzu; wer den Fürsten ihre Reiche verwalten sollte, brauchte eine umfassende Allgemeinbildung - denn gegen die Juristen und Theologen würde er bestehen müssen. Die besondere Ausprägung der deutschen Universitäten, deren universalistisches Ideal im 19. Jahrhundert zum Vorbild der westlichen Welt wurde, verdanken sie dem spezifisch deutschen Bildungs-Begriff. 'Tat- sächlich ist die Entgegensetzung von Bildung und dem Lernen
nützlicher Realien für sozialölkonomische Zwecke eine deutsche
Erfindung. Sie wurde zur identitätsstiftenden nationalen Leitidee, denn eine
solche brauchten wir. Die andern großen Nationen mußten ihre Identität
nicht aus der Reflexion konstruieren, sie konnten sie anschauen: in
einem lebendigen verbindlichen Menschenbild, in dessen
charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar
sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staats- vergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt
den beengten Blick auf den nächstliegenden Vorteil mit einer
kontinentalen Weite des Horizonts. Die tausendfach zersplitterten
Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervor- gebracht, und schämten sich seiner: Er mußte sich erst einmal bilden.' Die erste Realisierung dieses Ideals wurde die Humboldt'sche Universität in Berlin, ihr erster gewählter Rektor wurde der idealistische Philosoph Fichte - der seinerseits das erst hundert Jahre später in Angriff genommene Programm der Landerziehungsheime entworfen hat. Wandervogel und Deutsche Reformpäda- gogik wurden zu unmittelbaren Erben der deutschen Bildungsidee.
Das war eine durch und durch bürgerliche Idee. Durch und durch bürgerlich waren auch die Naturwissen- schaften, die man damals so zu nennen begann, und die universalistische Bildungsidee öffnete ihnen die Hörsäle der Universitäten. Deutschland war im 19. Jahrhundert Heimstatt der Wissenschaft. Wollte wer 'inder Wissenschaftmitreden', wurde er am besten ein deutscher Professor; aber ein deutscher Doktor war das mindeste; natürlich war die Universität ein Sprungbrett für die Berufslaufbahn.
Auch die Philosophie kam seit den siebziger Jahren des 19. Jahunderts wieder zu Ehren, als Sahnehäub- chen auf den Realwissenschaften, das niemand wirklich brauchte, aber über Alles ein weihevolles Licht streute. Den Naturwisschenschaften zeigte sie sich erkenntlich, indem sie sich an deren strengen Wissen- schaftsbegriff anschmiegte: Seither ist deutsche Universitätsphilosophie philologisch, pedantisch und für Außenstehende unverständlich. Und das durfte sie ruhig werden, denn es entstand eine beispiellose Menge neuer Lehrstühle; und ein Studienrat an deutschen Gymnasien war regelmäßig Dr. phil. Ein Studium der Philosophie - gern auch neben einem Brotstudium - diente der Vorbereitung auf einen Erwerbsberuf. Immer weniger der Sache, immer mehr der Form nach.
Das konnte dauerhaft nicht ohne Folgen für das Was der akademischen Philosophie bleiben. Tonnenideo- logie und Kästchendenken wucherten wie in allen andern Erwerkszweigen, und nach einem Überblick suchten nur dreieinhalb Außenseiter. Das Ergebnis: Ein Denkstil, der wie zu Wolff-Baumgartens Zeiten sein Genügen in immer neuen, immer spitzfindigeren Definitionen findet, spielt sich gegen die 'kontinen- tale', 'historische' und philologische Flohknackerei als denkerischer Stoßtrupp auf und nennt sich wie zum Hohne auch noch "systematisch".
Ausufernde Form und dünner Inhalt sind nicht an sich das Problem heutiger philosophischer Dissertatio- nen. Es ist der Gehalt, der nichts als Wiederkäuen gestattet - und sei es 'ganz von vorne an'. Der Gehalt einer Philosophie, die sich zu Recht so nennt, bleibt aber immer:
Von der Wirklichkeit weißt du gar nichts, sondern nur von dem, was in deinem Bewusstsein vorkommt, und das sind Vorstellungen. Die mögen ja richtig sein, das wollen wir gerne unterstellen. Aber wie das möglich ist – das würden wir doch schon herausfinden wollen. Dieses Herausfinden heißt Philosophieren. Das ist ein eng gefasster Begriff von Philosophie, er ist rein kritisch;
aber er ist hart und haltbar. Unmittel- bar taugt er zu nichts, da haben
die Nörgler Recht. Doch mittelbar taugt er zu allem und ohne ihn taugt
nichts: Er ist der Prüfstein, an dem sich Alles bewähren muss. Aber um das Vorstellen selber geht es. Die brauchbaren Begriffe sind bloß Derivate, die seien euch geschenkt.
