Donnerstag, 5. Oktober 2017

Licht und Luft apriori deduziert.


Ich werde zu einem vernünftigen Wesen, in der Wirklichkeit, nicht dem Vermögen nach, erst gemacht; wäre jene Handlung nicht geschehen, so wäre ich nie wirklich vernünftig geworden. Meine Vernünftigkeit hängt damit ab von der Willkür, dem guten Willen eines Anderen; von dem Zufalle; und alle Vernünftigkeit hängt ab von dem Zufalle.

So kann es nicht sein: denn dann bin ich als Person zuerst doch nicht selbsttätig, sondern nur ein Akzidens eines anderen, welcher wieder ist dein Akzidens eines dritten, und so weiter ins Unendliche.


Dieser Widerspruch lässt sich nicht anders heben, als durch die Voraussetzung, dass der andere schon in jener ursprünglichen Einwirkung genötiget, als vernünftiges Wesen genötiget, d. i. durch Konsequenz verbunden sei, mich als ein vernünftiges Wesen zu behandeln: und zwar, dass er durch mich dazu genötiget sei; also, dass er schon in jener ersten, ursprünglichen Einwirkung, in welcher ich von ihm abhänge, zugleich von mir abhängig sei; dass demnach schon jenes ursprüngliche Verhältnis eine Wechselwirkung sei. (S. 74)

Wir Nachkömmlinge haben Hegel gelesen, und meist lange bevor wir auf Fichte gestoßen sind; da sind wir allerhand gewöhnt, was unter Dialektik vorgeführt wird: Der ist pedantisch, aber nimmt es doch logisch nicht wirklich genau, 'herleiten' tut er eigentlich gar nicht, das besorgt ihm der Begriff schon von ganz allein: Der setzt sich, entfaltet sich, zerlegt sich, setzt sich entgegen und vereinigt sich wieder, indem er sich aufhebt. 

Fichte hat aber vom Begriff eine ganz prosaische Meinung, der tut gar nichts für ihn, er muss alles selber besorgen. Darum wirken seine Deduktionen und Konstruktionen so laboriös. Eigentlich ist der Gedanke ja einfach: Na, sie sind einander als vernünftige Wesen eben schon bekannt, sie erkennen, anerkennen einander, und weiter geht's im Text.


Mit andern Worten, anscheinend war der vernünftige Zustand schon da, den er aus der wechselseitige Setzung erst herleiten wollte; nämlich 'im Begriff'.


Doch um die Begriffe geht es eben nicht, sondern um die Vorstellungen, die zum Zweck der Mitteilung in ihnen schlecht und recht erfasst werden, und um deren Voraussetzungen, die in ihnen unversehens mitgemeint sind. Die gilt es zu Bewusstsein zu bringen, und aus ihnen die Schlüsse zu ziehen, die nötig sind, um ans Ziel zu kommen. Denn ein Ziel hat das Unternehmen ja: erklären, wie das wirkliche Bewusstsein, das wir ja haben und das uns zu vernünftigen Menschen macht, möglich geworden ist.

Ob Begriffe für sich etwas sind, ist eine metaphysische Frage, die den Transzendentalphilosophen nicht beschäftigt. Vorstellungen jedoch haben immer nur wirklich lebende Menschen, und von denen muss geredet werden.


Fichte fährt also fort:

Aber vor jener Einwirkung vorher bin ich gar nicht Ich, ich habe mich nicht gesetzt, denn das Setzen meiner selbst ist ja durch diese Einwirkung bedingt, nur durch sie möglich. Ich soll sonach wirken, ohne zu wirken, wirken ohne Tätigkeit. (ebd.)

Und weiter:

Wirken ohne zu wirken bedeutet ein bloßes Vermögen. Dieses bloße Vermögen ist nichts als ein idealer Begriff: und es wäre ein leerer Gedanke, einem solchen das ausschließende Prädikat der Realität: die Wirksamkeit zuzuschreiben, ohne anzunehmen, dass es reali/siert sei.

Nun ist das gesamte Vermögen der Person in der Sinnenwelt allerdings realisiert in dem Begriff ihres Leibes, der da ist, so gewiss die Person ist, der da fortdauert, so gewiss sie fortdauert, der ein vollendetes Ganzes materieller Teile ist, und demnach eine ursprüngliche Gestalt hat[...]

Mein Leib müsste also wirken, tätig sein, ohne dass ich durch ihn wirkte.

Aber mein Leib ist mein Leib, lediglich inwiefern er durch meinen Willen in Bewegung gesetzt ist, außerdem ist er nur Masse; er ist als mein Leib tätig, lediglich inwiefern ich durch ihn tätig bin. Nun soll ich im gegenwärti- gen Falle noch gar nicht Ich, demnach auch nicht tätig sein, demnach ist auch mein Leib nicht tätig. Er müsste daher durch sein bloßes Dasein im Raume und durch seine Gestalt wirken, und zwar so wirken, dass jedes vernünftige Wesen verbunden wäre, mich für ein der Vernunft fähiges [Wesen] anzuerkennen. (S. 74 f.)

Auch der Transzendentalphilosph meint, wenn er von Tätigkeit redet, keine Telekinese, sondern einen Körper aus Fleisch und Blut. Der Idealismus ist kein Spiritualismus, sondern ein Begreifen der wirklichen Tätigkeiten wirklicher Personen in einer wirklichen Welt. Wirken, Wirklichkeit ist materiell.

Materiell heißt: in Raum und Zeit. Wirkliche Menschen begegnen einander in Raum und Zeit, und sofern sie sich verständigen wollen, müssen sie einander als vernünftig voraussetzen. Denn das ist Vernunft: sich verständigen wollen. (Sie wollen und sie müssen einander nicht über all und nicht jederzeit verstehen; das müssen sie nur, wenn und solange sie miteinander wirken wollen: in Raum und Zeit, und nach gemeinsamen Begriffen.) 

Und hier nun geraten wir an eine famose Stelle, die seinerzeit viel Tinte hat fließen lassen:* Fichte deduziert Licht und Luft apriori:    

Nun setze man, dass wir in gegenseitiger Einwirkung auf einander stünden durch die zu erschütternde subtile Materie (mit einander sprächen)  ... Luft, Licht. ... Mein Leib muss der Person außer mir sichtbar sein, ihr durch das Medium des Lichts erscheinen und erschienen sein, so gewiss sie auf micht wirkt ... dass sonach dem anderen angemutet werden könne: so wie du diese Gestalt erblickest, musstest du / sie notwendig für die Repräsentation eines vernünftigen Wesens in der Sinnenwelt halten, wenn du selbst ein vernünftiges Wesen bist. (S. 75f.)                                                                    

Hier also haben wir Fichte nackt als das, was er im Grunde ist: ein Materialist und Realist, der begreiflich machen will nicht, 'wie der Geist in die Materie hinein kommt', sondern dass er die gewollte Tätigkeit ("nach Begriffen") von Menschen aus Fleisch und Blut selbst ist - im Unterschied zu den unwillkürlichen Tätigkeiten der bloßen Natur.

*) s. Annalen des philosophischen Tons, SW II, S. 472ff.
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alle Zitate aus J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts..., SW III









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