Mittwoch, 9. Dezember 2015
Mein Wille hat Kausalität.
Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit sammt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorherge- henden Reihe ist.
Denn diese Entschließung und That liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen und ist nicht eine bloße Fortsetzung derselben; sondern die bestimmenden Naturursachen hören oberhalb derselben in Anse- hung dieses Eräugnisses ganz auf, das zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in Ansehung der Causalität ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen genannt werden muß.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 478 Akademie-Ausgabe: Die Antinomie der reinen Vernunft: Anmerkung zur dritten Antinomie, S. 312
Nota. – Nun wird zu Recht eingewandt: Ab er dass du aus deinen Entschlüssen die 'Naturwirkungen' überhaupt ausschließen kannst, wird ja gerade bestritten! Was du für deinen freien Willen hältst, ist nichts als die Summe von Eindrücken, die von außen auf dein Gemüt wirken. – Geht es um eine Frage der Psychologie? Die hat ihre eigenen Verfahren und ihre eigenen Maßstäbe. Philosophisch ist entscheidend: Die äußeren Eindrücke wirken nicht unmittelbar bestimmend auf die Handlung, sondern verwandeln sich zuerst in Motive. Der Philososoph sagt: Das Motiv muss ich zuerst zu meinem machen, ehe es mein Handeln bestimmen kann; aber das kann ich ja unterlassen! Kommt sogleich der Einwand: Das ist ein schlechter Zirkel! Mit dem Ich begründest du die Frei- heit der Wahl, aber die Freiheit der Wahl brauchst du, um einen Begriff vom Ich überhaupt erst zu begründen.
So steht es immer ex aequo, hängt, welche Philosophie man wähle, wirklich davon ab, was man für ein Mensch ist?
Was haben wir für ein Glück, dass an dieser Stelle ganz wider ihre Gewohnheit die experimentelle Seelenkunde der Philosophie unter die Arme greift: Im Gehirn entsteht zwischen dem Moment, in dem sich das sog. Bereit- schaftspotenzial gebildet hat – das womöglich restlos durch äußere Eindrücke geprägt war –, und dem Moment, in dem die Entscheidung wirklich fällt, eine Pause von rund einer Fünftelsekunde: Es ist die Zeit, in der das Ge- hirn zögert und verschiedenen Möglichkeiten erwägt. Solange könntet es zu den Anmutungen des 'Bereit- schaftspotenzials' nein sagen – und nochmal von vorn anfangen. Und wenn es nichts anderes gäbe – diese Fünftelsekunde ist der empirische Beweis, dass es eine Freiheit der Willensentscheidung gibt. Ein ganz andere Frage ist, ob ein jeder davon Gebrauch machen will.
JE
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