Kritische Philosophie eignet sich nicht zum Wiederkäuen. Und wer nur einen Titel will, den wird das Wie- derkäuen nicht verdrießen. Philosophie war Jahrhunderte lang keine Sache der Universität und braucht es auch nicht zu bleiben.
Nachtrag.
Der Richtigkeit halber sei aber angefügt, dass Philosophie als selbständiges wissenschaftliches Fach im heutigen Sinn allerdings an derUniversität, mit der Universität neu-entstanden ist: im hohen Mittelalter, und aus diesem Grund heißt diese ihre Entwicklungsetappebis heute Scholastik. Sie war viel weniger steril, als man es redensartlich glauben macht; der Universalienstreit war ein Wendepunkt der Geistesgeschichte, von eiiner 'Ersten Aufklärung' ist gar die Rede; und dass er andernorts nicht stattgefunden hat, merkt man den außereuropäischen Kulturen bis heute an. Vor allem aber genügte sie sich damals nicht selbst, denn die Universität war kein Elfenbeinturm: Sie stand in unmittelbarer Konkurrenz zur Theologie und war beinahe politisch - und in Gestalt Wilhelm von Ockhams mehr als nur beinahe.
Brechen konnte sie freilich nicht mit dem Dogma. Dazu bedurfte es des Einbruchs der Mathematik in die Philosophie. Galileo war kein Universitätsgelehrter, Descartes, Spinoza, Newton und Leibniz ebensowenig. Zur Universitätsangelegenheit wurde sie erst wieder durch Christian Wolff, der die genialen Essays von Leibniz systematisierte und bis zu Kants Kritiken das darniederliegende deutsche Geistesleben beherrschte. Nach eigenem Verständnis Speerspitze der Aufklärung, erschien sie aber in ihren haarspalterischen Distinktionen und Definitionen schon der folgenden Generation als eine 'Zweite Scholastik', und mit der Kritischen Philosophie brach das Denken wieder aus dem universitären Elfenbeinturm aus.
Aber auch das nur kurz. An kleinlicher Scholastik und zugleich an systematischem Totalitarismus stellte das Hegel'sche System alles Vorangegangene in den Schatten. Als es zusammenbrach, blieb für die Philosophie nur verbrannte Erde. Allerdings war die Universität unterdessen zu ungeahnten Würden gekommen - siehe oben.
Mit andern Worten, das Verhältnis der Philosophie zur Universität war immer ein zyklisches, um nicht zu sagen: ein spasmisches. Universitätsphilosophie ist dem Wesen der Dinge nach schulmäßig - in Form und Gehalt. Neue Vitalität hat sie stets nur erfahren durch Abstandnahme vom Hochschulbetrieb und nicht durch den Versuch, ihn auszubessern.
"Damit sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische
Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens
entstehen kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige
Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische
Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine Beziehung zum Staate –
kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und
gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen
durften." Nietzsche, Un- zeitgemäße Betrachtungen;Kapitel 32/8 JE
HRM Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. _____________ Paul Watzlawik Das
ist ein Scherz. Der klassische Syllogismus ginge so: Wenn du mit einem
Hammer auf einen Nagel schlägst, treibst du ihn ins Holz. Der
pragmatische Syllogismus (nach Aristoteteles) ginge so: Um einen Nagel
ins Holz zu treiben, musst du mit einem Hammer draufhauen. Watzlawiks Satz ist eine transzendentale Umkehrung; "Ironie", wie der Romantiker sagt.
Die moralische Überzeugung, sagt Fichte, entstünde nicht als ein Schluss des Verstandes, sondern als ein Affekt des Herzens. Erinnert sei im Vorbeigehen, dass es sich bei dem fiktiven moralischen Endzustand, der uns die Gewissheit einer göttlichen Weltregierung verbürgen soll, um einen - Schluss des Verstandes
handelt, der das Herz auch von empfindsamen Naturen ganz unaffiziert
lässt; was nicht weniger bedeutet, als dass er auf dieser Abstraktion
eine Moral oder gar einen Glauben nicht bauen kann. Nun zum positiven Gehalt. Dass es
um das Herz geht, muss man nicht wörtlich nehmen, auch wenn der Autor es
so gemeint haben sollte. Entscheidend ist, dass es kein Schluss ist, bei dem der Verstand aus dem Verknüpfen von Begriffen Argumente konstruiert und abwägend sein Urteil fällt. Der Beifall, der hier geschieht, geschieht mit der Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung selber, vor allem Abwägen, vor aller Reflexion. Das ist, ein anderes Wort kommt nicht in Frage, ein ästhetisches Urteilen. Fichte hat die ästhetische Spur nicht weiter verfolgt, das System der Sittenlehre ist 1798 erschienen, kurz bevor der Atheismusstreit ausbrach,der ihn auf einen dogmatischen Abweg führen sollte. Sein Schüler Herbart sollte diesen Gedanken systematisieren; leider erst, als auch er die Wege der Tranzendentalphilosophie verlassen hatte. Notabene:
Dass der Beifall 'des Herzens' bei dem einen dieser, bei dem andern
jener Vorstellung gilt und sie sich nie anders als durch Zufall auf
etwas einigen können, spielt für die Moralität gar keine Rolle. Denn
verstän- digen müssen sie sich nur darüber, was rechtens ist; was im moralische Sinn gut ist, mag jeder für sich entschei- den. Es kommt nur darauf an, dass er sich an das gebunden fühlt, dem er 'von Herzen' Beifall zollt. Er wird dann ein besserer Mensch sein, und über das, was rechtlich ist, wird man mit ihm dann auch sachlicher reden können.
Ich erkläre etwas (A),
wenn ich es an etwas andres (B) anknüpfe und so fort; ich fasse nicht
alles auf einmal auf, weil ich endlich bin. Es ist dasselbe, was man
diskursives Denken nennt. Die Endlichkeit vernünftiger Wesen besteht
darin, dass sie erklären müssen. ____________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 75
Nota. – Dieser Satz steht im Ms. unmittelbar vor dem gestrigen Eintrag,
er führt auf den Gedanken, dass die Vorstellung vom reinen Ich nicht
praktisch, aber theoretisch notwendig ist, weil anders die Dinge und die
Welt nicht zu erklären sind. Sobald das praktische Ich dagegen handelt, findet
es Welt und Dinge vor und muss sie sich nicht erst erklären. – Das
theoretische Ich steht zum praktischen Ich in demselben Verhältnis wie
die ideale zur realen Tätigkeit: Sie sind jedesmal Gegenstand der Reflexion und sind nur für die Reflexion. JE
...wer nicht von allem Objekte abstrahieren kann, der ist zum gründlichen Philosophen unfähig. ______________________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, 2. Einleitung; S. 18
Nota.Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Der Kantische Satz: Unsere Begriffe
beziehen sich nur auf Objekte der Erfahrung, erhält in der
Wissenschafts-Lehre die höhere Bestimmung: Die Erfahrung bezieht sich
auf Handeln, die Begriffe entstehen durch das Han- deln und sind nur um
des Handelns willen da, nur das Handeln ist absolut. Kant wird nicht sagen, die
Erfahrung sei absolut, er dringt auf den Primat der praktischen
Vernunft, nur hat er das Praktische nicht entscheidend zur Quelle des
Theoretischen gemacht. __________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo,Hamburg 1982, S. 61
Eine Pflicht, sich zwingen zu lassen, ist etwas Widersprechendes. Wer da lässt, der wird nicht gezwungen, und wer gezwungen wird, der lässt nicht. _____________________________________________ J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts..., SW III, S. 147
Nota.Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Der
Grund der Unmöglichkeit, das Selbstbewusstsein zu erklären, ohne es
immer als schon vorhanden vor- auszusetzen, lag darin, dass, um seine
Wirksamkeit setzen zu können, das Subjekt des Selbstbewusstseins immer
schon vorher ein bjekt, bloß als
solches, gesetzt haben musste: und wir sonach immer aus dem Momente, in
welchem wir den Faden anknüpfen wollten, zu einem vorigen getrieben
wurden, wo er schon angeknüpft sein musste. Dieser Grund muss gehoben werden. Er ist aber nur so zu heben, dass angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjektes sei mit dem Objekte in
einem Moment synthetisch vereinigt: Die Wirksamkeit des Subjekts sei
selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sei kein
anderes, als diese Wirksamkeit des Subjekts, und so seien beide
dasselbe. Nur
von einer solchen Synthesis würden wir nicht weiter zu einer
vorhergehenden getrieben; sie allein enthielte alles, was das
Selbstbewusstsein bedingt, in sich, und gäbe einen Punkt, an welchen der
Faden des Selbstbe- wusstseins sich anknüpfen ließe. Nur unter dieser
Bedingung ist das Selbstbewusstsein möglich. ... Es
ist die Frage nur, was denn die aufgestellte Synthesis bedeuten möge,
was sich darunter verstehen lasse, und wie das in ihr Geforderte möglich
sein werde. Wir haben sonach von jetzt an das Gefundene nur noch zu
ana- lysieren. Es
scheint, dass die vorgenommene Synthesis statt der Unbegreiflichkeit,
die sie heben wollte, uns einen voll- kommenen Widerspruch zumutet. ______________________________________________ J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts...,SW III, S. 31f.
Nota. -
Aber freilich ist nicht der Akt der Selbstbewusstwerdung selber eine Synthesis von zwei vorher Getrenn- ten. Er ist ein Akt. Doch als solcher kommt er im Bewusstsein nicht vor. Im Bewusstsein kommt sein Ergebnis vor: die Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich. In der Vorstellung müssen wir sie nachträglich 'synthetisieren': und so kommt uns das Zweite als das Erste vor. Von nichts anderm als von Vorstellungen aber handelt die Transzendentalphilosophie. Die Vorstellung stellt sich sich selber vor. Da steht alles auf dem Kopf. JE
Eins ist in unserer Geschichte
nicht vorgekommen: dass Menschen isoliert lebten und sich erst
zusammentun mussten, um sich zu vergesellschaften. Die Menschen lebten
schon in großfamilialen Verbänden, bevor sie überhaupt Menschen wurden.
Ein geschichtliches Ereignis war es vielmehr, dass gesellschaftliche
Bildungen entstanden, in der sich die Individuen individualisieren und
zu Einzelnen vereinzeln konnten. Und in der wirklichen Geistesgeschichte
musste ein bestimmtes Ich aus einem unbestimmten 'wir' sich erst heraus bilden, um sich als einem Nicht-Ich entgegengesetzt setzen zu können. Manche Binsenwahrheit muss erst ausgesprochen werden, bevor sie einleuchtet: Die Wissenschaftslehre ist
nicht die wirkliche Entstehungsgeschichte des Bewusstseins. Sie hebt an
auf dem Punkt der bürgerlichen Gesellschaft, wo sich die Individuen als
Subjekte ihres Lebens vorkommen und zu anderen Subjekten in Konkurrenz treten. Versippte Haufen, die aufeinander einschlagen, brauchen keine Vernunft, nicht nach außen und nicht nach innen. Die wirkliche Geschichte des
Bewusstseins begann nicht mit dem Vereinigen, sondern mit dem Trennen.
Von dieser Trennung geht die Wissenschaftslehre aus.
Apoll und Marsyas Wir alle gehen von der Erfahrung aus, werden aber in uns zurückgetrieben und finden unsre Freiheit; es kommt darauf an, welches Gefühl bei dem Menschen das hervorstechende ist, das lässt er sich nicht nehmen. – Der Streit des
Dogmatismus und Idealismus ist eigentlich kein philosophischer, denn
beide Systeme kommen nie auf einem Feld zusammen, denn jedes, wenn es
konsequent ist, leugnet die Prinzipien des andern. Ein phi- losophischer
Streit kann nur dann entstehen, wenn beide Seiten über die Prinzipien
einig, aber bloß über die Folgen uneinig sind. Er ist ein Widerstreit
der Denkart, der konsequente Dogmatiker ist sein eigenes Gegen- mittel, er
kann diese Denkart in die Länge nicht ertragen. ____________________________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, Zweite Einleitung, S.16
andramedia Das Mysterium der Hegel'schen Dialektik
und damit seines ganzen Systems ist das Umschlagen des Begriffs in
seinen Gegensatz. Wie es vor sich gehen soll, kann man sich nicht
vorstellen, es wird nicht erläutert, es bleibt ein Mysterium, man muss
daran glauben wie an die Dreifaltigkeit. Tatsächlich findet es bereits
im Begriff selber statt: Er trägt seinen Gegensatz schon in sich. So
wird es behauptet. Bei Fichte schlagen keine Begriffe um, sondern eine Vorstellung geht über in eine andere. Nämlich so: Sie soll bestimmt werden, doch das geht nur durch Entgegensetzung.
Es ist ein Subjekt, das bestimmen soll, es muss die Entgegensetzung
selber vornehmen. Muss? Nein. Es geschieht aus Freiheit; es könnte das
Bestimmen auch unterlassen, und seine Vorstellung blieben unbestimmt. Ist
nicht die Freiheit auch ein Mysterium? Ja, ausdrücklich: "Hier ist
etwas Unbegreifliches; und es kann nicht anders sein, weil wir an der
Grenze aller Begreiflichkeit, bei der Lehre von der Freiheit in
Anwendung auf das empirische Subjekt, stehen. ... Denn
ein Akt der Freiheit ist schlechthin, weil er ist, und ist ein absolut
Erstes, das sich an nichts anderes anknüpfen und daraus erklären lässt. ... Begreifen heißt,
ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des
letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht
Freiheit, sondern Mechanismus. Einen Akt der Freiheit begreifen wollen,
ist also absolut widersprechend. Eben wenn sie es begreifen könnten,
wäre es nicht Freiheit."* Es ist das Mysterium, das dem ganzen System zu Grunde liegt. Liegt es? Nein, es wurde gelegt –
von dem Philoso-phen, er hat es als Erklärungsgrund (aus Freiheit!)
gewählt. Er hat es nicht begründet, er kann es rechtfertigen nur durch
die Ausführung des Systems. Er hätte ein anderes wählen können? Nur,
wenn sich damit ein System rechtfertigen ließe. Die Freiheit rechtfertigt das System vom Anfang bis... zum Schluss? Wenn die Freiheit zu einem Schluss käme, wäre sie keine. Wird sie als Freiheit gedacht, ist sie ohne Ende: Die Reflexion ist unendlich, so wurde sie zu An-fang aufgefasst. Soll ein Schluss dennoch für möglich gehalten werden, müsste eine zusätzliche Prämisse einge-führt werden. Aber dann läge sie dem System zu Grunde und nicht die Freiheit, und Fichte hätte nicht sagen dürfen, dass auf diese "mein ganzes Denken aufgebaut ist". *) Fichte, Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW IV, S. 181f.
Die Darstellung kann nicht anders als diskursiv verfahren. Aber in der Vorstellung selbst ist alles auf einen Schlag. Das
gilt wohlbemerkt auch empirisch. Zwar müssen wir meistens suchen, um
etwas in unserem Bewusstseins-vorrat zu finden; aber dann kommt es uns
so vor, als sei es schon die ganze Zeit da gewesen und habe nur dar-auf gewartet, aktiviert zu werden. Tatsächlich sind die Verschaltungen zwischen den Neuronen 'schon da' – sie müssen nur noch befeuert
werden. Wie steht es da aber mit Fichtes dauernder Versicherung, dass
die ideale Tätigkeit 'aus Freiheit' geschehe? Dass ich in meiner
Erinnerung nur finde, was ich finden will, kann ich empirisch nicht
bestätigen. Ist es einmal da, kann ich jederzeit darüber stolpern, da
ist mehr Zufall als Freiheit. Aber ob ich einen Wissensgehalt überhaupt
erst anlege und ablege, das hängt von mir, und das heißt: von meinem
Wollen ab. Mit
dem Darstellen ist es etwas ganz anderes. Ob ich alles wiederfinden
werde, wonach ich suche, mag zum Teil Zufall sein. Aber was ich dann an
was anknüpfe und wie, das ist Sache meiner Freiheit: der Reflexion. Doch
muss ich es in der Zeit vortragen, eines nach dem andern,
und so wird es immer ein bisschen so aussehen, als sei das Zweite vom
Ersten verursacht, während sie doch einander gegenseitig bedingen, und dies ohne Vor- und Nachher. Anders könnte die Wissenschaftslehre nicht vom Bestimmten auf das Bestimmende rückschlie-ßen. * Es ist
ein Missverständnis, dass die transzendentale Betrachtungsweise mit dem
Faktischen gar nichts zu tun habe. Sie ist nicht dessen Abbildung oder
Nacherzählung, das wäre überflüssig. Aber sie ist dessen Sinndeu-tung,
und es wäre sehr merkwürdig,* wenn sie einander gar nicht ähnlich sähen. *) Warum dieses? Weil auch die diskursive Darstellung nicht 'das Seiende' ausspricht, sondern immer nur, was es bedeuten
soll – freilich nicht selbstreflexiv ausspricht, sondern
gegenstandsbezogen, während die Transzen-dentalphilosophie
rekonstruiert, wie die Bedeutungen entstanden sein müssen; aber beide
handeln von Bedeu-tungen, und von den Bedeutungen der Dinge.
18. 12. 15
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